Choreografie oder Apokalypse? Ein Kamingespräch (2001)

Choreographie oder Apokalypse
Thesen zum Kamingespräch in der EJBW Weimar am 20.11.2001

Wie übersetzen Medien das Außergewöhnliche in den Alltag, fragt Wolfgang Kissel in einer mail und er richtet seine Frage besonders an die beiden Bereiche, die für das Außergewöhnliche zuständig wären – die Ästhetik und die Religion.

Für die Ästhetik muss ich ihre Zuordnung zum Außergewöhnlichen natürlich ablehnen, sie ist Alltag und Kunst, will in den Alltag ohne jemals alltäglich zu werden. Ich kann aber thesenhaft ein paar Aspekte des Geschehens vom 11. September, die sich in der Nähe ästhetischer Fragen befinden, vortragen.

1. Die Ereignisse vom 11.September waren kein Anschlag auf die zivilisierte Welt, sondern die Zerstörung von zwei Hochhäusern und einem fünfeckigen Gebäude sowie etwa 6 Tausend Menschenleben. Die Interpretation dieser Tatsache wäre Angelegenheit eines öffentlichen Diskurses, der durch die Parolen Bush’s und Schröder’s sowie der gleichgeschalteten Medien platt gemacht worden ist. „Wenn die Fahne entrollt wird, fliegt das Denken in die Trompete“, so heißt es. Die Aufklärung ist zu einem militärischen Begriff geworden.

2. Ein Anschlag auf die „Zivilisation“ im Sinne von geistiger Aufklärung und Humanismus hätte anderen Objekten, etwa dem Deutschen Nationaltheater in Weimar gegolten. Die Keule des „Anschlages auf die zivilisierte Welt“ diente ausschließlich dem Solidarisierungshunger der einsamen Politiker.

3. Der Anschlag konnte einen ästhetischen Reiz auslösen wie Kampfbomber eine schauerliche ästhetische Faszination haben können, ihn aber in die Nähe einer künstlerischen Performance zu bringen, beleuchtet das miese Niveau der ästhetischen Debatte in dieser Zivilisation.

4. Sowohl die betroffenen Bauwerke als auch der Akt ihrer Zerstörung waren starke Symbole. Symbole existieren nur im Kopf des Menschen und in den Strukturen seiner Kultur oder Bewusstseinsindustrie. Die Tabuisierung von anderen zur Verfügung stehenden symbolischen Aufladungen des Zerstörten wie Hort der Macht, der Arroganz, der Ausbeutung, des Kulturdiktats, der fiskalischen Globalisierung, der Kriegsplanung usw. kennzeichnen die klare Niederlage der Linken in dieser nicht geführten Debatte.

5. Am 11. September stürzten drei zu Bomben umfunktionierte und mit Elektronik vollgestopfte Jumbo-Jets auf drei total computerisierte riesige Bürogebäude. Es prallen also zwei hochtechnologische Systeme auf einander und der für die Medien inszenierte crash wurde vielleicht gesteuert von einem missionierenden Millionär, der sich in einem der ärmsten Länder der Welt versteckt hält,. Wenn das mal kein dramatischen Zeichen für die kolossalen Widersprüche dieser Welt ist.

6. Terror ist im Unterschied zu Kampf und Krieg, die auf territoriale und materielle Erfolge zielen, ein Akt der Einschüchterung bzw. ein Signal oder Final, zielt also nur indirekt auf die Erringung von wirklicher Macht. Die Dimension der Zerstörung am 11. September überschritt allerdings das Maß der üblichen Gewalt terroristischer Akte, es war Terror und Kampf zugleich, es war Inszenierung und Apokalypse, es war ein Hinweis auf Katastrophen und die Katastrophe selbst. Oder war die Schrecklichkeit des Anschlages nur ein Ausdruck der globalen Dimension alles dessen, was wir heute tun?

7. Der Begriff „Krieg“ wurde von Anfang an in einer gefährlichen Ambivalenz gebraucht. „Krieg gegen den Terror“ müsste man lesen wie Krieg gegen den Hunger oder gegen Aids. Doch hinter diesem metaphorischem Begriff, der eine umfassende gesellschaftliche Anstrengung mit zivilen Mitteln beinhaltet, versteckten die Politiker das Militär. Umgekehrt „kämpfen“ nun auch Banker und Computerspezialisten gegen den Terrorismus, indem sie einfach ihren Job tun.

8. Die Entscheidungen Bush’s für den Krieg wurde nicht argumentativ sondern ästhetisch und verbal vorgetragen. Dafür sorgte nicht nur die Lederkleidung, die er in den Tagen nach dem Schicksalsdatum anlegte, sondern auch die Konnotationen seiner Sprache, die sich mit „Ausräuchern“ und „zur Strecke bringen“ auf die Tierjagd und mit „Rache“ und „Vergeltung“ auf vorzivilisatorische Verfahren der Konfliktbewältigung bezogen. Meiner festen Überzeugung nach ist nicht nur diese Wortwahl präzivilisatorisch, sondern Krieg ist überhaupt anachronistisch und widerspricht wegen der Ausklammerung der individuellen Schuldfrage (die Schuldigen werden nicht bestraft, die Unschuldigen nicht geschützt) und dem Töten auf Verdacht (auch bei Präzisionswaffen werden nur Gebäude identifiziert, nicht aber die darin befindlichen Personen) mit den Menschenrechten nicht vereinbar.

9. Bush’s Entscheidung, demonstrativ auch die atavistischen Mittel der Militärs einzusetzen wurde von der Öffentlichkeit fast kritiklos akzeptiert. Noch nie seit 1945 war eine so „frivole Geilheit zum Krieg“ (SZ) zu spüren – trotz oder wegen des Informationsembargos der USA. In dicken Lettern wurde der Gegenschlag herbei gesehnt und geschrieben. Ein Paradigmenwechsel hin zu pazifistischen Verfahren wurde und wird als Verrat an der gemeinsamen Sache geahndet – fast so wie in den damals gleichgeschalteten Medien des Ostblockes Aufrufe nach Demokratisierung tabuisiert waren (auch damals „kämpften“ die Werktätigen immerzu um Produktionserfolge). Die Instrumentalisierung der Medien durch die Macht nach dem 11. September war ein für mich nicht vorhersehbares Versagen der kritischen Vernunft. Anstatt zu kollaborieren, hätten sich die Medien der Stimmung gegenüber antizyklisch verhalten sollen.

10. Die Gegensätzlichkeit der Charaktäre Bush und Bin Laden – nämlich Tatmensch und Melancholiker – hat sich durch den Gang der Ereignisse partiell umgekehrt. Bush versuchte, sich besonnen zu geben (doch die vierwöchige Pause bis zum Gegenschlag war militärtechnisch bedingt) und sein missionarischer Zauberlehrling Bin Laden verlor nach dem Beginn der Bombardements zusehend das Image eines Weisen und agierte aktivistisch.

11. Die (US-amerikanische) Mentalität, gesellschaftliche Konflikte in die Form persönlichen Streits zu transformieren (Freund/Feind-Denken, Begriff „Schurkenstaat“) versimpelt nicht nur die Politik und lenkt von deren Interessenhaltigkeit ab, sondern sie ist auch mediengerecht und deshalb offensichtlich dauerhaft.

12. Die in Demokratien gewollte Abhängigkeit der Macht von der öffentlichen Meinung macht die Meinungsbildner (z.B. Bush) zugleich zu Opfern der in Kreisläufen sich vereinfachenden Stimmung. Um den Preis seiner Wiederwahl muss sich der Präsident in die Gefangenschaft des Volkszornes begeben. Sind also die getöteten Zivilisten in Afghanistan auch Opfer des politischen Systems der USA?

13. Medien leben von den Sensationen, vor allem in Zusammenhang mit individuellen Schicksalen. Der Massenmord vom 11. September war eigentlich als Medienereignis zu groß. Deshalb musste das Außergewöhnliche auch in die Formel eines außergewöhnlichen neuen Kriegstyps übersetzt werden. Es ist klar, dass die fortwährenden Hungerkatastrophen in Afrika und anderswo (täglich 1400 Tote) da nicht mithalten können. Das verschwindet alles in Statistik. Die Medien haben eine eigene Werthierarchie für Tote.

14. Fotos haben keinen Abbildcharakter, das wissen wir. Die Sieger bestimmen die Bilder und die Sauberkeit der Mattscheibe. Die Inszenierung glücklicher Kinder mit Luftballons nach dem Eintreffen westlicher Journalisten in Kabul aber wird zu den nächsten apokalyptischen Ereignissen hinführen, weil sie die Weltöffentlichkeit und besonders die Amerikaner mit dem Bild betrügt, diese Welt sei außer ein paar durchgeknallten Terroristen, denen man mit B52 Bombern und gesperrten Bankkonten beikommen kann, in Ordnung.

20.11.2001

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