Menschen und Tiere aus Weimar. Zur Goethe-Gartenhaus-Kopie (1999)

Menschen und Tiere aus Weimar – eine groteske Geschichte

1. Als ich aufblickte, sah ich zwei dicke Wolken heransegeln. Die eine blieb über Goethes Gartenhaus hängen, die andere über der Kopie. Da liegt Verdunkelungsgefahr vor, dachte ich, aber die Kopie war hellwach und sprach: – Ich bleibe hier. Ich muß hier bleiben, denn das Original wird erst zum Original durch die Kopie. Durch mich gibt es zum ersten Male in Weimars Geschichte ein wirklich originales Gartenhaus. – Da blickte das Alte finster und die eine Wolke fing an, sich (vor Lachen) auszuschütten:- Was streitet ihr euch! Ich sehe zwei Häuser, eines davon wird bald kniehoch im Wasser stehen. Ich hörte zu und spannte schon mal den Regenschirm auf.

2. Neben mir sitzen zwei junge Gänse. Gag, gag, gag sagt die eine und auch die andere weiß die Imagination zu schätzen. Was ist denn echt? Real sei nur das Unberührte, das Innerste, der Kern. Die Natur sei aber vielfach schon verbogen und Künstliches sei auf dem Vormarsch allerorts. Und schwesterlich warnt eine von beiden: Sei immer mißtrauisch, du liebe, gegenüber der sich objektiv gebenden Wahrnehmung! Ein Bild vom Meer ist nicht feucht, ein altes Haus nicht alt, ein Jahrtausendwechsel nichts wert.

Die Kellnerin hat kein Wechselgeld. Stimmt’s? Ist das Reale nicht eine hinter tausenden Phantasien verborgene Simulation? fragt sie schnippisch. Auch die andere Gans entpuppt sich als närrischer Vogel: Nur die Bank (oder die Sparkasse) interessiere sich noch für das Falsche. Der Kassierer prüft, wir nicht. Wir nähmen die Werbung für Bahres und die Bilder für Wahres.
Das ist der Kellnerin zu pragmatisch. Sie will vom Wechselgeld ablenken und kommt auf den Ursprung zurück. – Wir würden in einer Welt der Zeichen von Zeichen von Zeichen leben. Alles, worauf wir unsere Erfahrung zurückführen, sei schon künstlich, das Authentische sei verlustig gegangen. Wir hätten es mit Simulationen 3. und 4. Ordnung zu tun. Und mit französischem Akzent und mit einem Tablett vor der Brust imitiert sie den Philosophen Jean Baudrillard: Das Reale sei in Agonie verfallen. Aber die Übermacht der Zeichen sei selbst real.

3. Unsere Chance liegt im Spiel, meinen ausgerechnet drei skatende Herren am Nebentisch. Das Spiel sei ein Erkenntnismittel, das unsere Phantasie an die Wirklichkeit bindet. Die Reste des Kulturstadtjahres den Hoteliers entreißen und dem genius loci vorwerfen! – Ein Pudel spielt im Hintergrund. Geistreiche Lügen seien schön, behauptet der Dicke. Das freche Spiel mit der Wahrnehmung sei schließlich nicht zu vergleichen mit dem sozialen Schwindel von Disney-Land. Schlimmer seien die verborgenen Intentionen, die sich heimlich hinter jedem ernsten Bild und Wort versteckten. Ja, sagt der Dritte, die Öffentlichkeit sei beherrscht von den herrschenden Interessen. Die Zeitung lüge tausend Mal mehr als das zweite Gartenhaus. Wenn wir die Interessen der Verleger von den Zeitungsmeldungen abziehen, bliebe kaum noch etwas übrig. Das wird nie gedruckt!

4. Der Pudel springt in die Luft. Für ihn ist klar: Das sind zwei völlig verschiedene Häuser. Das eine riecht basisch, nach Kalk, Leder und Knochen und Keller, ein bißchen Fäulnis und Veilchen. Das andere riecht nach Kleister, Farbe, nach Chemisolchemie und Polyäthypäty. Keine Ähnlichkeit. Aber, da ist auch etwas von ihm dabei! Urin verbindet eben. Er ist kein gewöhnlicher Hund, er ist der geniale Kuno gen. Kurvenal, der große Rechner, Redner und Denker, dessen Grabstein im Grundstück Marienstr. 14 zu finden ist. Aber er hat auch Unrecht. Die beiden Häuser haben unterschiedlichen Wert, nur umgekehrt der allgemeinen Erwartung: Die Kopie übertrifft das Original. Das Zweite darf man anfassen, man kann es betasten, beklopfen und benutzen. Mit Grabesstimme korrigiert sich deshalb der Hunde-Genius: Ja, die Finger transzendieren das Sichtbare. Erst durch Berühren wird eine Sache zur Gewißheit. Der Tastsinn ist der Garant des Wirklichen. Irgendwas stimmt daran. Das Original-Gartenhaus ist uns durch Verbote entrückt, es ist schon zur Hälfte virtuell. Die Kopie aber, das Anfaßhaus, ist wirklicher als das Anguckhaus.

5. Das Virtuelle ist ein Roman. In Belvedere feiern digitale Codes ihre barocke Auferstehung. Das dritte Gartenhaus war kein Haus, auch keine Kopie, sondern wahrscheinlich die entmaterialisierte Erfindung eines Pfaus, der dort immer zuguckt. Der hat einen kleinen Kopf, ist aber klug: Elektronische Bilder hätten mit Fotos und Filmen den Realitätsanschein gemein, mit Literatur aber die Leichtigkeit der Erfindung. Goethen seine Romane verlangen unsere bildliche Vorstellung, die virtuellen Bilder aber unseren intellektuellen Realitätssinn. Sie verstärke dort unsere Imagination, wo wir beim Betrachten handeln müssen. Komm, sei interaktiv, sagt die Frau vom Pfau.

6. Dieser Text wäre ohne die Erfindung des zweiten und dritten Gartenhauses nicht entstanden. Der Aufwand für diese beiden hat sich also gelohnt. Nun stürzen wir ins Millennium und für das Jahresende liegt ein Vorschlag vor: Die Kellnerin, die Gänse, die Skatbrüder, der Hund und der Pfau mit seiner Frau werden zu einem schönen Feuerwerk eingeladen. Dann werden an Original und Kopie ausreichende Dynamitladungen angelegt, und ein Zufallsgenerator entscheidet, welche der beiden Datschen in die Luft fliegt. Das wäre gerecht und schön und würde außerdem der Grünen Schlange die Gelegenheit bieten, am Zufallsgenerator etwas zu manipulieren. Ein Preisträger würde seine Hütte zum Baumarkt tragen. Die Wolken aber würden lächeln – übers ganze Gesicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert