Olaf Weber
Die Quadratur des Zentrums
Eine Architektur- und Kulturkritik am Beispiel Weimars
Auch in Weimar ist ein Baustil ausgebrochen, der bei manchem Traditionsbewußten auf Erschrecken trifft. Doch das Handelshaus am Theaterplatz, die neue Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes und das am organisierten Bürgerprotest gescheiterte Buren-Projekt für den Rollplatz sind Zeugnisse eines globalen Phänomens, das immer häufiger als „Zweite Moderne“ bezeichnet wird. Zu sehen sind vor allem rechte Winkel, Quadrate, Reihungen, Wiederholungen, eben das additive Prinzip.
Die Formensprache ist technizistisch und nüchtern, im Einsatz der ästhetischen Mittel minimalistisch und scheinbar rational. Was drückt sich darin aus?
Der Rationalismus, der Kapitalismus, das nächste Jahrhundert? – Zunächst ist darin die Maschine zu entdecken, also der reproduktive, klassische Typ der Industrialisierung. Unsere drei Weimarer Beispiele haben Eigenschaften, die sie zu Prototypen der Serienproduktion, besonders der industriellen Großtechnik machen. Deshalb nützt kein Jammern über langweilige Quadrate, sie müssen historisch hinterfragt werden. Um den Schluß vorwegzunehmen: Ich halte das ästhetische Konzept der „Zweiten Moderne“ nicht für eine weitreichende Vision, sondern für einen der Endpunkte eines Auslaufmodells.
Die Ästhetik des Industriezeitalters kann man in vier große Phasen unterteilen.
Die erste war der Historismus und Eklektizismus des 19. Jahrhunderts. Deren geschmückte Gebäude atmen trotz der historischen Schnörkel den Geist des Mechanismus und unterscheiden sich dadurch prinzipiell von den handwerklich geprägten Originalstilen (z.B. das neogotische Rathaus in Weimar).
Das Bauhaus als der zweiten Phase fügte der mechanistischen Ästhetik ein rationales und ornamentfreies Stileiement hinzu. Die klassische Moderne überlies aber die Gebäude- und Fassadenstruktur nicht dem additiven Prinzip, sondern versuchte weiterhin, durch Akte der Komposition und Proportionierung dem Gebäude ein „menschliches“ (anthropomorphes) Maß zu geben. Die ausgewogene Asymetrie war das Ergebnis dieser Bemühungen.
Die dritte Phase des Fridustrialismus behauptete von sich, die Moderne überwunden zu haben, doch war diese „Postmoderne“ nur ein mit Spiel- und lronieelementen aufgepopte Moderne. Als dieser Spaß langweilte, folgte dem Pendelgesetz der Moden gehorchend eine extreme Ausmagerung des Gestaltungsrepertoires auf die oben beschriebenen Quadrate und Reihungen. Diese „Zweite“ ist also eigentlich die vierte Moderne und in ihrer Konsequenz der ästhetischen Umsetzung des mechanischen Typs der industriellen Großproduktion, vielleicht eine Endstation. Diese Industrie ist gekennzeichnet durch die extreme Gleichheit der Exponate einer Serie und die Autonomie der Serien untereinander. Das führt in der ästhetischen Wirklichkeit zu simultanen Erscheinungen von Gleichförmigkeit und Heterogenität, von Langeweile und Chaos. Es ist typisch für die Weit der Serienprodukte daß sie unter bestimmten Aspekten extrem gleich, angepasst und homogen sind, andererseits aber auch extrem unangepasst, fremd und heterogen.
Diese Ästhetik der Industrie finden wir auch an Objekten, die heute handwerklich gemacht werden – wie etwa an der Pflasterung des Bahnhofsvorplatzes. Dort reihen sich die mit Eiben bepflanzten „Hundegräber“(Volksmund) zu einer Homogenität der seriellen Elemente, die ihren Widerspruch in der baulichen Umgebung finden. Die weit verbreitete Ablehnung der gerasterten Einförmigkeit resultiert offenbar aus dem Erleben zweier unbewältigter Konflikte: Die mathematische Ordnung wird sowohl gegenüber der eigenen Natur als auch gegenüber dem baulichen Kontext als fremd empfunden. Das Schema scheint weder zu uns noch zur historischen Stadt zu passen. Die Serienrasterung hat aber ihre Begründung nicht nur im Wesen der maschinellen Technologie, sondern auch in der Weise, wie und durch wen Architektur und Kunst hervorgebracht und angeeignet werden.
Zwischen Produzenten und Konsumenten sind heute viele Mittler getreten: Verwaltungen, Projektmanager, Banken, Berater … Diese Vermittlungen machen die Beziehungen der Akteure indirekt, minimiert und abstrakt. Vor allem die Abstraktion ist wohl das wesentliche Attribut unserer Epoche. Nicht der Wohnwert, sondern die Rendite bildet heute den wichtigsten Antrieb für Wohneigentum. Es sind also vor allem die wirtschaftlichen Grundlagen des Bauens und mit ihnen der abstrakte Tauschwert der Zahlungsmittel, die mit dem abstrakten Charakter der geometrischen Formen korrespondieren. Insofern symbolisieren die Hundegräber exakt das, was wir als Zeitgeist empfinden. Geschmack hin oder her – die Frage ist, ob sich Weimar dazu bekennt, sich diesem Zeitgeist zu öffnen – egal, ob er genehm ist oder nicht. Die Alternative dazu wäre, sich im Allgemeinen nach den ökonomischen Bedingungen zu richten, in Gestaltungsfragen aber den genius loci zu befragen. Das würde heißen, den Widerspruch an die Oberfläche zu binden, also die abstrakten Strukturen mit historischen Formen zu verzieren, mindestens aber durch Gestaltungshandlungen zu mildern. Für ein harmonisches Stadtbild sind manche Zeitgenossen bereit, alle Konflikte hinter die Kulissen zu schieben. Ist aber die Darstellung von Abstraktion und Kälte ein Mittel, sie zu überwinden? Rechtfertigt irgendeine Wirkungsabsicht die optische Zerstörung eines Stadtraumes? Gibt es nicht andere Verfahren, die jenseits der mechanischen Widerspiegelung oder der harten Provokation darauf orientieren, ein Feld weiterführender Assoziationen zu bestellen und geistig aufgeschlossene Räume zu schaffen? Ich glaube: Ja.
Während Bauen stark an die materielle Wirklichkeit gekettet und dem Zeitgeist positiv verpflichtet ist, kann Kunst diese Wirklichkeit transzendieren. Sie kann Unmögliches antizipieren, Dimensionen für Dialoge öffnen und in der Art der Mimesis diese auch überwinden helfen. Deshalb habe ich den Vorschlag von Daniel Buren unterstützt, den Rollplatz umzugestalten. Anders als beim Handelshaus und beim Bahnhofsvorplatz besitzt meiner Ansicht nach dort die Geometrie eine Potenz, sich selbst zu entwickeln. Man hätte das Experiment nur starten sollen. Doch Kunst und Architektur der Zweiten Moderne sind weniger die Vorboten eines essentiell Neuen, sondern sie gehören zu den (bei aller Hektik) langsam und zäh auslaufenden Erscheinungen des (kapitalistischen) Industriezeitalters, das freilich immer globaler organisiert wird. Die darauf folgende Zivilisation ist hier nicht zu beschreiben, doch wird sie auf einer Produktionstechnik basieren, die eine solche Vielfalt entwickelt, wie sie dem Handwerk und den hochtechnologischen Prozessen gleichermaßen eigen ist. Architektur und Kunst des nachindustriellen (vielleicht auch des emanzipatorischen) Zeitalters werden anders entstehen, anders aussehen und anders aufgenommen werden. Die Architektur des Schemas, der Abstraktion, der Ferne, der Fremdheit… könnte sich zu einer Architektur des Lebendigen, des Konkreten, der Nähe, des Direkten, der Phantasie und der Wärme verwandeln.
Die Kunst könnte wieder Dialoge mit den Konsumenten, mit dem Kontext, mit der Geschichte und mit der ganzen Sinnlichkeit des Menschen suchen. – Utopie? Wenngleich Weimar nicht ganz das mechanische Zeitalter überspringen kann – auch im Stadtbild nicht, so könnte doch eine kühne Wendung hin zum Denken und zu den Experimenten der nachindustriellen Kultur dazu beitragen, daß diese Stadt ihre Identität behält – nämlich sperrig und unbequem gegenüber Neuem zu sein, aber auch aufgeschlossen und inspirierend gegenüber solchen Geistern, die den produktiven Widerspruch lieben. Mit dieser Art von innovativer Identitätssuche wäre auch das Raster zu erledigen.
Abb. 1 Das Handelshaus am Theaterplatz.
Abb. 2 Der Bahnhofsvorplatz.
Abb. 3 Das Rollplatz- Projekt von Daniel Buren