Zukunft des Schemas oder Architektur der Nähe (1998)

Die Rückschau auf den Industrialismus mündet in einer Beschreibung der Dimensionen dessen, was der Autor umkreisend als „Architektur der Nähe“ bezeichnet hat. Eine Rede auf einem Kongress Thüringer Architekten.

Olaf Weber
Zukunft des Schemas oder Architektur der Nähe?
Die Überwindung der modernen Architektur

Bauen war immer eine Investition in die Zukunft. Ist die heutige Architektur zukunftsfähig? Viele kritische Zeitgenossen meinen, sie sei nicht einmal tauglich für die Gegenwart.
Oftmals wird ein solches Urteil bereits durch bloße Anschauung gewonnen: Die moderne Architektur würde weder zur Stadt noch zu ihren Bewohnern passen. Ich will diesem Verfahren des Augenscheins folgen und zunächst den ästhetischen Zustand der Moderne untersuchen, wofür drei Beispiele aus Weimar herangezogen werden sollen. Schließlich soll der Blick auf Grundsätze einer möglichen Architektur der Nachhaltigkeit gelenkt werden.

Drei Beispiele

Das HANDELSHAUS am Theaterplatz (Abb.1) wurde an der Stelle eines älteren Kaufhauses errichtet, dessen Außenmauern zunächst erhalten werden sollten, dann aber abgerissen wurden. Den Fassadenwettbewerb gewann ein Architekturbüro aus Hamburg, das eine ähnliche Fassade bereits für den Pariser Platz in Berlin entworfen hatte. Um die Theaterplatzfassade entwickelte sich eine heftige, meist negativ geladene Diskussion. Die Kritik bezog sich vor allem auf die mangelnde gestalterische Bezugnahme zum Charakter des Theaterplatzes und dem Geist des Dichter-Denkmales.

Der BAHNHOFSVORPLATZ (Abb. 2) wurde von einem Weimarer Planungsbüro gestaltet. In der Ordnung seiner quadratischen Pflasterung ähnelt die horizontale Fläche dieses Platzes der vertikalen Fassade des Handelshauses. Statt der Fenster rastern sich dort die viereckigen Pflanzungen. Die geometrische Passform für die Pflanzen (Eiben) entsetzte das Weimarer Publikum noch mehr als die Rasterung der Kaufhausfassade.

Am Beispiel des ROLLPLATZES (Abb. 3) kulminierte das Unverständnis der Bewohner. Der französische Künstler Daniel Buren hatte vorgeschlagen, den bisher vernachlässigten Rollplatz am Rande des Stadtzentrums völlig neu zu gestalten. Über einem Raster von 225 Zentimeter sollten sich Betonpfeiler erheben, die in der Mitte des Platzes nur 35 Zentimeter hoch, zum Rande aber bis zu einer Höhe von 8 Metern ansteigen sollten. Dieses Projekt ist inzwischen am organisierten Widerstand eines Großteils der Bevölkerung gescheitert.

Allen drei Beispielen sind formale Eigenschaften gemeinsam: Dominanz des rechten Winkels und des Quadrates, Suprematie der Reihung, extreme Reduktion der Gestaltungsmittel, Rücknahme des Individuums, Strenge und Rationalität. Das sind ästhetische Qualitäten, die neben anderen der sogenannten „Zweiten Moderne“ zugeschrieben werden. Um diesen Begriff zu verstehen, will ich ihn in aller Kürze historisch einordnen.

Vier Phasen der Moderne:

  • Eklektizismus (Abb.4)
  • Klassische Moderne (Abb.5)
  • Postmoderne (Abb.6)
  • Zweite Moderne (Abb. 1-3)

„Die Moderne“ (im Gegensatz zu dem Modernen, das den jeweils höchst entwickelten Zustand einer Sache bezeichnet), ist eine kulturhistorische Erscheinung, die wie alles Historische einen Anfang und ein Ende hat. Über die Dauer und den Charakter dieser Periode herrscht allerdings wenig Einigkeit. Die Moderne sei im Folgenden als Kultur des Industriezeitalters verstanden, sie beginnt also in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wird zusammen mit ihr enden, sobald die maschinelle Großproduktion durch eine neue, flexible und kleinteilige Automatenproduktion ersetzt ist – selbstverständlich im Zusammenhang mit einem neuen Charakter der Zivilisation. Unter dem Aspekt der ästhetischen Gestaltung ist demnach im Eklektizismus der Gründerzeit trotz der vielen Verzierungen der mechanische Geist der Industrie ebenso zu spüren wie in den glatten, weißen Fassaden der Neuen Sachlichkeit. Dasselbe gilt für den Stil des sogenannten Postmodernismus, welcher der Maschinenästhetik das Spiel mit der Geschichte, dem Raum und Ort zugesellte. Die Postmodernisten hatten mit dem Slogan der Konservativen „Die Zukunft hat schon begonnen“ die Moderne begraben wollen. Doch nichts hat schon begonnen, außer einer Rückbesinnung auf den sachlichen Stil der Moderne. Der wird heute allerdings exzessiv gepflegt. Wo in den 20er Jahren noch versucht wurde, das Maß des Menschen in eurythmischen Kompositionen technisch zu interpretieren, herrscht heute das additive Prinzip total. Es entspricht dem klassischem Typ der industriellen Serienproduktion. Fünf Merkmale kennzeichnen deren Produkte:

Das Schema. Addition des Gleichen, Begünstigung des Montageprinzips, Intonation menschlicher Impulse nur in der technischen Entwicklungsphase des Produktes, maschinelle Gleichheit der Exemplare einer Serie und gleichzeitige Autonomie der Serien untereinander. Polarisation des Erscheinungsbildes in Heterogenes und Homogenes, Erschreckendes und Langweiliges, Chaos und Eintönigkeit.
Die Abstraktion. Reduktion der Faktoren und Anforderungen des architektonischen Entwurfes. Orts-, zeit- und impulslose Architektur, Eliminierung der Spezifika und des Subjektiven. Tendenz zum „großen Kasten“(Mies van der Rohe). Bauen ist zunehmend von Anlage- und Renditeinteressen geprägt (abstrakter Tauschwert = Geld). Ökonomisierung aller Lebensbereiche.

Die Ferne. Die Beziehungen aller am Bauen beteiligten Personen werden immer mehr mittelbar und hierarchisch, Zwischeninstanzen wie Projektentwickler, Banken, Anlageberater führen zu einer Anonymisierung von Verantwortung. Bauherren sind auch räumlich weit weg vom Geschehen. Entfernungen werden durch die Globalisierung ebenfalls abstrakt, die Mobilität frisst Verdichtung, Zersiedelung der Landschaft als Folge der „fernen Architektur“.

Die Fremdheit. Das Abstrakte und Ferne wird im Vergleich mit den gewachsenen Ortsbildern, aber auch in Bezug auf die eigene Natur als fremd empfunden. Es gibt keine Verwandtschaft zwischen dem Schema und der (natur)eigenen lebendigen Vielfalt. Die Pendelausschläge der Moden machen es zusätzlich schwer, Vertrautheit zu entwickeln.

Die Kälte. Die starke Begrenzung des Repertoires an Gestaltungsmitteln und die Minimalisierung des Ausdrucks führen zu einer Reizreduktion und emotionalen Abstinenz. Die Wahrnehmungskanäle sind durch das Medienprimat des Auges unnatürlich fokussiert. Die sinnlichen Qualitäten werden im Zeitalter der industriellen Ästhetik an die Werbung und die Unterhaltung delegiert, die gegenständliche Umwelt ist dagegen eher spröde.

Die Stringenz der „Zweiten Moderne“ bezüglich der reinen Prinzipien industrieller Ästhetik läßt sie als Endpunkt der industriellen Entwicklung erscheinen. Freilich sollte man Endstationen einer Linie erst dann ausmachen, wenn das qualitative Umsteigen schon erkennbar ist. Die Ansätze zu etwas Neuem sind im flexiblen computergestützen Entwerfen, im ökologischen und partizipatorischen Bauen punktuell spürbar, aber keineswegs dominant und zu einer neuen Baukultur geformt.

Offensichtlich sind die Eigenheiten der Industrie mit dem Wesen der Architektur überhaupt nicht vereinbar. Ein Haus ist kein ortloses, reproduzierfähiges Ding, es entspricht dem Typus, der aus Grundmustern und Mutationen besteht. Ein Gebäude kann derweil aus seriellen Einzelteilen bestehen, doch ist es wesentlich ein Individuum. Es ist trotz wiederholbarer Anforderungen und Faktoren eine Einmaligkeit, ein Unikum. Es ist die „dritte Haut“ (die sozialkulturelle Haut) des Menschen (die zweite ist die Kleidung), es ist eine private und öffentliche Angelegenheit mit hochkomplexer Bedingungsstruktur. Ein Haus ist orts-, funktions-, kontext- und adressatenbezogen. Es ist eine dualistische Inkarnation des genius loci mit dem Zeitgeist. Ein Haus ist prinzipiell ein Identifikationsobjekt („Heimat“) und damit nicht mit industriellen Produkten vergleichbar.
Es ist anzunehmen, daß die Fremdheit, die viele Zeitgenossen gegenüber der modernen Architektur empfinden, nicht nur wegen einer ungewohnten Formensprache herrscht, sondern wegen diesem prinzipiellen Dissens zwischen der Industrie und einer Behausung. Die Behauptung, daß der Übergang zur modernen Architektur ein Stilwechsel wie jeder andere gewesen sei (zum Beispiel wie der zwischen Renaissance und Barock) leugnet den Epochenwechsel von der handwerklichen zur industriellen Produktion mit allen Konsequenzen für die moderne Zivilisation.

Die Strukturen der„Zweiten Moderne“ sind nur scheinbar universell und nachhaltig, ihre Formen sind nur anscheinend objektiv und zeitlos. Sie sind eine Mode der Moderne. Erst die Überwindung des industriellen Bauens in innovativen Technik-Alternativen (die wahrscheinlich eine Kombination aus hochtechnologischen und handwerklichen Trends sein werden) wird eine Rückkehr zur Architektur ermöglichen. Zur Zeit werden aber beispielsweise Computer vor allem zur Beschleunigung der Planung eingesetzt und nur in geringem Maße für eine neue Qualität der Flexibilisierung.
Auch Thüringen wird auf dem Bausektor dann zukunftsfähig werden, wenn es möglichst rasch umschaltet

von einer Architektur

  • des Schemas
  • der Abstraktion
  • der Ferne
  • der Fremdheit
  • des Stumpfsinns
  • und Kälte

zu einer Architektur

  • des Lebendigen
  • des Konkreten
  • der Nähe
  • des Direkten
  • der Phantasie
  • und der Wärme

Die Architektur der Nähe
Der Aspekt der Nähe soll als begriffliche Markierung dessen dienen, was nachfolgend in erster Annäherung als zukunftsfähiges, nachhaltiges Bauen beschrieben wird. Er wird vor den anderen Begriffen dieser Liste nur deshalb bevorzugt, weil er die räumliche Dimension und eine menschliche Beziehungseigenschaft zentriert

  • ist nah: Die bauliche Hülle umschließt kein unbrauchbares Volumen, sie rückt dem Menschen auf seine Funktionsräume. Nähe ist weder Enge noch Fessel. Sie duldet keine nutzlose Leere, doch schließt sie Weite – wo nötig – ein.
  • ist direkt: Nähe meint auch Beziehungsdichte. Die Investoren sind möglichst zugleich die Nutzer, die Architekten vermitteln direkt. Die Hierarchie der Produzenten ist aufgelöst, Verantwortung ist nachvollziehbar und nachhaltig. Die Direktheit des Bauens verhilft Sinngehalten zur Form.
  • ist lebendig: Das tote Baumaterial wird eine lebendige Architektur, wenn es nicht mehr eine Schranke gegenüber der vitalen Natur bildet, sondern diese räumlich einbezieht, wenn es nicht nur metaphorisch zum Lebendigen transmittiert, sondern selbst in seinen Strukturen, Materialien und Rhythmen naturähnlich wird. Architektur muß auf die Tages-, Monats- und Jahreszyklen reagieren, muß sich in die Stoff- und Energiekreisläufe einbinden lassen. Natur ist Vielfalt; Architektur braucht eine Vielfalt, die das Ganze durchdringt.
  • ist konkret: Das Bauen ist offen für die geringsten Einflussfaktoren und Konditionen des konkreten Ortes. Im Entwurfsprozess werden diese Faktoren entwickelt und formwirksam gemacht. Das betrifft insbesondere die natürlichen (geologischen, topographischen, floralen…), die sozialkulturellen und technischen (material- und konstruktionstypischen) Besonderheiten des Standortes. Architektur sammelt die Fakten und bündelt sie zu Gestalten.
  • ist geistvoll: Der aus der Faktorenmenge kommenden Vielfalt fügen die Beteiligten ihre Phantasie hinzu. Strukturen und Oberflächen erhalten zusätzliche Inhalte, werden geöffnet für unvorhersehbare Möglichkeiten.
  • ist warm: (im Sinne von Beuys „Wärmestrom“). Architektur, die uns nahe ist, wird nicht nur optisch rezipiert, sondern mit allen Sinnen wahrgenommen, sie wird leiblich erfahren. Voraussetzung dafür ist eine sensible Durchführung der Gestalt, die ihren Sinn an die Bewohner und Passanten transportiert. Nicht Kälte und ästhetische Reduktion, sondern die volle Sinnlichkeit ist gefragt – gleichgültig, ob die Gestaltung einem minimalistischen (asketischen) oder einem opulenten Gestus folgt.

Eine Architektur der Nähe wird also anders hervorgebracht und sie wird auch anders aussehen als die zeitgenössische Architektur der Ferne, der „Zweiten Moderne“. Die wesentliche Veränderung ist heute noch nicht vollzogen und weder technisch noch ästhetisch ausgeformt.
Politisch umsteuern!

Eine Neuorientierung der Baupolitik in Richtung der Herausbildung einer Architektur der Nähe ist dringend geboten und auch im Freistaat Thüringen möglich. Insbesondere können die gesetzlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen in folgende Richtung verändert werden:

  • Keine Gießkannen-Förderpolitik (keine Abschreibungsmöglichkeiten und andere steuerliche Erleichterungen für „anonyme“ Geldanleger).
  • Förderung von genossenschaftlichen und anderen partizipatorischen Baumodellen.
  • Förderung des verdichteten Wohnens.
  • Städtebauförderung in Richtung Stadt (Region) der kurzen Wege.
  • Förderung der regionalen Kreislaufwirtschaft im Bausektor.
  • Förderung des ökologischen Bauens.
  • Förderung von Umbau (vor Neubau).
  • Behinderung des weiteren Flächenverbrauchs.
  • Aufhebung oder Nivellierung solcher Vorschriften, die nachhaltige Entwicklung behindern (z.B. die Stellplatzverordnung).

Eine neue Baupolitik setzt – wie andere Veränderungen auch – eine Aufklärungsoffensive zugunsten einer anderen, zukunftsfähigen Baugesinnung voraus. Bauen darf nicht in erster Linie aus der Sicht der Geldanlage und der Rendite, auch nicht aus der Perspektive der Sicherung von Arbeitsplätzen gedacht werden. Bauen muß vielmehr auf das Wesen der Architektur insistieren und auf diese Weise wirtschaftlich erfolgreich werden: Architektur als Form und Ausdruck von nachhaltiger Lebensweise und Kultur.

Abbildungen
Abb. 1 Handelshaus Weimar, Theaterplatz
Abb. 2 Bahnhofsvorplatz in Weimar
Abb. 3 Daniel Buren’s Entwurf für den Rollplatz in Weimar
Abb. 4 Eklektizismus in Prag
Abb. 5 Weißenhofsiedlung in Stuttgart
Abb. 6 Postmoderne bei Paris

Zukunft des Schemas oder Architektur der Nähe. Die Überwindung der modernen Architektur.
Vortrag auf dem Thüringer Architektenkongress. Unveröffentlichtes Manuskript, 1998.

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