Die 08-15te Moderne. Nieder mit dem Beschleunigungsgesetz! (1996)

Die Moderne muss neu definiert werden. Sie ist das Gestaltungsprinzip des Industrialismus. Sie erzeugt eine Architektur der Ferne, der Illusion und der Abstraktheit, schließt also Postmoderne, Dekonstruktion, zweite und 08-15te Moderne ein. Die Architektur der Nähe ist dagegen konkret und ihre Vielfalt real. Vortrag auf einem Bauhaus-Kolloquium.

Olaf Weber
Die 08-15te Moderne. Nieder mit dem Beschleunigungsgesetz!
DIE ARCHITEKTUR DER NÄHE – EINE FERNE UTOPIE

Ein appellativer Satz, ein Ausrufezeichen in der Überschrift – das passt so gar nicht in unser vornehmes deskriptives Wissenschaftsverständnis, wonach die in sich ruhenden Beschreibungen immer weitere analytische Schritte bedingen, aber kein wirklichkeitsveränderndes Potential initiieren.

1. Der grobe Keil: Heinrich Klotz und die Zweite Moderne
Schon das Datum war festgelegt: Im Jahre 1972 – so Charles Jencks – wäre kurz nach Drei mit dem Fall mehrerer Hochhausscheiben in St. Louis/ Missouri die moderne Architektur gestorben, und zwar „endgültig und vollständig“.(1) Damals hätte das Zeitalter der Postmoderne begonnen, über das in Deutschland schon viel und kritisch debattiert worden ist.

Die postmoderne Architektur hatte sich mit Epochencharakter inszeniert, sie stellte sich als die große Perspektive nach dem Irrweg des asketischen Rationalismus dar. Nun ist sie selbst gescheitert, und Heinrich Klotz ruft das Zeitalter der „Zweiten Moderne“ aus.(2) Den ursprünglichen euphorischen Anspruch der Postmoderne, eine wirkliche Nach-Moderne zu sein, hatte er nicht nur zu einer „Revision der Moderne“ abgeschwächt, nun wird sie gar zu einem nur zwei Dekaden währenden Baustil degradiert. Diese Rücknahme der Postmoderne auf eine baugeschichtliche Episode deutet nun allerdings auch auf eine Rücknahme wesentlicher Einwände gegen die Moderne hin, letztlich auf ein Versagen der Kritik. Die konsequente Absage an die Postmoderne müsste eigentlich auch eine Abkehr vom Modernismus sein.

Doch offensichtlich sind die Voraussetzungen für diese Überwindung der Moderne nicht da. Die Moderne sei insgesamt das Gestaltungsprinzip des 20. Jahrhunderts, stellt Klotz fest. Mir scheint aber, dass nicht nur ihr Ende, sondern auch ihr Beginn neu festgelegt werden muss. Weder die erste verglaste Ecke am Fagus-Werk (1910) noch der würdelose Abriss von 1972 markierten die entscheidenden historischen Wendepunkte, und mit den falschen Daten wird in der Baugeschichtsschreibung auch inhaltlich der ästhetische Charakter unserer Epoche verfehlt. Die Moderne war und ist das ästhetische Programm des Industrialismus, der mit den Polen von Kapital und Arbeit auch ganz unterschiedliche Bewertungsmuster der Moderne hervorgebracht hat: Wirtschaftlichkeitsfunktionalismus versus emanzipatorischer Rationalismus. Neben dieser sozialen Dimension verblassen die augenfälligsten Unterscheidungsmerkmale von Schnörkeln und glatten Kuben.

Die Annahme, der Stilpluralismus sei ein Ende, der Vorläufer oder ein Antipode der Moderne, ist einer der tragischsten Irrtümer unserer Zeit. Er lässt sich nicht durch grobe Keile aus dem ästhetischen Kontinuum des Industriezeitalters besondern. Die peinliche Ausklammerung des Eklektizismus aus der modernen Bewegung hat eine schlüssige Periodisierung der neueren Baugeschichte unmöglich gemacht. Seine Einbeziehung könnte uns aber dazu verhelfen, sowohl die Gründerzeit als auch die Postmoderne mühelos als das zu identifizieren, was sie waren: Zwei Moden der Moderne.

2. Die Wiener Moderne
Schon 1898 galt Adolf Loos als Ornamenttöter. Die Ornamentlosigkeit hatte er für ein „Zeichen geistiger Kraft“, für „Menschsein“ überhaupt gehalten.(3) Die Nähe, in die er 1908 Ornament und Verbrechen stellte, musste derweil überraschen, denn er wusste, dass die Kulturgeschichte auch eine Geschichte des Ornamentes war, und dass sie auch eine des Verbrechens ist, schliesst beide nicht kurz. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass Ornamente im Umgang der Menschen untereinander eher der Verständigung als der Gewalt dienten.

Was Loos bekämpfte, war die verflachte, geistlose und verschnörkelte Dutzendware „Ornament“, welche die Maschine besinnungslos ausspuckte. Im Ornament bekämpfte er das verspiesste Imperium der Habsburger, und seine Verzichtsästhetik richtete sich gegen die von der Maschine bereits plattgemachte Verzierung, gegenüber welcher Ornamentlosigkeit tatsächlich als „neue Köstlichkeit“ und als „sublimierte Sinnlichkeit“ erscheinen konnte. Doch der von der Maschine erfundene rechte Winkel war bald nicht mehr köstlich, nur noch zweckmäßig oder selbst leere Dekoration. Loos argumentierte auch gar nicht ästhetisch: „Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete Gesundheit, … aber auch vergeudetes Material und … vergeudetes Kapital“.(4) Das Weglassen des platten, seriell produzierten Ornamentes am „Loos-Haus“ war natürlich eine ästhetische Provokation, doch den essentiellen, produktionstechnischen Bruch hatten schon die vielen namenlosen Baumeister der engen Gründerzeitquartiere und auch Otto Wagner vollzogen, als er die plastischen Mauerwerksbauten des Neobarock durch flächige, aber ornamentierte Fassaden ersetzte. Das war der Übergang vom qualifizierten Handwerker zum Vormaurer und Hilfsarbeiter, also zur Industrie. Wagner und Loos hatten eine Bauweise und mithin eine Ästhetik gefunden, die den arbeitsteiligen Prozessen in der Wirtschaft und der gesamten kapitalistischen Gesellschaft entsprach. Das industrielle Ornament störte darin eigentlich nicht, es war nur ästhetisch verbraucht.

Der Eklektizismus ist ein Verfahren, das auf der Montage heterogener, aber serieller Elemente beruht. Solche industriellen Partikel der Gründerzeit wie die Dekorationen aus Kunststein, Gips und Pappmaschee hatten die Produktionsästhetik des Industriezeitalters eingeleitet. Das heisst, dass die Gleichheit und Exaktheit der Elemente sowie die aus der Arbeitsteilung hervorgegangenen Strukturen die Merkmale der Moderne darstellen, nicht aber die Ornamentlosigkeit und der rechte Winkel.

3. Multiplikation und Division
Die Ästhetik des Industriezeitalters ist vollständig von der seriellen Produktion geprägt – wenngleich diese Einflüsse nicht nur den direkten Weg, sondern auch extrem verschlungene Pfade wählen. Lebensweise und Kultur der Industriegesellschaft durchdringen mit ihrem arbeitsteiligen Charakter alle Aspekte des Entwurfes – von der Raumorganisation bis zu Baustoffen und Fenstergrößsen.

Dagegen ist die Industrialisierung der Baustelle selbst nur ein zusätzliches und stärkendes Moment seines industriellen Charakters. Trotz der komplizierten Bedingungsstruktur des architektonischen Entwurfes muss man deshalb die eigentümliche Wirkweise der Maschine als Urquell der modernen Architektur bezeichnen. Die extreme Gleichheit der Exemplare einer Serie und die prinzipielle Unverträglichkeit der Serien untereinander sind die Wahrnehmungen der Maschinenästhetik und des Kapitalismus. Übergroße Vereinheitlichung, Vermassung und Langeweile paaren sich mit unüberschaubarer Vielfalt, Chaos und Extase. Die Serie ist das uniformierende Pendant zum Chaos der Dinge.

Der Erfindungsgeist, der als kreatives Potential und genetische Information einem Produkt zugehört, verteilt sich durch die Multiplikation der Maschine auf alle Exemplare der Serie. Das Produkt wirkt im individuellen Gebrauch kalt und geistlos, weil die Maschine das Ausdruckspotential um die Losgröße dividiert hat. Die scharfen Werkzeuge fügen der prinzipiellen Gleichheit die reale Exaktheit der Maschinenästhetik hinzu.

Daraus erklärt sich auch die harte Unverträglichkeit der Neostile des 19. Jahrhunderts gegenüber ihren Vorbildern aus handwerklicher Tradition. Im „Neo“ dieser Stile verbirgt sich ihr industrielles Wesen, das dafür sorgt, dass Gotik und Neogotik nichts, Neogotik und Neorenaissance aber (fast) alles gemein haben. Der Bruch zur Moderne findet also mit dem Erscheinen des „Neo“, in der Mitte des 19. Jahrhunderts statt.

Die Uniformität der Serienprodukte wird durch das unbedingte Innovationsgebot teilweise wettgemacht. Als Neuerung reicht allerdings oft die bloße Unterscheidbarkeit zur vorherigen Serie. Was den Hauch der Gestaltung trägt, muss unbedingt neu sein, nur Maschinen dürfen wiederholen. Die permanente Revolution findet vor allem ästhetisch statt, der künstlerische Avantgardismus wird zur chronischen Gesundheit der Form. Das Innovationsgebot macht alles modisch: entweder altmodisch oder neumodisch. Und der uniformierende Druck wird wohlfeil: Die Trendsetter sind die Musterknaben der Konsumgesellschaft.

Der Zwang zur Neuheit spreizt alles zu Extremen. Das Grelle gegen das Minimalistische, das Historisierende gegen das Zeitgemässe, das Asketische gegen das Exzessive usw. – überall schaukeln sich binäre oder multidimensionale Pole auf, die nicht relativiert werden. Die Dialektik ist krank. Der ästhetische Blick wird randständig, nur extreme Gesten werden gewahr. Alles wird überschritten, Grenzen werden abgesteckt, um Verdikte zu ignorieren. Das Schockierende bleibt folgenlos, die Provokationen verharren im Auge. Die Pendel schlagen immer höher aus. Die Moderne schreitet in der Amplitudisierung der Gesellschaft voran. Zwar fehlt die Mitte, doch überall breitet sich Mittelmäßigkeit aus.

Die Beschleunigung dieser Prozesse führt zur Interferenz der Wellen. Moden überholen sich ohne einzuholen. Das zeitliche Nacheinander wird zum Neben-, Über- und Durcheinander. Der Pluralismus, dessen herausragendes Merkmal nicht die Vielheit, sondern die Isolation ihrer Partikel ist, hebt auch die Geschichtlichkeit scheinbar auf.

Die Polarisierung der ästhetischen Werte zu den Rändern hin hat unsere Wahrnehmung vergröbert. Die kleinen Differenzierungen haben ihre Bedeutung verloren. Die distinktiven Einheiten, aus denen wir unsere Verständigungssysteme aufbauen, sind auf höhere Hierarchieebenen geklettert. An die Stelle von Nuancen und Variationen sind disparate und heterogene Hyperstrukturen mit grossen sensitiven Energien getreten, deren Bedeutungselemente aber auf semantische Torso verkürzt sind.

Im postmodernen Gebot der augenblicklichen Verfügbarkeit über die Formen aller Zeiten und Regionen drückt sich kosmopolitische Arroganz aus. Der Anspruch auf einen unendlichen, zeitlosen Fundus an Gestaltungsmitteln ist mit den früheren Rück- und Fernblicken, z.B. der Retrospektive auf die römische Antike in der Renaissance, dem Chinakult zur Zeit des Barock oder der Afrobegeisterung der Expressionisten, nicht vergleichbar. In der postmodernen Architektur ist das Spiel zum dominanten Gestaltungsprinzip geworden. Behutsamkeit, Einfühlung oder das Streben nach wirklicher transkultureller Vielfalt sind in den Agglomeraten der postmodernen Bauten selten zu spüren. Auch darin war diese Kultur industrialistisch.

4. Das ästhetische Pendel
Die Amplitudisierung und Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse führten auch dazu, dass das Bauen die ästhetischen Bedürfnisse zwar sehr verschieden, aber immer unvollständig abdeckt. Seit Beginn der Industrialisierung war deshalb die Kritik der einen Architekturströmung an der vorangegangenen stets hoch entwickelt, die Synthesefähigkeit aber gering. So empfanden die Eklektiker der Gründerzeit den „geschlossenen“ Stil des Klassizismus als veraltet und entwicklungshemmend, die Architekten des Jugendstiles verabscheuten zutiefst den sinnentleerten, faden und bereits zur Hälfte der Industrie verfallenen Historismus. Die Funktionalisten und Rationalisten fanden die Gegenposition zum subjektivistischen, handwerklich orientierten Jugendstil in der objektiven Form. Die Postmodernen kritisierten zurecht die kalte und unpersönliche Zweckform des Wirtschaftsfunktionalismus, der den Geist des Ortes, die Geschichtlichkeit und die Emotionalität missachtete – und die Dekonstruktivisten versuchten eine neue antipodische Haltung gegen die der Warenästhetik allzu schnell angepassten Postmodernisten, indem sie auf harte, unversöhnliche Formen setzten.(5) Nun will die „Zweite Moderne“ wieder mal zur technischen Form zurückkehren.

Die Baugeschichte der letzten 150 Jahre war eine Geschichte fortlaufender Pendelbewegungen von einer Halbheit zur anderen. These wurde durch Antithese ersetzt, die Mängel der einen Strömung durch die Mängel der anderen abgelöst. Die Unzulänglichkeiten verkleideten sich zunehmend als Moden, die nicht den Bewegungen der gesellschaftlichen Psyche folgen, sondern den Wachstumsinteressen der Wirtschaft dienen. Seitdem ist die Erfüllung ästhetischer Bedürfnisse auf das atmosphärische Erleben der disparaten Umwelt orientiert.

Nach dem Eklektizismus des 19. Jahrhunderts und der Aufhebung des traditionellen Formenkanons folgte bald die Negierung jeder Norm, auf die sich die „Reste edler Kunst“ noch stützen konnten, die aber zunehmend als atavistisch und moralisierend – im Sinne von beschränkend – empfunden wurden. Die Gestaltung wurde entgrenzt. Alles was gefällt bzw. was die gewünschte Wirkung erzielt, wurde plötzlich erlaubt. In Kunst und Architektur zog das enttabuisierte Erfolgsprinzip ein, das sich in der Wirtschaft längst durchgesetzt hatte. Die Kunst wurde psychologisiert, die Form funktionalisiert, d.h. am prüfbaren Effekt gemessen.

5. Die Zweite ist die 0815.
Die Wiederherstellung der Historizität, des Emotionalen, des Symbolischen, des Mehrdeutigen, des Runden, des Spitzen, des Technischen… findet innerhalb des Rahmens der Moderne statt – sofern sich dieser Begriff für das Gestaltungsprinzip des Industriezeitalters reserviert hat. Die Architektur der Postmoderne, der 0815. Moderne oder der zweiten Moderne sind Spielformen der seriellen Ästhetik, nicht Produktionen einer postindustriellen Gesellschaft. Die Postmoderne Architektur war nicht konkret, wenngleich Venturi u.a. versucht haben, ihr wieder einige Impulse aus der Wirklichkeit zuzuführen. Diese Versuche wurden schnell von eben dieser, von abstrakten Verhältnissen beherrschten Wirklichkeit abgebrochen, so dass nun die historisierenden Formen die gleiche Kälte ausstrahlen wie die „sachlichen“. Nun kommt im Spätstil der Moderne ihr industrielles Wesen, ihre Abstraktion noch einmal zur vollen Ausbildung.

Die „neue Abstraktion“ der Nach-Postmoderne, wird von Klotz vor allem ästhetisch definiert, als raffinierte Kreation der Hochtechnologie.(6) Doch sie ist ebenso ein adäquater Ausdruck der realen Entfremdungsprozesse in der Industriegesellschaft. Immer häufiger ist Bauen eine Sache der Banken, immer öfter wird Architektur vor allem mit Rendite begründet, immer anonymer wird der Bauherr und immer abstrakter ist das Verhältnis der betroffenen Produzenten und Konsumenten (Bauherrenmodelle, Leasing usw.). Zwischen der abstrakten Formensprache unseres Jahrtausend-Endes und dem Indifferenzcharakter des Geldes bzw. dem aufs Ökonomische reduzierten Verhältnis der beim Bauen beteiligten Partner besteht offensichtlich eine Ähnlichkeit. Die Hervorbringensweise ist abstrakt, diese Genese findet sich in der Form wieder.

Die Abstraktion erklärt sich in der Architektur u.a. durch eine exzessive Künstlichkeit der Baustoffe, durch eine die Erfahrung überfordernde Technizität der Erscheinungen, durch eine die Wahrnehmung provozierende, spröde Widersprüchlichkeit, durch das die Banalität unterfordernde Prinzip der Addition und farblich durch das unnahbare Weiss. Mit diesen sublimen und intellektualisierten Codes kann sie nur exemplarisch dem Mitteilungsbedürfnis der Architekten und Bauherren wie auch dem Lesebedürfnis der Konsumenten entgegenkommen, die die bauliche Umwelt auch emotional interpretieren wollen. Die gerade wiederentdeckte, aber sofort verkitschte und kommerzialisierte Sprachlichkeit der Bauformen wird auch nicht mehr in der neoexpressionistischen Form des Dekonstruktivismus anerkannt.

Nach der geschwätzigen Postmoderne und der spitzen Zunge der Dekonstruktivisten ist nun das grosse Schweigen angesagt – eine Stille aber, die ausser Puste ist, denn die neue Abstraktion ist eine Wachstumsmode, keine Ästhetik der Gelassenheit.

6. Beschleunigung.
Wenn es sein muss, lässt sich das allgemeine Beschleunigungsgebot dadurch verschärfen, dass öffentliche Regulative abgebaut werden. In den neuen Bundesländern wurden verschiedene verfahrensreduzierende Vorschriften eingeführt, zum Beispiel das Investitionsbeschleunigungs- und Wohnungsbaulandgesetz, das Planungsvereinfachungsgesetz (beide von 1993) und das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren (Thüringer Bauordnung von 1994). Allen ist gemeinsam, dass Anforderungsstrukturen reduziert werden, z.B. :
– Verzicht auf frühzeitige Bürgerbeteiligung
– Verkürzung der Dauer der Auslegung (auf 2 Wochen)
– Verkürzung der Zeit für Stellungnahmen von Trägern öffentlicher Belange (auf 1 Monat)
– Reduzierung der Genehmigungsprüfung auf „wesentliche Probleme“
– Beschränkung von Rechtsmitteln zur Beschwerde
– Aufhebung des Baustopps bei Nachbarschaftswidersprüchen
– Erleichterung bei der Abkehr von bindenden Zielen in der Raum­ordnungs- und Landesplanung
– Vorabgenehmigungen und Befreiungen
– Reduzierung der naturrechtlichen Eingriffprüfung (nur noch einmal)
– Verzicht auf Raumordnungsprüfung, wenn dadurch „bedeutende Investitionen“ unangemessen verzögert werden.
– Reduzierung der aufschiebenden Wirkung von Einwänden
– mögliche Aussetzung der Umweltverträglichkeitsprüfung
– usw.

Diese Gesetze und Verordnungen vermindern das Bedingungsgefüge des Entwurfes, reduzieren die Einflüsse von aussen und kappen oder mindern wichtige Beziehungen zu den Betroffenen. Sie scheinen nur bürokratische Hemmnisse abzubauen, in Wirklichkeit beschränken sie partizipatorische Möglichkeiten zur sozialen, kulturellen und ökologischen Charakterisierung des Entwurfes. Anzahl und Qualität der aus der Öffentlichkeit hervorgehenden formbestimmenden Faktoren werden verringert. Es ist der Weg der weiteren Abstraktion von historischen und natürlichen Besonderheiten des Standortes zu verbesserten Verwertungsbedingungen für das eingesetzte Kapital. Wenngleich die Anstöße für die Ästhetik der „Zweiten Moderne“ sicherlich nicht aus den neuen Bundesländern kommen, so lässt sich doch feststellen, dass die hier verschärft praktizierte Vereinfachung durch Beschleunigung einen direkten Kanal zu den schwierigen und simplen Gehäusen der zweiten Moderne hat.

Indem aber das Bauwerk selbst abstrakt wird, wird es auch spektakulär, denn der Abbau öffentlicher Regulative heizt den Wechsel und die Amplituden an, es wird zu einem dem Standort entrückten, doch dafür nicht objektiven (zeitlosen), sondern modischen Objekt.

7. Architektur der Nähe – eine ferne Utopie
Doch weitgehend unbemerkt vom Pluralismus des Industriezeitalters, hat sich ein ganz anderes Thema entwickelt, es ist das Problem der Nähe. „Nähe“ meint hier nicht Enge und Anpassungsdruck, sondern Beziehungsdichte und Konkretheit.

Die „ferne“ Architektur ist bezüglich der Anforderungsstruktur reduktionistisch, der Bauherr ist anonym (meist fern), der Architekt sein Diener, die Form asketisch, der Nutzer ein Objekt, die Aneignung inszeniert. Sie ist abstrakt.

Die Alternative zur abstrakten Moderne wäre eine Architektur der Nähe, die ferne Utopie einer konkreten Architektur. Ich kann dieses nachindustrielle, postserielle Bauen am Ende dieses Vortrages nur durch ein paar Stichpunkte charakterisieren. Architektur der Nähe meint eine grosse Beziehungsdichte zwischen den Nutzern, der Öffentlichkeit, dem Architekten, meint einen grossen Einfluss des Standortes, der sozialen und kulturellen, der historischen und natürlichen Faktoren. Konkrete Architektur ist partizipatorisch in dem Sinne, dass die Nutzer ihren eigenen Bedürfnissen trauen, sie artikulieren und einbringen. Sie qualifizieren sich durch den Dialog mit den Architekten, sie werden mündig, indem sie als Mündige einbezogen werden.

Die formbestimmenden Faktoren finden leichten Einlass in den Entwurf. Vielfalt muss nicht angestrengt erfunden werden. Jedes Haus ist ein Individuum, denn es entsteht unter einmaligen Bedingungen.

Der Architekt verbessert und dekoriert nicht, sondern durchtränkt den ganzen Entwurf mit seiner Subjektivität. Seine Erfindungskraft basiert auf den Erfahrungen vieler Generationen.
Konkrete Architektur ist sinnlich. Sie wird nicht einfach rezipiert, sondern leiblich erfahren. Die Nähe verschärft das Verlangen, die Architektur natürlich zu gestalten und sie für den Gestaltungswillen der Betroffenen offen zu halten. Konkretheit erzeugt Lust auf Gestaltung.
Architektur der Nähe entsteht vor allem aus der Nähe der beteiligten Personen, aus dem Zusammenwirken ihrer Interessen und Ambitionen. Doch als Entwurfsprinzip verschmäht sie keine geeigneten Instrumente, sie ist nicht technikfeindlich. Die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung begünstigt zunächst die Ästhetik der Addition und Reihung, auch die Tendenz zum Eklektizismus, weil sich in den digitalen Speichern ganze Arsenale von vorgeformten Elementen aufbewahren lassen, die nach Belieben aufgerufen und zusammengefügt werden können. EDV und neue Medien sind ebenfalls (wie die klassische Maschine) Technologien der Repetition, doch vor allem enthalten sie Entwicklungspotenzen, um diejenige Direktheit und Komplexität, denjenigen Detaillierungsgrad und dasjenige Variationsvermögen in den Entwurf einzubringen, die der konkreten Architektur dienlich sind.

EDV und neue Medien können die architektonischen Mittel auf eine willkommene und zeitgemäße Weise anreichern und verändern. Doch unter den gegenwärtigen Bedingungen bleibt es weiterhin bei einer arbeitsteiligen, industriellen Architektur – bei der Moderne. Dabei werden die elektronischen Medien vor allem dazu beitragen, das der Architektur immanente und im Barock zur Blüte gebrachte, von der klassischen Moderne schamhaft geleugnete Verhältnis von Realem und Fiktivem, von Materialgerechtigkeit und Imitation, von Präsentation und Täuschung usw. auf ein dem Technikstand adäquatem Niveau wieder herzustellen (was der postmodernen Architektur nicht recht gelungen war). Der Begriff der „virtuellen Realität“ meint meist dieses: Die elektronisch gesteuerten oder in ihren Effekten an neue Medien erinnernden Licht- und Materialreize, vor allem das Spiegeln und Durchscheinen realer Hintergründe in der Architektur der Zweiten Moderne.

Doch nur dann, wenn sich diese Erweiterung dem konkreten Entwurfsprinzip einer Architektur der Nähe unterstellen lässt, wird sich nicht nur die Mode wieder einmal ändern, sondern der offensichtlich ersehnte, zumindest erwartete Paradigmenwechsel zu einer anderen Architektur vollziehen. Die Architektur würde auch bei einem neuerlichen Wechsel zu einer bunten, opulenten und möglicherweise elektronisch gleissenden Formensprache abstrakt bleiben, sofern sie sich dem Prinzip der Nähe verweigert.

Doch wie seit 150 Jahren wird uns auch diesmal wieder suggeriert, die neue Mode sei schon die neue Architektur. Die Behauptung, die Zukunft habe schon begonnen, ist ein Slogan des Konservatismus, der darauf aus ist, Veränderungspotentiale lahmzulegen oder im Marginalen zu verbrauchen. Für das Ende der abstrakten Architektur ist jedenfalls noch kein Zeitpunkt zu erkennen.

Wie zu Beginn unseres Jahrhunderts stehen wir heute wiederum an einem Scheideweg. Damals stand der sozial-kulturelle Charakter der Moderne in Frage: Entweder tendiert die serielle Produktion zu einer sozialen Architektur, die zugleich eine neue Formensprache gründet, oder zum Wirtschaftsfunktionalismus. Der Streit ist bekanntlich zugunsten der zweiten Option ausgegangen.
Heute steht die Entwicklung der nach-seriellen Architektur zur Debatte: Dienen die neuen Entwurfs- und Produktionssysteme einer weiteren Konzentration des Bauens, der Anonymität, der Fremdbestimmung, der Ferne, der Inszenierung und Abstraktheit oder können sich Bedingungen durchsetzen, die auf Nähe, auf Partizipation, auf Lokalität, Historizität und Behutsamkeit orientieren, also auf konkrete Architektur? Die Antwort liegt offenbar außerhalb unseres Berufsstandes.

Anmerkungen:
(1) Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Stuttgart 1988. S. 9
(2) Heinrich Klotz: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne. München 1994
(3) Adolf Loos: Ornament und Verbrechen. In: U. Conrads: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Gütersloh 1971. S. 21
(4) ebenda, S. 19
(5) Olaf Weber: Die Funktion der Form. Architektur und Design im Wandel. Hamburg 1994
(6) Heinrich Klotz, wie oben. S. 15

Abbildungen:
1. Der noch handwerkliche Stil: Neobarock an der Linken Wienzeile in Wien
2. Der schon industrielle Stil: Haus von Otto Wagner, Linke Wienzeile in Wien
3. Der Überbergang vom Handwerk zur Industrie, s. Abb. 1 u. 2
4./5. Die neue Abstraktion: Erweiterungsbauten der Bauhaus-Universität Weimar. Architekten: AV1 (Butz, Dujmovic, Schanne, Urig)
6. Die neue Abstraktion: Handelshaus Weimar. Fassade: B. Winking.

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