Glanz und Efeu (1996)

Olaf Weber
GLANZ UND EFEU – WEIMAR 99
9 Anmerkungen

1. Das Jammern der Weltbürger. In Weimar werden abends die Bürgersteige hochgeklappt. Weimar ist spießig und kleinkariert, die Stadt döst in den muffigen Hinterzimmern der Geschichte. Und die Weimarer haben sich in vermeintlicher biologischer Abstammung vom großen Geist, der in ihren Mauern wohnt, unter einer historischen Käseglocke verkrochen, wo sie Thüringer Bratwürste lieben.
Wer im Blätterwald deutscher Feuilletons etwas gelten will, der reiht sich ein in das hämische Grinsen über dieses ostdeutsche Provinznest, das sich anmaßt, Europäische Kulturstadt 99 werden zu wollen. Im geistigen Haushalt vieler Zeitgenossen ist Weimar eine begehrte Reibefläche, an der man sich profilieren kann. Das für den Westen wiederentdeckte Knusperstück europäischer Kulturgeschichte eignet sich offenbar hervorragend als Tribüne für verkrustete Rhetorik aller Art.

Dabei wird der bewährten Methode gefolgt, etwas Renommiertes runterzumachen, um sich dabei selbst ein Treppchen hinaufzuschwingen. Dieses Verfahrens bedienen sich auch die Neuankömmlinge und Neuseßhaften in Weimar, um den bedauernswerten Zustand vor ihrer Mühewaltung zu beschreiben. Dabei könnte man den Vorwurf des Kleingeistes einfach stehen lassen, wenn er nicht nur Vorwand wäre, vom deutschen Spießertum dadurch abzulenken, daß mit dem Fingerzeig auf Weimar behauptet wird, woanders wäre man aufgeschlossener. Doch das Kleinkarierte ist kein lokales, sondern ein sozialökonomisches Verhältnis, das tief sitzt.

2. Die Mitte des Symbols. Auch Männer aus dem Bund und dem Lande zeigen Politur, Kommunalpolitiker der Region mischen sich in die Verteilungskämpfe ein, Kulturmanager wittern den Goldesel. Viele Freunde hat Weimar plötzlich und Freundeskreise werden gegründet.
Durch das große Interesse an Einflußnahme und Partizipation wird Weimar territorial ausgedehnt – auf den Umkreis, die Region, das Land, den Staat. Während sich so die räumlichen Strukturen vergrößern, drohen die geistigen Konturen zu verschwimmen: Weimar ist überall und alles.

Wenn sich dieses Ereignis aber nicht in Beliebigkeiten zerfleddern soll, dann muß die Idee für 1999 aus dem Kern, also aus dem Geist dieser Stadt entwickelt werden und zugleich diesen Geist in Bewegung setzen. Wir brauchen für 99 nichts anderes als eine große intellektuelle künstlerische und kulturelle Anstrengung zur zeitgenössichen Erkundung dessen, was Weimar ist. Es geht nur um Weimar – zum Beispiel. Alles andere ergibt sich aus diesem Stoff.

3. Weimar hat den Faust geschrieben. – Oder war es Goethe? Die Ereignisse verlieren ihre Orte, die Werke suchen ihre Subjekte. Irgendetwas ist aber in Weimar ursächlich verortet, also durch den Ort bedingt. Während nämlich die Geschichte den Nährboden für die Kunst bildet, begründen die hübschen Fassaden und die Parks die Alltagskultur. Goethe, Liszt, Keßler oder Gropius haben das Ambiente genossen und ganz nebenbeit das Örtchen zum Symbolträger gestempelt. Durch die Natur des Gingobaumes, die Mäander des ilmenden Wassers, den sanften Anstieg des Frauenplanes, durch irgendein Lächeln und Laben oder gar wegen der Nähe Weimars zum Vesuv ist diese Stadt zum urbanen Gehäuse für diese unverwechselbare Geistigkeit avanciert. Einmal zum Symbol geworden, wird Weimar weiter Kultur anreichern – der Zuschlag für das Ereignis 99 ist dafür der aktuellste Beweis. Es wäre töricht, dieses Etwas lediglich zur Staffage für seltsame Darbietungen zu degradieren. Weimar ist es nicht vergönnt, nur hübsche Kulisse zu sein.

Diese Stadt ist dazu verdammt zu wirken, sie bedarf des Austau­sches. Weimar braucht die Impulse von außen und die Außenwelt will Signale aus Weimar empfangen. Wenn schon keine großen Welt­entwürfe oder Revolten, so doch eine utopische Farbe oder ein diskursiver Duft – das wäre schon etwas. Es steht außer Frage, daß solch weitreichender Anspruch eine Überforderung der ungenialen Bewohner dieser kleinen Mittelstadt darstellt. Doch Weimar ist kein begrenztes oder grenzenloses Territorium, sondern eine historische Verabredung, die einen Ort hat und jeder, der will, kann an ihr teilhaben.

4. Wozu lohnt sich die Anstrengung des Denkens? Wenn WEIMAR 99 nicht nur ein Erfolg für die Bauarbeiter und die Zimmermädchen sein will, sondern in einem heute freilich verpöhntem Sinne selbstverströmend und weltverbessernd, dann muß dieses Ereignis den Zeitgeist kritisch hinterfragen. Diese Analyse, das behaupte ich hier, wird vor allem den Pseudocharakter der Probleme und die Depravationen der Lösungen unserer modernen Gesellschaft hinterfragen müssen. Sie wird – wenn sie tief geht – mutmaßlich ein antizyklisches Ergebnis haben. „Antizyklisch“ heißt, den geistigen und ästhetischen Moden zu widersprechen, ohne die nachhaltigen Entwicklungen und den Puls der gesellschaftlichen Psyche zu ignorieren. Das heißt, dem „mainstreem“, dem großen Sog einer selbstorganisierenden Langeweile, wenn nicht Katastrophe, zu widerstehen. Das Übliche sollte nicht bedient, es sollte befragt werden. Vor dem Gängigen, Unreflektierten wäre genauso zu warnen wie vor dem Neuigkeitswahn. Denn beides gehört zusammen: Die Wellenbewegungen der Moden, die Pendelausschläge der „Philosophien“, sind nur die aufwendigen Schaustellungen der kulturellen und sozialen Stagnation.

Weimar könnte sich dafür eignen, den kulturellen Raum für eine antizyklische Wende aufzuzeigen. Eine umsichtige Kreativität könnte dem alten Geiste zukunftsfähige Experimente entlocken. Die streitbarsten Köpfe hätten dafür alle Hände voll zu tun.

5. 99 ist Zweitausend. Das Ende des Kulturstadtjahres markiert zugleich der Beginn eines neuen Jahrtausends. Zwischen Goethe und dem Jahre 2000 liegt das Industriezeitalter. Der Alte beobachtete den Beginn, wir sind stumme Zeugen seiner geschäftigen Verwandlung. Dazwischen wollten Van de Velde und Gropius die Ansprüche des Individuums und der ästhetischen Kultur gegen den alles auf seine Verwertbarkeit hin abtastenden homo oeconomicus retten. Nun gerät etwas ins Schlingern, es ist aber nicht die Zeit der utopischen Entwürfe und kühnen Visionen, vielleicht aber die der gründlichen Revision. Angesichts der Gefahren, in die uns der Wachstumsdruck des Kapitalismus (und des real ex. Soz.) geführt hat, ist auf die Krise entschieden, aber behutsam und pragmatisch zu reagieren. Angesichts ungeahnter Risiken unseres heutigen Wirtschaftens und der schon evidenten ökologischen und sozialen Krisensymptome wird ein vorsichtiges, aber konsequentes Umsteuern in Richtung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Entwicklung nicht nur im Kulturstadtjahr das dominante Thema sein. Nachhaltigkeit ist ein Denken und Handeln, welches „den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Ein solches umsichtiges Verhalten ist ganz und gar alternative Kultur. Der schöne „Weimarer“ Begriff „Humanität“ muß immer wieder von seinen Phrasen gesäubert werden. Nachhaltigkeit ist der Humanismus des 21. Jahrhunderts. Kultur dürstet nach Haltigkeit.

6. Megateilchen Weimar ? Die Informationsgesellschaft schaltet alle Teilnehmer kurz. Deren digitale Botschaften stapeln sich zu gigantischen Hypertexten gleich kollektiven Romanen. Die Anna Amalia Bibliothek fliegt durchs Internet. Alles ist abrufbar. Der Genius wird in Kilobyte verwaltet. Bücher rollen als elektronische Impulse auf den Datenautobahnen umher. Ist der Geist Weimars verflogen?
Der Computer, der den lokalen Zugriff auf globale Netze ermöglicht, erlaubt es, wieder im Studierstübchen oder im Gartenhaus zu arbeiten. Großraumbüros sind passè. Goethes Arbeits- und Lebensweise wird heute technisch adaptiert. Die Gemeinschaften, die sich im World Wide Web finden, sind nicht mehr räumlich definiert. Die Computerfreaks aus San Francisco, Borneo und Weimar rücken zusammen, während die Nachbarschaften im Wohngebiet auseinanderfallen. Städte lösen sich als identifikatorische Gebilde auf und werden virtuell, Urbanität wandert in die Netze, sie ist ortsentbunden Dort, so sagt man, geht es endlich sauber zu, während die wirklichen Städte trotz der strategischen Initiativen vom „General“ und „Meister Propper“ schmutzig geblieben sind: Pfützen, Hundekacke, verlorene Eiskugeln. Nur Viren gibt es hier wie dort.

Wo die Vernetzung noch nicht das atavistische Bedürfnis nach wirklicher Realität getilgt hat, dort springen die Manager der Erlebnisgesellschaft ein. In Spaßlandschaften, Erlebnisparks und Megapassagen können sich die gestreßten Bürger paradiesisch fühlen. In den entkriminalisierten Freizeitkulissen, in welche die soziale Wirklichkeit keinen Zutritt hat, läßt man sich gern betäuben. Der kitschige Film ist endlich zum wirklichen Leben geworden.

Schnellbahntrassen entwickeln eine extreme Dynamik, die Verkehrsknoten bilden sich zu neuen Megazentren zwischen den Metropolen heraus, denen gegenüber die Gewerbegebiete an unseren Autobahnen nur provinzielle Ableger sind. Immer größere Super- , Hyper- und Megaaglomerate bilden sich außerhalb der traditionellen Städte, die zunehmend austrocknen und ähnlich anderen Schutzgebieten künstlich am Leben gehalten und subventioniert werden müssen.

Für die alten Zentren hat der Erlebnishunger der inaktiven, aber mobilen Bewohner ebenfalls Folgen. Das in den Freizeitparks erlernte will hier wiedergefunden werden, die Vielfalt wird immer äußerlicher, inszenierte Feste sollen urbane Lebendigkeit ersetzen. Ein Trend zur „Festivalisierung“ der Städte macht sich breit. Alte Gebäude werden vor allem zur Dekoration des Scheins gebraucht, der Denkmalschutz konzentriert sich auf die Hülle, er ist zum „Folienschutz“ heruntergekommen.
Allen diesen Trends ist Weimar ausgesetzt. Die Homogenisierung der Welt durch die Netze, die Flugkorridore und die Imitate enthält auch die Gefahr eines Identitätsverlustes derjenigen Städte, die eine Geschichte haben. An diesem Punkt ist Weimar gefragt. Geschichtlichkeit, Authentizität, Individualität, Kleinheit und Ortsbezogenheit sind visionäre Eigenschaften, für die Weimar Kraft aus seiner Vergangenheit beziehen kann. Weimar ist als Persönlichkeit gefragt, die einen Ort behauptet. Die Imaginationsfähigkeit dieser Stadt wird ungeheure Energien brauchen, um der Gegenwart die Starre, der Vergangenheit die Aura und der Zukunft die Banalität zu nehmen.

7. Weimar ist ein politischer Ort. Das eindrucksvollste Korrektiv zur Verhübschung und zur Dekoration von Geschichte ist das Eintauchen in die harte Realität der sozialen und kulturellen Widersprüche der Gegenwart. Politik ist das Faktum, durch das die poetische Provinz Weimar ihren realgeschichtlichen Hintergrund und ihren künstlerischen Nährboden zurück erhalten kann – wie Weimar in seinen Glanzzeiten immer politisch war. Das wäre auch ein Mittel, um das begradigte Medienbild von Weimar durch sein Profil und seine Lebenslinien zu ersetzen.

Die politische Dimension kann aber weder auf den Symbolgebrauch der Stadt (Weimarer Verfassung, Partei- und Staatsbesuche) noch auf die oft zitierte Janusköpfigkeit (Klassikerstadt und KZ Buchenwald) reduziert werden. Politisch könnte Weimar durch eine radikale Öffnung zu den Problemen unserer Zivilisation werden, die es hier und im fernen Afrika gibt. Im Aufgreifen, Zuspitzen und Austragen sozialkultureller Konflikte, zugleich im Spiegeln des Politischen am Kulturanspruch Weimars wird sich auch Urbanität einstellen – nicht durch Großstadtgelüste, durch territoriale Ausdehnung der Stadtgrenzen oder den Glanz der Leuchtreklame. Politische Kultur zu akquirieren – das wäre der Hebel, um Weimar zur Stadt zu machen.

8. Akkumulation von Kultur. Die Kulturbilanz, die etwas darüber aussagt, ob mehr Kultur geschöpft als verbraucht wird, ist in Weimar trotz eines prosperierenden Kunstfestes und verschiedener soziokultureller Initiativen noch nicht zufriedenstellend. Aufgeblasene Etiketten wie „Classic-Center“, „Schillerhöhe“ oder „Goethe-Galerie“ als Namen für Einkaufszentren oder „Wohnparks“ vernutzen Kultur. Was die Geschichte angereichert hat, wird durch solchen Kommerz verbraucht oder zu einem absurden Bodensatz karrikiert.

Kulturstadt wird Weimar aber nur dann, wenn es gelingt, in alle technischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse Kultur zu implantieren. Das ist heute beispielsweise beim Bauen nur rudimentär möglich und dafür gibt es viele Gründe – das Buhlen der Kommunen um Investoren, nach denen sie sich verzehren, die schwache Position des Architekten als Anwalt der Baukultur, oder die Banalisierung der ästhetischen Effekte mögen hier nur stellvertretend für viele Faktoren genannt sein. Architektur ist aber nichts anderes als die Anreicherung der Baustoffe und Baukonstruktionen mit sozialer Kompetenz und ästhetischer Kultur.

Weimar muß vor allem in seinem Alltag Kultur akkumulieren: Hinter den Fassaden, unter dem Pflaster, in den Parks und auf den Parkplätzen. Der Kulturanspruch besteht mindestens dreifach: in der materiellen Kultur, in der sozialen und politischen Kultur und in den Künsten. Statt Hoch- und Flachkultur für die Elite und Masse, statt postmoderner Doppelkodierung, brauchen wir eine Kulturstaffelung, die alle Ebenen durch ästhetische Qualität miteinander vernetzt.

9. Gerneklein Weimar – Kulturprotz. Die Europäische Kulturstadt Weimar wird auch 1999 keine Metropole geworden sein. Eine kleine Mittelstadt könnte der weit gereiste Gast aber vorfinden, die aus der Perspektive ihrer Kleinheit mit wachem Geist die Welt befragt und befragen läßt. Der regionale Blick auf den ganzen Globus ist das Gegenteil von Provinzialität.

Nicht der Konservatismus der Moden, sondern die Kleinheit offener Strukturen wäre als Programm ein antizyklisches Manifest: Dezentralisation der Veranstaltungsräume und der Organisation, Freiräume für Unangepaßtes, Miniaturisierung der Ereignisse, Aufeinanderprallen der widersprüchlichen Partikel, Fokussierung der Marginalien, Belebung der verkümmerten, isolierten oder mißbrauchten Sinne usw. – also Paradigmenwechsel weg von den Zwängen der technischen Großstrukturen hin zum maßlosen Drängen des Individuums nach Ganzheitlichkeit. Daß dabei das anarchiche Element und der subversive Charakter der Kunst nicht zu kurz kommen darf, ist selbstredend, doch nur dort produktiv, wo die soziale Dimension aus dem unverfänglichem Raum des Scheins heraus und ins Zentrum der Kultur geschoben wird. Natürlich gehört dazu eine gewisse Kunstmarktferne des Ereignisses selbst.
Das Jahr 1999 ist eine Feier zum Ausgang des Jahrhunderts – kein billiges Festival. In solchen Momenten wird Geschichte durch Spiel und Gaudium begriffen, die Philosophen sparen sich ihr Resüme für später oder verkleiden sich als Gaukler. Sinnlichkeit ist angesagt, die Ereignisse werden ertastet, die Zeitgeschichte geht unter die Haut. Die Farben der schönen virtuellen Bilder werden wir mit dem Geruch unserer schönen alten Häuser vergleichen.

Der notorische Optimismus der Wachstumswirtschaft wird uns leider die üblicherweise den Jahrhundertwechsel begleitende schöne Weltuntergangsstimmung vermasseln. Am Ausgang unseres Jahrhunderts (des Jahrtausends) werden wir zu dem großen Austausch der Zahlen den Wechsel der Konzepte vermissen. Doch Weimar kann immerhin mit dem Blick zurück die Vision einer neuen Behutsamkeit und Nachhaltigkeit ins Spiel bringen. Und unsere große Feier kann unser Ausharren belohnen. Alles Lebendige, Offene sollte befördert, alles Organische, sich Entwickelnde unterstützt, alles Kleine, Zerbrechliche, Zarte gehütet, alles Unangepaßte, Scharfzüngige, Geistvolle aber sollte einen Fußtritt erhalten – ins nächste Jahrhundert hinein.
So wäre Weimar zu retten.

Der Text entspricht einem Vortrag, den der Autor auf dem Thüringer Architektentag am 17. April 1996 hielt.
Das Zitat in These 5 entstammt dem sog. Brundtland-Bericht.
Literaturhinweise zur These 6:
Dieter Hassenpflug: Von der Atopie zur Utopie. Über die Kreativität des Erinnerns, Fiktionalisierung und gebaute Gleichgültigkeit. Manuskript. S. 21
Florian Rötzer: Urbanität in den Netzen. In: Frankfurter Rundschau Nr. 252. 29.10.1994
Olaf Weber: Behutsamkeit statt Denkmalschutz. In: Der Architekt. Mai 1996

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