Brief an eine Leserin (1996)

Brief an eine Leserin

Sehr geehrte Frau S.,
vielen Dank für Ihren Brief vom 22. d.M. Ich möchte Sie durch meine Antwort nicht zu einer andauernden Korrespondenz drängen, doch drängt es mich selbst, durch meine Antwort einige Aspekte meines eigenen Denkens zu diesem Thema zu präzisieren. Ich will es auch nicht zu ausführlich machen.

Wenn ich fordere, die Würde des Gebauten solle unantastbar sein, so heißt das keinesfalls, daß das Gebaute nicht veränderbar sei, nicht einmal, daß es nicht vollständig abgerissen werden dürfte. Das heißt nur, daß bei all den Eingriffen des Menschen in die bestehenden Gebäude die Würde der Dinge gewahrt bleiben soll. Man kann ja auch mit Würde sterben, es kann auch mit Würde abgerissen werden. Das muß aber mit dem Zustand sehr sorgfältig begründet und vor allem durch die Qualität des Neubaues gerechtfertigt werden. Die Würde ist meines Erachtens verletzt, wenn wegen des nostalgischen Geschmackes vieler Zeitgenossen nur Teile der Fassaden erhalten werden, während die eigentlich wertvolle Substanz dahinter abgerissen wird. – Wie beim Wieland-Wohnhaus. Wenn Häuser nicht sorgsam umgestaltet , sondern verkrüppelt werden, so geht ihre Würde verloren. Würde geht verloren, wenn das Alte nicht geachtet, sondern vernutzt wird, wenn es beispielsweise beim Umbau nicht seinen Charakter behalten kann, wenn das Neue keinen Respekt hat, wenn es sich vordrängelt.

Ich bin also für notwenige Umgestaltungen, wenn dabei die Würde erhalten bleibt. Einverstanden bin ich mit Ihnen, wenn Sie Auswahl und damit Kriterien für den Erhalt fordern. Ich sage auch, daß die Stadt ein Organismus ist, der sich ständig wandelt. Aber angesichts des massiven Angriffes der Bauwirtschaft und der Investoren auf die alte Substanz der Innerstädte muß die Kultur auf Schutz setzen. In Weimar macht nur etwa 1 Prozent der Baumasse das aus, was wir als Weimar bezeichnen. Das muß geschützt werden.

Es gibt neben dem Alterswert den Memorialwert (historische Ereignisse sind mit dem Gebäude verbunden), den ästhetischen Wert, den Imagewert, den Seltenheitswert usw. also ein ganzes Wertgefüge, vom Gebrauchswert abgesehen. Wichtig ist, daß es ein öffentliches Wertbewußtsein gibt, das sich auch durchsetzen kann. In vielen Fällen entscheidet nämlich der Investor allein (oder mit vielen Tricks an den Verantwortlichen vorbei) über den Abriß. Vieles, was nicht diese Wertfülle hat, bleibt so stehen, während anderes nur deshalb abgerissen wird, weil es den Vermarktungsinteressen im Wege steht…

Also die Kriterien für Erhalt, Abriß oder Eingriff müssen aus einem öffentlichen Dialog hervorgegangen sein. Ebenso muß darüber ein Konsens erreicht werden, welche Stelle dabei der Marktwert des Grundstückes erhält. Ich denke, er sollte nicht so hoch angesetzt werden, denn Bauen ist eine öffentliche Angelegenheit (mindestens in den Stadtzentren) und nicht in erster Linie eine Sache des privaten Investors.

Die Analogie zum Archivwesen will mir nicht gelingen. Ich weiß zu wenig davon. Bitte entschuldigen Sie, daß ich nur von Architektur geschrieben habe.

Mit freundlichen Grüßen auch an Ihren Gatten
Prof. Dr. Olaf Weber
Weimar, den 26.4.96.

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