Wirtschaftsdemokratie? Ein Selbstversuch (1995)

Wirtschaftsdemokratie? Ein Selbstversuch

Ein Kleinaktionär hat davon gehört, daß die großen Konzerne heut ja nicht mehr von dem Kapitalisten geleitet werden, sondern in der Hand vieler Aktionäre sind, die eine Mitbestimmung haben und somit die Demokratie in die Betriebe eingezogen ist. Deshalb fuhr unser Freund eines Tages in eine große Stadt, wo auf der Aktionärsversammlung der großen Firma, von der er ein paar Aktien gekauft hatte, die Demokratie geübt werden sollte.

Zunächst staunte er über die große Beteiligung an dieser Demokratie. Während er doch gesehen hatte, daß zu den Wahlveranstaltungen der politischen Parteien kaum ein paar Dutzend Leute zusammenkamen, war hier schon die U-Bahn auf dem Wege zum Verantaltungsort prall gefüllt und von der Station zum großen Stadion ergoß sich eine wahre Menschentraube, ein Demonstrationszug der neuen Demokratie. Nach 40 min Wartezeit und einer Leibesvisitation wie auf Flugplätzen war er endlich am Ort seiner Sehnsüchte. Man hatte ihm zwar einen Kunstposter „beauty now“(zu groß) und ein walkman (keine Aufnahmen) abgenommen, nun aber war er endlich im inneren der großen Sporthalle, die fast vollständig gefüllt war. Es hatten sich 30 000 Aktionäre angemeldet, damit waren etwa 27% der ausgegebenen Aktien durch ihre Inhaber oder deren Bevollmächtigte vertreten. Viele mußten in eine zweite angemietete Halle. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates war gerade bei seinem Rechenschaftsbericht.

Aufgefallen waren unserem Freund schon die vielen Ordnungskräfte. Es sind sicher viele Hundert gewesen. Alles verlief wie am Schnürchen. Viel Beifall immer dann, wenn der Vorsitzende die Erfolge des Unternehmens herausstrich und eine weitere Erhöhung der Kurswerte in Aussicht stellte. Irgendetwas war, das ihn immer mehr an Veranstaltungen erinnerte, die er in seiner DDR-Vergangenheit erlebt hatte. Vor allem war es wohl die Bravheit des Publikums, die immer an den richtigen Stellen Beifall zollte. Keine Buh-Rufe, keine Störer, keine Alternativen. Nur ein bißchen undiszipliniert waren die Leute, weil sie schon nach 1 Stunde begannen, die Plätze zu verlassen und sich im Foyer auf die belegten Brötchen und die Cola zu stürzen. Nur wenige kamen danach wieder herein, so daß nach 2 Stunden (von 8 Stunden Gesamtdauer) nur noch ein Drittel der Plätze belegt waren. Die Übermüdung, dachte unser Freund, ist wohl ein Mittelchen der Diktatur. Nach dem Rechenschaftsbericht begann das Abarbeiten einer Rednerliste, die bereits zu Beginn 30 Personen umfaßte. Der Veranstaltungsleiter schlug vor, die Redezeit auf 15 min. zu begrenzen, also mindestens 8 Stunden standen noch bevor. Irgendwie brav auch hier die Diskussionsbeiträge, sehr wohlwollend, mit leisen kritischen Momenten, wo der eingeschlagene Weg zur Erhöhung der Dividente noch nicht konsequent genug durchgesetzt schien. Die ersten 10 Redner waren nur Finanzleute, Manager und Analysten. Alles ging sehr kultiviert zu. Wer hatte eigentlich die Reihenfolge der Redner bestimmt? Wer hatte die Versammlungsleitung gewählt? Unserem Freund kamen leise Zweifel auf. Erst nach 15 Rednern gab der Vorsitzende eine zusammenfassende Antwort auf einige der angesprochenen Fragen. Vor allem befaßte er sich mit der Produktivität einzelner Firmenbereiche und Möglichkeiten der Effektivierung. Als ein paar kritische Aspekte in den Redebeiträgen auftauchten, war der Saal schon zu zwei Drittel leer. Die Beantwortung kritischer Fragen wie nach der betrieblichen Mitbestimmung, der AKW- Produktion oder der Verwicklung des Vorstandes in die Parteispendenaffäire der CDU in einen spanischen Bestechungsskandal wurden hinausgezögert und erfolgten, wenn überhaupt, nur sehr allgemein und nichtssagend.

Während des langen Wartens begann unser Freund, in seinen Wahlunterlagen zu blättern. Was dort zu lesen war, ließ ihn nun langsam der Vermutung erliegen, daß es sich hier um ein sehr feines und „kultiviertes“ Modell der Entmündigung der kleinen Aktionäre handelte. Er konnte dort zum Beispiel diese Sätze lesen: „Die Stimmen der Aktionäre, die weder ihre Nichtbeteiligung an der Abstimmung erklärt haben, noch mit Nein stimmen oder sich der Stimme enthalten, werden als Ja-Stimmen bewertet. Stimmkarten können deshalb nur für Nein-Stimmen und Stimmenthaltungen abgegeben werden.“ Damit war der Erfolg des Vorstandes, der sich mit dieser Abstimmung bestätigen wollte, garantiert.
Das war das Verfahren der Modus der Veranstaltung. Aber irgendetwas anderes machte unseren Freund noch unsicher darüber, ob er es hier mit Demokratie zu tun hatte. Wahrscheinlich war es die Unzufriedenheit darüber, daß hier über die Politik einers Weltkonzerns, über Milliarden Geld und Hunderttausende Mitarbeiter abgestimmt wurde, aber diejenigen, die hier anwesend waren. hatten nur ein einziges Interesse: Die Zinzerhöhung, die Rendite, die Kurse. Sie stimmten also über eine das Geschehen in einer Firma ab, zielten aber auf die Börse. Im Höchstfall gilt deren Interessen den betriebswirtschaftlichen Ergebnissen, kaum den Mitarbeitern. Der Druck auf die Konzernspitze zu weiteren Rationalisierungen und Entlassungen war deshalb der dominante Inhalt der meisten Reden. Die Aufrufe der wenigen Vertreter der Belegschaft (Betriebsrat, Gewerkschaft) betrafen ihre nur passibe Rolle im Aufsichtsrat, ihre Schweigepflicht, das doppelte Stimmrecht des Vorsitzenden usw., also die fehlende wirkliche Parität zwischen Belegschaft und Konzernspitze (bzw. Aktionären). Gesellschaftspolitische Visionen, zu denen die hier angehäufte wirtschaftliche Potenz eigentlich verpflichtet wäre, waren natürlich nicht zu vernehmen. Allerdings wurden Töne laut, das „Europäische Konsensmodell“ doch gegenüber dem amerikanischen Neoliberalismus und dem „Turbokapitalismus“ zu verteidigen. Vor den Halle war ein Transparent mit der Aufschrift „Keine Macht den Analysten“ und ein Anti-Atomkraft-Plakat der Grünen zu sehen.

Die Aufforderung von Belegschaftsvertretern, den Vorstand nicht zu entlasten und damit die Firmenpolitik nicht zu bestätigen, mußte aufgrund des undemokratischen Modus der Veranstaltung und vor allem aufgrund der eindeutigen Interessenlage der zur Abstimmung Berechtigten scheitern. Ohne eine an den verschiedenen Interessen strukturierte Zusammensetzung der Veranstaltung ist eine Aktionärsversammlung eben nicht ein Gremium zur Bestimmung der Unternehmenspolitik, sondern ein Interessenklub. Von Wirtschaftsdemokratie oder innerbetrieblicher Mitbestimmung zu sprechen, das wollte unser Freund jedenfalls nicht mehr. Ihm kam dagegen alles ein bißchen vor wie die vielen Versammlungen mit Scheindemokratischem Hintergrund, die er aus DDR-Zeiten kannte.

(unveröffentlicht)

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