Olaf Weber
Gelassenheit ist Kunst
Ein paar Holzlatten, Kopf und Hände aus Kunststoff, unten war die Gestalt mit einem Stoff befummelt. Kein Kunstwerk, aber ein Spaß und ein bißchen Provokation gegen den Ordnungsstaat (Abb. 1). Ich hatte das merkwürdige Gerippe mittags in dem Becken eines Brunnens aufgestellt, der damals an der Ecke Schillerstraße/Frauentorstraße stand. Die Leute amüsierten sich oder schüttelten den Kopf über diesen Studentenstreich. Nach 24 Stunden hatte die Staatsmacht das menschliche Gespenst entfernt. Das war 1969.
Ein Jahr später hatte ich einige der offiziellen Mailosungen des ZK der SED in einem verwahrlosten Hinterhof auf große Transparente gemalt, die nur von einer einzigen Stelle in der Brauhausgasse einzusehen waren. Die Phrasen machten sich in diesem Milieu selbst lächerlich. Die Absurdität der Wahrnehmung bildete hier die subversive Aussage. Doch die belachte Staatsmacht reagierte in diesem Fall nicht, sie gehörte gerade nicht zu den wenigen, die etwas wahrgenommen hatten.
Jahre später hatten wir Gelegenheit, an der “Protokollstrecke” eine Wohnung zu beziehen und es entwickelte sich die Idee, mit einer Serie von Transparenten ein ”Kommunikatives Praktikum” für die Weimarer Öffentlichkeit zu initiieren. Die Serie wollte harmlos beginnen und wieder mal ausloten, wo die Grenzen erlaubter individueller Meinungsäußerung lagen. Wir kamen nur bis zum zweiten Akt. Auf dem ersten Plakat stand ”Fußball ist langweilig” und erregte nur die Fußballfans, die mir böse Briefe in den Kasten warfen (es war die Zeit der WM 78). Mit dem zweiten Plakat wollte ich Goethe zu seinem 229. Geburtstag ehren und hatte deshalb einen 20 Markschein der DDR auf 2-Meter-Format gebracht (Abb. 2). Daraufhin besuchte mich eine Dame – sie war eine Diensthabende oder Stellvertreterin des OB – und forderte mich beim ersten Besuch freundlich, beim zweiten energisch auf, das Transparent zu entfernen, da es Ärger hervorrufe. Ob ich wohl ausdrücken wolle, daß die Mark der DDR nur halb so viel wert sei (ich hatte nur diejenige Hälfte des Geldscheines abgebildet, auf der Goethes Konterfei zu sehen war). Nein? Was sonst? Da merkte ich, daß ich etwas zum Fenster hinausgehängt hatte, das – obwohl nicht subversiv gedacht – merkwürdige und unkontrollierbare Assoziationen hervorrief. Einem solchen Ding hätte eigentlich die Staatsmacht und der Bürgerwille mit Gelassenheit begegnen müssen.
Dann kam das Jahr 1989 mit seinen verschiedenen Wendungen hin zur Entmachtung erst und zum schnellen Anschluss an Macht. Vieles, was zu wenden war, hat sich dabei gerade nicht verändert. Zu diesem Bleibenden gehört ein Mangel an Gelassenheit und Toleranz, vor allem gegenüber dem Uneindeutigen und Experimentellen. Auch aus neuerer Zeit sollen das drei Beispiele aus meinem unmittelbaren Erfahrungsbereich verdeutlichen. Über den ersten ist in dieser Zeitschrift schon berichtet worden (Kulturjournal Nr. 6/ 1992, S. 18).
Es war die Gasherdaktion am Morgen des 30. Mai 1992. Eine Gruppe Studenten hatte über 100 nicht erdgasfähige Herde zu „des Meisters Herde“ dem Dichterpaar zu Füßen aufgereiht. Das war eine Aktion gegen das den Geist Weimars damals noch völlig verfehlende Kunstfest. In der Nacht aufgestellt war das ungenehmigte Objekt schon morgens 8.00 Uhr von der Stadtreinigung abgeräumt. So schnell kann Verwaltung sein, wenn sie etwas nicht versteht.
Zwei andere Fälle ereigneten sich vor der Kommunalwahl 1994. Die Bündnisgrünen hatten einen Aufruf an die Künstler Weimars gerichtet, zu einer Kultivierung des Wahlkampfes durch eigene Gestaltungen beizutragen. Von den vielen Ansätzen kamen nur zwei freie künstlerische Arbeiten bis in die Realisierungsphase und erlitten dann ein Schicksal, das unter ganz anderen Bedingungen dem vorwendlichen Unverständnis von Bürgern und Staat ähnlich war.
Eckhardt Kempin hatte ein 12 qm großes Bild mit dem Titel „So oder SOS“ gemalt, auf dem er eine ökologische Alternative zur etablierten Wegwerfgesellschaft konzipierte (Abb. 3). Obwohl die Aufstellung dieser großen Tafel mit mehreren Ämtern der Stadt abgestimmt war, musste sie auf Druck der damals herrschenden politischen Parteien nach schon 36 Stunden entfernt werden. Die Anrufung eines Schiedsgerichtes konnte nicht erfolgen, weil es die Stadt versäumt hatte, ein solches zu berufen.
Ein ähnlich kurzes Leben hatte eine Metallplastik von Anne-Kathrin Altwein, sie hatte auf dem Plattenpflaster der Schillerstraße einen „Rutengänger“ aufgestellt, der für mich die verlorene Sensibilität gegenüber den Vorgängen in der Natur symbolisierte (Abb. 4). Viele Weimarer und Touristen bestaunten das alte Eisen und wünschelten sich was, doch nachts wurde der Mann mit der Rute umgelegt und – nachdem die Künstlerin ihn wieder hergerichtet hatte – ein zweites Mal. Er hatte trotz Wiederbelebung in dieser rauhen Umgebung nur ein Leben von 48 Stunden.
Meinen Beispielen wären viele andere hinzuzufügen. Die Wende zu einer Kultur der Toleranz hat nicht stattgefunden. Wenn die nicht kommt macht das Europäische Kulturweimar 1999 Pleite. Nicht die Überraschungen und Extravaganzen hinter teuren Eintrittskarten zeugen von kultureller Toleranz – die sind normal und kunstmarktfähig – sondern die in den Alltag vorgedrungene und deshalb wirklich zur Toleranz gewandelte Neugier. Von den Bürgern wäre zu wünschen, von der Verwaltung zu fordern, dass sie dem Spontanen, dem Unbekannten, dem in Paragraphen nicht Enthaltenem, dem nicht eindeutig Definierbaren eine Chance geben. Erstmal neugierig sein, erstmal staunen, erstmal wirken lassen. Das sollten Maximen sein im Umgang mit unbekannten Objekten, die in unserem Stadtbild auftauchen. Dass wir dabei auch kritisch urteilen, Abstand zu diesen und jenen Kreationen finden und auch Ablehnung anmelden, ist selbstverständlich. Doch eine solche an geleisteter Wahrnehmung geschulte Kritik ist eine ganz andere Urteilsqualität als die plumpe Zurückweisung, die dreiste Zerstörung oder amtliche Demontage von unbekannten (Kunst-) Objekten. Über die Grenzen der Toleranz kann man erst sprechen, wenn man sie hat. Weimar sollte sie haben. Goethe hatte sie. Gelassenheit ist eben Kunst.