Liebe Leser/innen des Kulturjournals,
inmitten unserer Stadt steht ein etwas simpel anmutendes, wehrhaftes Bauwerk, es ist der Kasseturm. Er hat in seiner fast 500-jährigen Geschichte eine besondere Rolle in Weimar gespielt – zunächst, von der Peripherie der Stadtbefestigung her (als die Stadt klein war), später zwar im Zentrum stehend, doch ohne hervorgehobene Bedeutung für die Kultur dieses Ortes. Das wurde erst anders, als er vor 30 Jahren den Studenten Weimars als Club übergeben wurde, und diesem Jubiläum ist dieses Heft gewidmet.
Zum letzten bedeutenden, dem 25-jährigen Jubiläum des Studentenclubs Kasseturm im Jahre 1987 hatte er sich noch mit dem trutzigen Slogan »Kasseturm bleibt Kasseturm« umgeben. Inzwischen hatte er – ziemlich passiv – die politische Wende erlebt, die auch eine Reaktion auf statisches Denken war. Allerdings hatte schon vor über zwei Jahrzehnten in seinen Mauern Wolf Biermann bei einem seiner letzten noch nicht verbotenen, aber stasiumwitterten Auftritte von der fernöstlichen Philosophie des Wandels gesungen: „Alles fließt, alles fließt, nichts bleibt, wie es ist …“ So vergötterte er seinen Fluß, die Elbe bei Dresden und Hamburg. Er würde heute wieder dieses ewige Prinzip des Wandels verkünden und die nach jeder Wende erzeugte Lust auf eine neue.
Was ist aber eigentlich der Kasseturm und was von dem, was er ist, sollte bleiben? Der historische Entwicklungsweg dieses Bauwerkes ist der Weg von einem der modernsten Festungsbauwerke seiner Zeit zum Lagerraum für Geld und Gemüse, zum Bunker, zum Syrnbolträger der „nordischen Kultur“ und zum romantisierten Club für Studenten.
Die Entscheidung der Weimarer Stadtverwaltung von 1962, den Kasseturm zum Domizil des ersten Studentenclubs der DDR zu machen, hatte Folgen, die weit über den planerischen Horizont und das tatsächliche Gestaltungsvermögen der damaligen Verwalter des Volksvermögens hinausgingen. indes, die Entscheidung war gut, obwohl sich die räumliche Struktur des Turmes nicht gerade idealisch den studentischen Freizeitinteressen anpassen ließ. Die Nachbarschaft zum gewollt proletarisch gestimmten Jugendclubhaus (früher mit Namen „Walter Ullbricht“ jetzt „mon ami“) sollte diejenigen beruhigen, die den Einheitsbrei der FDJ in Gefahr sahen.
Mitte der 60er Jahre gab es Bestrebungen, eine eigene Jugendorganisation der Architekturstudenten ins Leben zu rufen. Das wurde damals drastisch unterbunden und konnte erst mehr als zehn Jahre später – als Nachwuchsorganisation des Bundes der Architekten (BdA), und dann leider getrennt vom Kasseturm – realisiert werden. So war das Profil des Studentenclubs Kasseturm bis heute weniger durch ein perspektivisches Konzept als durch die eigentümliche Atmosphäre des Gebäudes geprägt.
Wenngleich die Verstrickungen der Clubleitungen mit der Staats-, Partei- und FDJ-Obrigkeit leider noch nicht aufgearbeitet worden sind, kann man sicherlich etwas feststellen, was auch anderen Ortes zu beobachten war. Mancher von denen, der aktiv und zugleich effektiv sein wollte, benutzte die offiziellen Strukturen für diese Betriebsamkeit und versuchte zugleich, die dogmatischen Züge des Systems zu unterlaufen. Sicherlich trifft diese Feststellung nicht für alle Aktivisten des Clublebens zu; die Zahl der „Abblocker“, der Konfliktbereiter und derjenigen Clubmitglieder, die soviel Aktivitäten im FDJ-Studentenclub entwickelten, daß sie gar das Weite mit Ausreiseanträgen suchten, war relativ hoch. Die einfachen oberflächlichen Bewertungen nach einer „Systemnähe“ (oder -ferne) erwiesen sich jedenfalls am Beispiel des Kasseturmes als untauglich.
Welchen Weg wird der Studentenclub Kosseturm einschlagen? Wie wird er es verstehen, den Austausch des alten, ideologischen Ballastes gegen die neuen, wirtschaftlichen Zwänge zu verkraften? Wie kann er vor allem in dem Spektrum und der Konkurrenz der Kneipen, Galerien und Heiratsmärkte sein eigenes Profil gewinnen? Für den Turm kann ich mir nur vorstellen, daß er sich der Bierseligkeit verweigert und ein kreatives und offenes Podium für alle wird, die Ausgelassenheit in einem geistigen und kulturellen Milieu suchen, das auch für alles Experimentelle und Spontane offen ist. Zu dieser lebendigen Geistigkeit gehört keine vornehme Zurückhaltung oder Resignation, vielmehr ein Sicheinmischen und eine spezifisch studentische Reaktion auf die Themen der Provinz wie der Welt. – An Kunst verträgt der Turm die kleine, an Musik die leise Art, an Unterhaltung die skurrile …
Das eigene Profil finden – das ist ein Thema, das für viele Kultureinrichtungen Weimars lebenswichtig ist. Aber einen Charakter erhalten der Kasseturm wie auch die Stadtkultur nicht durch einen erdachten Slogan, sondern durch das Aufspüren ihres Wesens und der Entwicklung einer an der eigenen Tradition geschulten Utopie. in diesem Sinne kann das 30iöhrige Jubiläum des Studentenclubs Kasseturm ein Anstoß für ganz Weimar sein, die kreative Suche nach dem, was „Identität“ genannt wird, aufs neue zu beginnen. Dazu wünsche ich allen Leser/innen des Kulturjournals viel schöpferische Unruhe und ein gutes Klima im winterlichen Weimar.