30 Jahre Kasseturm (1992)

30 Jahre Kasseturm (18.12.1992)

Zwischen einer Kunstfigur und der Realität, dem menschlichen Leben insbesondere, – hier verkörpert durch eine Junge Frau während ihrer abendlichen Vorbereitung, vielleicht ins Bett, vielleicht in den Kasseturm zu gehen – ist das nicht ein zu hoher thematischer Anspruch für den Festvortrag zum 30. Geburtstag des Kasseturmes? Natürlich nicht.

Liebe alte und junge Freunde und Freundinnen, liebe Gäste des Turmes, verehrte Honorationen von Stadt, Land und Bund!

Der Kasseturm war nicht nur lange Zeit ein Eckpfeiler der Stadtbefestigung, er ist auch ein solcher der Kulturpolitik und des kulturellen Lebens dieser Stadt.
Deshalb freut es mich, Euch und Sie alle hier zusammen zu sehen.
Es freut mich, daß Ihr von manchmal weit her gekommen seid, um mit uns den 30. Geburtstag des Turmes zu feiern. Das Verhältnis von Geist und Leben kulminiert in der Institution des Turmes. Das Geistige und das Lebendige zielen direkt auf die Mitte dessen, was da so dick und hohl am Goetheplatz zu Weimar, dem früheren Schweinemarkt, herumsteht. Das Hohle einerseits und die Unerschütterlichkeit der Mauern andererseits symbolisieren so recht den Charakter der Zivilisation, in der sich der Turm behaupten muß.

Das Massive der Steine prägt das Hohle des Raumes, schafft auch Bewegungsräume, Spielräume unseres Handelns und Denkens. Der Raum ist eine Kategorie des Möglichen, er ist ein Anspruch auf Freiheit, eben als Freiraum für uns.

So habe ich, so hat jeder den Turm immer begriffen. Ein Quantum Möglichkeit, ein Quantum Anderssein, ein Quantum schöne, schlanke Frauen im dicksten Turm, dem Kasseturm. Und noch etwas verbirgt sich im Verhältnis von Kunst und Leben, nämlich die Koalition von Künstlichem und Natürlichem. Das Künstliche als das Schöne, Geordnete, von Menschenhand Gemachte, das Natürliche als das Ungeordnete, Schnoddrige, Willkürliche, beides ist der Turm. Die Klarheit seiner Geometrie, die blöden Ecken und Kanten seiner Feldsteine, wie oft habe ich mich z.B.mit meinem großen Kopf an diese idiotische Kante gestoßen, die sich im Treppengang von ganz oben zum Tanzsaal befindet.

Das Leben ist das Praktische, vor allem das Trinken. Und das verträgt sich gut mit dem, was sich selbständig im Kopfe bewegt, dem Denken und Sprechen. Und beides ist der Kasseturm Und er ist Kommunikation, Lust auf Vermitteln und vermittelt werden. Was hat sich im Turm im Turm schon alles vermittelt. Wo sind nicht die Kanäle geschaltet, die Antennen aufgerichtet worden. Der Turm ist ein Kommunikationsloch, das seinesgleichen sucht. Und er ist Phantasie und Realität, Utopie und Spinnerei brechen sich an der unwahrscheinlichen Masse der Wände. Kein Wort dringt nach draußen, aber Pläne werden gemacht. Vielleicht nur für heute abend, vielleicht für später, vielleicht weiß ich morgen noch davon, vielleicht ist das Vorhaben beim nächsten Bier schon erledigt. Pläne werden gemacht, die hinausfliegen durch die Schächte einer Entlüftung, die nie funktioniert hat. Sie werden irgendwo landen, Bruchlandung wahrscheinlich, aber sie sind gestartet, ausgedacht, das reicht.

Und muß ich selbst der Sprecher sein,
die Kunstfigur verhält sich schnöde,
2 Zeilen waren das im Reim, sie stammen von dem alten Goethe.

Mein Vortrag, liebe Freunde und Beamte, hat drei Abteilungen. Die erste haben Sie gerade gehört. Sie galt dem Thema „Geist und Leben in ihrem Zusammenhang als Problem der Jugendarbeit“. Die zweite Abteilung hat den Titel „Früher und Heute“ und die letzte darauf folgende wird das Oben und Unten zum Gegenstand meiner Erörterung haben.

Nun also zum „Früher und Heute“.
Früher war alles ganz anders, aber wann war früher? Vor drei Jahren, als hier die Wende ohne besonderes Zutun des Kasseturmes stattgefunden hat? Was war damals anders? Nicht viel, einen Verein gab es nicht, ein Billardtisch fehlte und noch ein paar Kleinigkeiten sind hinzugekommen. Die ideologischen Zwänge sind wirtschaftliche geworden. Die Kreisleitung leitet nicht mehr, die Stasi stasiert nicht mehr, die Wanzen hecken nicht mehr. Der Turm ist etwas anderes und doch dasselbe. Ich finde gar, der Turm ist eine der Institutionen, deren Funktion und Erscheinung sich durch die Wende extrem wenig verändert haben. Man mag spekulieren, woran das liegt. Hält er sich immer aus allem heraus? Wahrscheinlich ist es noch etwas anderes. Es ist nur die Stabilität des Bauwerkes und die der Grundbedürfnisse, die er befriedigt:: essen, trinken, kontaktieren, kommunizieren, schlafen, essen, trinken usw. Der Überbau konnte und kann da wenig machen.

Jeder hat seine eigene Erinnerung an den Turm und an das Früher. Es lohnt sich immer, einiges aufzufrischen und sich dem Früher hinzugeben. Und ich denke, dazu sollte der heutige Abend genügend Raum bieten. Ich jedenfalls freue mich immer wieder über Geschichten, von denen ich viele schon fast vergessen hatte, weil sich eine Menge Unwichtiges zwischen die maroden Gehirnwindungen drängelt und diese auffrißt, wie irgendein Auffresser eben etwas auffrisst, was ihm gut schmeckt.

Früher war aber jedenfalls vor dem Jahre 1962, wo anderes Junges Gemüse als das, was wir später pflegten im Turm gelagert wurde. Die Entscheidung der damaligen Administration, den Gemüsekeller den Studenten zu überlassen, war ein welthistorischer Akt der Vernunft. Mindestens eine richtige Entscheidung hat die SED also zwangsherrschaftlich getroffen. Sie hat dafür gesorgt, daß statt Kohl und anderem, die klugen Köpfe der StudentInnen in diesem groben Gewölben ihr Unwesen treiben.

Also Gemüsekeller, das war ja unerträglich. Möbellager oder Geldtresor, alles historische Versuche gewesen, die Multifunktionalität des Turmes auszuprobieren, waren nur hilflose Versuche in Zeiten des noch nicht oder zu schwach existierenden Denkmalschutzes ein Bauwerk über die Zeiten zu retten. Bis dann die untere Denkmalbehörde – in Weimar in Gestalt des Oberbürgermeisters besonders aktiv – ihn ganz unter ihre Fittiche nahm. Im ausgehenden Mittelalter war er jedenfalls mal einer der modernsten Befestigungstürme gewesen und hat sicher dazu beigetragen, die Stadt vor dem Eindringen fremdländischer Hühner und Gänse zu schützen. Heute wirkt die Kriegsanlage eher romantisch. Das Martialische ist zum Musischen geworden.

Wir haben in der Geschichte des Turmes eine logarithmische Zeitkette: vor drei Jahren Wende, vor 30 Jahren Gründung, vor 500 Jahren Erbauung. Aber damit nicht genug. Ich will die Geschichte noch weiter zurückführen, weil man nur so das Wesen des Turmes begreift.

Die Steine, aus denen der Turm erbaut ist, haben nämlich eine wundervolle Geschichte hinter sich und sie führt uns zu dem eigentlichen Charakter unseres Geburtstagskindes. Ein großer Teil der Steine ist Travertin und stammt aus den Ehringsdorfer Brüchen.

Dem Ort, nach dem der homo ehringsdorfiensis, dieser biertrinkende Höhlenbewohner, genannt ist. Der Travertinstein ist relativ jung, hat nur 200 000 Jahre auf dem Gewissen und deshalb ist es interessant, wie sich diese porösen Klamotten mit der Hauptmasse den mehr als 200 Mio. Jahre alten Kalksteinen vertragen, nämlich gut. Diese waren meist Lesesteine von den Feldern, wohin sie durch rollende Erdbewegungen, durch Eis und andere merkwürdige Kräfte gelangt sind. Ihren Ursprung haben sie aber in dem großen Meer, in dem einst Weimar versunken war, wie es der geniale Goethe im Gegensatz zu den meisten seiner bornierten Zeitgenossen schon wußte. In diesem Meer nun tummelten sich ähnlich merkwürdige Wesen, wie sie heute den Kasseturm bevölkern. Damals schlürften Schnecken über den Grund, wackelten Muscheln in der Strömung, schnappten Kraken nach Beute und anderes gräßliches Getier macht uns die Vorstellung vom Ursprung des Kasseturmes nicht gerade freundlich. Zumal die Vermutung nahe liegt, dass sich schon damals die ersten Wanzen (versteinert) in das Gemäuer des Turmes eingeschmuggelt haben. Doch damit muß der Turm leben, er stammt aus diesem Milieu.

Ich komme nun zur dritten und letzten Abteilung meines Vortrages. Sie heißt „Oben und Unten“. Alles hat sein Oben und Unten. Oben ist das Dach und unten sind die Füße. Der Turm besteht bekanntlich aus drei Etagen: Oben sind Bar, Vortragsraum und Weinstube, darunter der Tanzsaal und unten der Bierkeller. Durch die Annexion weiterer Räume haben sich nach und nach Zwischengeschosse gebildet für Essen und Spiel. Alles wird durch Treppen verbunden. Der Turm besteht in der ganzheitlichen Vorstellung überhaupt nur aus Kuppeln und vor allem Treppen. Diese Höhen überwindenden Verkehrsflächen sind eigentlich Flanierstrecken, die Stufen sind Podeste der Selbstdarstellung. Das ist der Heiratsmarkt des Turmes oder was noch davor kommt. Hier stellt sich Materie dar.

Das Oben und Unten ist im Turm nicht auf den Kopf gestellt.
Oben denkt’s, da geht es geistig zu, dort werden Vorträge gehalten. Oben gibt´s Wein, unten gibt´s Bier. Im Keller herrscht Kumpanei und lautes Schenkelklopfen. Die Komplizen der Nacht sind unter sich. Aschenbecher sind überflüssig, man kann alles fallen lassen. Schöne Gegensätze. Unten stehen oder auf Hockern hocken, oben sitzen, in der Mitte ist Bewegung nach merkwürdigen Regeln des Tanzes. Unten ist die Musik rhythmisch, zum Schunkeln und Mitsingen, oben das Kunstvolle, das Freie, Avantgardistische und das Problem ist, alles das durcheinander zu bringen. Die Bewegung der Mitte in die Köpfe nach oben, die Lockerheit von unten in die Beziehungskiste des Tanzsaales zu verpflanzen, die Sinnlichkeit mit dem Denken und Handeln, das Denken mit der Sinnlichkeit zu verquicken, damit sich oben nicht fades Grübeln und blasses Resümieren breit macht und nur Wissensdurst befriedigt wird, während es unten um den richtigen Durst geht und sich etwa Bierseligkeit und Anrempelei breit macht, nein, eine ungezwungene Geistigkeit wäre der Sinn des Turmes und ich brauche da nicht auf große Namen wie den Krug, die Brüning, Wolf Biermann, Jewgeni Jefjutschenko und viele andere zu verweisen. Ich erinnere mich auch an Gisela May, wie sie im Keller das Lied vom Zuhälter Walter sang. Es war noch in der Ulbricht-Ära. Nein, es geht um das Potential jedes einzelnen Gastes, der durch seine Agilität und Aktivität den Status eines Gastes überwindet und somit Teil des Turmes wird. Wie schwer es ist, das Oben und Unten zu verbinden und zur Ganzheit von Lust und Geist vorzubringen, das hat – und nun zitiere ich, fast am Ende meines Vortrages, endlich einen wirklich großen Mann mal wörtlich – wie schwer das gerade bei uns Deutschen ist, das hat der Brecht
nun ganz vortrefflich ausgedrückt. „Wir Deutschen haben einen Materialismus ohne Sinnlichkeit“, schrieb er in seinem Tagebuch 1938. „Der Geist denkt bei uns immer über den Geist nach, die Körper und die Gegenstände bleiben geistlos. Der Geist verunreinigt sich gleich bei uns, wenn er Materie anfasst. Unsere Helden pflegen der Gesellschaft, aber essen nicht. Unsere Frauen haben Gefühle, aber keinen Hintern, dafür reden unsere Greise als hätten sie noch alle Zähne.“ Nun ein schönes Zukunftsbild, das wir da zum 50. Geburtstag des Turmes erwarten können.

Ein Haus, ein Turm kann nichts anderes bieten als Freiräume und Atmosphäre, darin sich jeder mit seiner Subjektivität einbringt. Wenn der Turm bestehen bleiben will, muss er sich als Studentenclub deshalb ständig erneuern. Immer wieder muß der steinerne Geselle ein ganz neuer werden, er braucht ganz viele Leute, für die er wirklich der dickste Freund ist. Und er muss hinauswirken in die Stadt, in die ganze Welt. Keine falsche Bescheidenheit. Sich überall einmischen, die Themen dieser Zeit aufsaugen und auf turmweise ausspucken. Eine vornehme Zurückhaltung wäre tödlich. Pulsierend, innovativ, subversiv sein – das ist die Quelle alles lebendigen und die Garantie für die Unsterblichkeit des Kasseturmes.

Nun zum Schluß meiner Rede:
Liebe alte und junge Freunde und Freundinnen des Kasseturmes, trau keinem über 30, so hat es mal geheißen. das gilt nicht mehr. Nun ist auch der Turm 30 und hat schon eine Tradition und das ist gut so. Der Turm gehört den heutigen Studenten, aber in seinen Mauern spuken noch die Geister von vielen rüheren Studentengenerationen davor und das ist auch gut so. Die alten Geister und ein sich ständig erneuernder Geist, das braucht der Turm. Ich wünsche dem Turm eine glänzende Zukunft und uns eine zünftige Geburtstagsfeier, die Dreißigste.

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