Zwischen Bildermuseum und Oper (1992)

ZWISCHEN BILDERMUSEUM UND OPER

Für wen ist eigentlich eine Bildvorstellung zeitgenössischer Kunst noch eine aufregende Sache? Hand aufs Herz, wer hat wirklich Lust auf eine Galerie, wen interessieren denn die mit einem seichten Kulturprogramm geschmückten Reden auf einer Vernissage? Die Reden treffen meist ins Leere, die Kunstwerke drücken diese aus und dem Kunstfreund befällt sie auf dem Heimweg, falls er sich nicht mit ein paar Gläschen Riesling Kabinett aufgefüllt hat.
Ich will hier nicht den vergeblichen Versuch machen, die Ursachen dieser Misere zu hinterfragen. Es ist eine Krise der Malerei und der Gesellschaft, nicht aber der Kunst. Es ist auch keine Krise der Malerei, sondern unseres atavistischen Verständnisses von ihr und der ihr zugesprochenen Bedeutsamkeit, die ihr heute mehr schadet als nützt. Natürlich spielen die beweglichen und kunstvoll manipulierten Bilder des Fernsehens und der Videos bei der Herausbildung von Wahrnehmungsgewohnheiten ihre Rolle, aber es ist absurd, deren technisch bedingte Informationsfülle für eine angebliche Reizüberflutung verantwortlich zu machen. Denn die Sinn zerstörenden Reize stammen vom Marktgeschrei unserer Zivilisation, nicht von den digitalen Codes der Computer.

Es ist gut, wenn die Kunstszene in Weimar auf die neue Situation reagiert. Die vornehmste Aufgabe von Kunst ist es, die Betrachter zu sensibilisieren: für Formen, für Farben, für Probleme mit der Umwelt und sich selbst. Eine Sensibilität mittels der Kunst zu produzieren, setzt aber schon Empfindsamkeit voraus. Um diesen Teufelskreis der Abstumpfung zu durchbrechen, brauchen wir zielgerichtete Experimente.
Torsten Schlüter hat ein solches Experiment unternommen und ich bin ihm dankbar dafür. Er hat es gewagt und es ist nicht ganz daneben gegangen. Das ist viel in einer Zeit der verunglückten Eingriffe und der vorprogrammierten Missverständnisse.

Was hat er gemacht? Er hat zunächst ein großartiges Thema gefunden: Hexen und Hexen. Die Doppelung verweist auf die Ambivalenz, Hexen sind mystische und reale Wesen, die „Freiheit“ wirklich ernst nehmen. Sie begnügen sich nicht mit der abstrakten Phrase von der freien Gesellschaft, sondern leben Freiheit vor und wie alle, die Versprechungen ernst nehmen, bekommen sie Schwierigkeiten, werden sogar gedemütigt, gefoltert und verbrannt. Da müssen sie eben zaubern können und fliegen lernen. Auf dem Brocken gründen sie einen Verein, erhalten zwei ABM-Stellen und verhelfen Torsten Schlüter zu einem neuen Stil, dem Besenstil. Ist ihre gesellschaftliche und kulturstiftende Rolle schon unbestritten, so kommt hinzu, dass es Frauen sind. Frauen ziehen Frauen an und diese Männer. So kam es, dass am Abend des 30. April, zur Walpurgisnacht, in dem frisch rekonstruierten ACC mehrere hundert Personen zusammen kamen. Sie erlebten natürlich auch eine ganz normale Bilderausstellung, wo man hinguckt und eine normale Vernissage als Beziehungskiste, wo man sich im small talk begegnet.

Aber Schlüter hat mehr geboten, vor allem hat er die Erotik des Hexenthemas in verschiedenen Ebenen der Sinnlichkeit umgedeutet. Selbstverständlich ging es dabei nicht ohne junge, hübsche Weiber ab, die in allen Räumen aufzufinden waren und dort die Gäste für die edlen Belange der Kunst animierten. Im Treppenhaus und im Hof, wo die Damen kunstvoll in die Fensteröffnungen drapiert waren, sangen sich die teilweise durch Hochschullehrer stimmlich beachtlich geschulten Hexlein gegenseitig Opernpartikel vor oder zitierten expressionistische Texte, die der Maler in denjenigen Pausen geschaffen hatte, in denen sich seine Modelle im Morgenmänteln ein wenig aufwärmten. Das die Hexenmodelle alle Schlüters Geliebte waren, ist eine glatte Übertreibung, doch fördern solche Phantasien auch die künstlerische Empfindsamkeit, sind also erlaubt. Schlüters Sinn für die Wirkungsgemeinschaft vom Künstlerischen und Erotischen hat einen produktiven Ansatz hervorgebracht. Das Thema der Ausstellung hat sich offenbar aus normalen Frauenbildnissen ergeben, die nicht zauberhaft waren. Doch irgendwo ist den experimentellen Portraits eine übergeordnete Idee zugekommen, man merkt es ihnen an. Die gelungensten Malereien sind nicht vordergründig Abbilder, sondern gefärbte Interpretationen eines Themas; das Titelbild seines professionell aufgemachten Kataloges gehört dazu.

Kurz vor Mitternacht wurden einige Hexen wieder aus den Bildern herausgemalt, indem sie der Maler sehr farbenfroh dekorierte. Sie folgten dem Künstler aus den durch spezifische Klänge und Gerüche markierten Räumen ins Freie, wo sie einen Akt der Selbstbefreiung inszenierten und eine abschließende Performance feierten. Da stellte sich heraus, dass ihr Separee im Hofe auch etwas Geborgenes gehabt hatte. Nun schlug ihnen das öffentliche Getue der Normalität die Beine weg. Nichts für Hof-, Sumpf- und Erlenweiber. Draußen krochen sie bezeichnender Weise unter das große Leinentuch und im Untergrund passierte einiges an Bewegung, während es nur ein Besenstil schaffte, in einem großen Spinnenetz gefangen, einige Meter an Höhe zu gewinnen. Man hatte gehofft, dass der Übergang aus der Enge der Ausstellungsräume und des ummauerten Hofes zum Freiraum des Burgplatzes auch eine Weite des Denkens und Fühlens suggerieren wird. Doch da war schon Mitternacht, das Ende des Tages und danach kam der 1. Mai, an dem es mit dem Spuk der Befreiung hätte weitergehen müssen. Doch dieser, in den letzten Jahrzehnten zur Beweihräucherung der SED-Kreisleitung heruntergekommene Feiertag, ist ja heute nur noch langweilig. So mussten sich die Hexlein ihren Traum wieder abschminken und wurden BürgerInnen wie Du und ich.

Das Thema bietet einen großen Interpretationsraum. Schlüter ging es immer um Hintergründiges, um Sehnsüchte, Geheimnisse, Farben. Aus Bildnissen werden Geschöpfe, aus Geschöpfen werden Zeichen.
Instrumente assoziieren einen Fahrstuhl, dieser deutet nach oben. Im Hof pfeift der Lichtstrahl eines Großdias über die Köpfe hinweg. Die Hirne bilden Schatten auf der Leinwand. Viele Details mussten entdeckt, viele Bedeutungen selbst eingebracht, Aktionen erlebt werden. Vieles ging in der Masse der Besucher unter, einiges war nicht präzise genug konzipiert. Wer eine gewöhnliche Ausstellungseröffnung erwartet hatte, war freudig überrascht, wer ein Gesamtkunstwerk erhoffte, fühlte sich enttäuscht. Eine Ausstattungsoper war es nicht. Es war kein Angebot zum Schnalzen mit der Zunge, keine bloße Harmonie der Ohren- und Augenfreuden, kein Flitter für passive Schöngeister. Schlüter hat sein Gespür für das, was ankommt, nicht zum Eingängigen oder Einschmeichelnden hin reduziert. Er sucht nach der Kunstform und ist dem Genre verpflichtet.

Eine Performance ist nicht die Ensembleleistung eines Orchesters mit Dirigenten, mit Bühnenbildner, Sängern, Chor usw., sondern die Anwendung einer künstlerischen Sprache aufgrund einer Kompetenz zum multimedialen Ausdruck. Ihr liegt keine Story zugrunde, wohl aber ein Sinn, der in der zeitlichen Abfolge von Symbolen erschließbar ist.
Die neuen Kunstformen erfordern auch ein sich wandelndes Publikum. Einige wären auch deshalb nicht recht zufrieden, weil sie diese Art nicht kannten. Sie suchten nach der Bilderausstellung oder der Oper. Schlüter wollte mehr als eine Performance, er wollte ein „Erlebnisfest“. Das deutet in die Richtung von Kunst überhaupt, in Richtung einer Sublimierung unserer abgestumpften und abstumpfenden Wahrnehmungen.
Wir werden uns an so etwas noch gewöhnen müssen, das braucht Zeit. Niemand kann hexen.

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