Gestalterische Grundwerte der Architektur (1989/90)

Dieser in 15 Thesen geordnete Text war fast identisch unter dem Titel „Leitlinie sozialistischer Architekturgestaltung“ Anfang 1988 als internes Lehrmaterial entstanden. Er war damals zu kritisch für eine Zeitschriften-Veröffentlichung, im Januar 1990 bestand nun ein kleines Zeitfenster für dieses Ideal einer humanistischen Architektur, die sich frei von vielen Doktrinen hätte entwickeln können.

Olaf Weber
Gestalterische Grundwerte der Architektur.
Thesen.

Der umfassende Wandlungsprozess in unserer Gesellschaft muss im baulichen Sektor der Wirtschaft und der Kultur eine besonders starke Ausprägung erfahren. Die hausgemachten Impulse für diesen Abbau angestauter Probleme überlagern sich dabei mit den Tendenzen der internationalen Architektur und werden mit Sicherheit nicht nur die technischen Momente (Bautechnik und Baustoffe) oder die ästhetischen und sozialen Aspekte (Formensprache und Raumordnungen) betreffen, sondern darüber hinaus das gesamte System des gesellschaftlichen Hervorbringens von gebauter Umwelt – darunter besonders die Stellung des Architekten.

Der Erfolg der baulichen Umorientierung hängt davon ab, wie tief die Veränderungen in die Grundlagen von Städtebau und Architektur hineinragen. Oberflächlicher Wandel in diese oder jene Richtung und bloßer Austausch von fertigen Konzepten führt uns nicht weiter. Wir sollten die anstehenden Probleme danach sortieren, ob sie kurz-, mittel- oder langfristig zu lösen sind. Die kurzfristigen Wendungen müssen sofort und deutlich erfolgen, die weiter reichenden Veränderungen müssen ebenso schnell angegangen werden, denn sie dauern länger. Ich will in den folgenden, Anfang 1988 entstandenen Thesen zu den längerfristigen Grundorientierungen einige Aussagen machen, sie wollen Diskussionsmaterial und zugleich eine vorläufige theoretische Plattform für den praktischen Wandel sein. Die Thesen betreffen Grundpositionen zur Architektur als Ganzes, obwohl hier ein begrenzter, ästhetischer Ausgangspunkt gewählt wurde und weitere konkrete Untersetzungen – etwa in Richtung Städtebau oder Wohnungsbau – notwendig sind. Sie wollen Diskussion und die Programmatik von Städtebau und Architektur befördern und zugleich Orientierungsgrundlagen für die Bewertung der Gegenwartsarchitektur geben, die weltweit durch eine verwirrende Vielfalt der Erscheinungsbilder gekennzeichnet ist, in denen objektive Strömungen von kurzlebigen Moden nur durch gründliche Analysen zu unterscheiden sind. Die Thesen verstehen sich auch als der Umschreibungsversuch eines gestalterischen Ideals und als ein unvollständiges System von Bewertungskriterien, das man an die eigenen und an die Entwürfe der anderen anlegen kann.

Die zweite Vorbemerkung betrifft die Vorbilder und Konkurrenten des von mir skizzierten gestalterischen Ideals. Es ist in unserer Architekturdiskussion üblich geworden, die scheinbare Alternative von Moderne und Postmoderne zu akzeptieren. Doch wir sollen die Analysen differenzierter durchführen und die Alternativen fundamentaler entwerfen. Es ist sehr bequem, die im Laufe der Nachkriegsentwicklung immer weiter verflachten Grundsätze der „Moderne“ durch eine Überhöhung der dort vernachlässigten Momente zu diffamieren und durch neue und wiederum fragmentarische Konzepte zu ersetzen. In der Vernachlässigung des Geschichtlichen, des Lokalen, des Emotionalen, des Individuellen und des Prinzips der Verständlichkeit, im unkritischen Verhältnis zum technischen und wirtschaftlichen Fortschritt liegen die problematischen Momente der Moderne, die insgesamt ein Ausdruck der arbeitsteiligen Entfremdung, mit dem Hang zum kalten zweckrationalen Technizismus und zum „Wirtschaftlichkeitsfunktionalismus“ war. Sie sind zum großen Teil auch die problematischen Momente unserer Architektur. Aber diese durch einen neuen „Ästhetizismus“ zu ersetzen, wäre nur trügerischer Austausch der einen durch andere Halbheiten. Solchen Pendelbewegungen folgt nur, wem der Wechsel von Moden oder Dogmen schon als Erneuerung genügt. Der Postmodernismus enthält als „dominierender Gegenpol allen konservativen und traditionalistischen Denkens“ (R. Weimann) auch ein ungewöhnliches Protestpotential, doch er ist nicht der von seinen Vertretern gepriesene große Alternativentwurf zum verflachten Modernismus, sondern stellt sich mehr als die umgekehrte, aufgemotzte Fortsetzung der Halbheit dar. Die radikale Kritik an den gebauten Kisten soll dabei über die weiter unbewältigten Probleme hinwegtäuschen, eine nicht stattgefundene fundamentale Erneuerung des Bauens suggerieren und die innovativen Potentiale im Ästhetischen verbrauchen. Wir brauchen aber eine grundlegende Erneuerung.

In ähnlicher Weise, wie unsere neue Gesellschaftskonzeption unseren bisherigen bevormundeten Zustand gründlich revidieren und zugleich eine positive Alternative zur Wegwerf- und Ellenbogengesellschaft des Westens herausbilden muss, wird auch eine fundamentale Kritik der Ästhetik der zeitgenössischen Architektur das Heterogene von Moderne und Postmoderne wechselseitig einschließen. Eine humanistische Gestaltungskonzeption wird ihrem Anspruch nicht gerecht, wenn sie sich lediglich als Modifikation der „Neuen Sachlichkeit“ versteht, doch auch eine Orientierung an den fremdbestimmten Formillusionen der Postmoderne muss die Züge dessen verzerren, was wir programmatisch unter Architektur verstehen. Indem eine solche Konzeption Unternehmerfunktionalismus und die technokratische Architektur hinter sich lässt und sich von formalistischen und nostalgischen Erscheinungen abgrenzt, schafft sie wichtige Voraussetzungen, um ihre instrumentelle Potenz in Richtung auf eine gebrauchsfähige, langlebige, anpassungsfähige, ausdrucksvolle, vielfältige, schöne und selbstbestimmte bauliche Umwelt zu entfalten.

Die in den letzten Jahren international durchgeführten Formexperimente haben, sobald sie über reine Schaueffekte hinausgingen, eine neue Sensibilität für Architektur und die ästhetische Umweltgestaltung geschaffen, doch eine neue ganzheitliche Architekturqualität ist daraus noch nicht hervorgegangen. Auch die Hinwendung zu historischen Formadaptionen in der DDR-Architektur hat zwar manchmal die Unverträglichkeit der groben Bautechnologie mit historischen Strukturen gemildert, ohne jedoch die komplexen Voraussetzungen einer neuen Baukultur und die Elemente einer neuen Formensprache auszubilden.

Die Impulse für eine ästhetische Erneuerung der Architektur erwachsen vielen Elementen der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ökologische Erneuerung von Städtebau und Architektur ist ebenso wie die demokratische Einbeziehung der Bürger in die Stadt- und Bauplanung und der Computereinsatz in der Projektierung und Baudurchführung eine dieser Quellen ästhetischer Innovationen. Gestalterische Maßnahmen sollen diese gesellschaftlichen Prozesse des Bauens mit ästhetischen Impulsen durchsetzen helfen, sie können sie aber nicht – als bloße Dekoration – ersetzen.
Die folgenden Thesen wollen einen theoretischen Rahmen bilden, der aufzeigt, wie diese grundlegenden Veränderungen des Bauens mit ästhetischer Kultur akkumuliert werden können.

Thesen

1. Das Ziel der Gestaltung ist eine Gebrauchs- und Kulturwerterhöhung der Architektur im Dienst der realen Ansprüche der Menschen an eine humane Umwelt, von der sie Schutz, Halt und Orientierung erwarten.

Die Architektur ist sowohl dritte Haut des Menschen, die seinen sozialen Organismus umschließt, als auch ein Kulturprodukt, das zur erweiterten Reproduktion der Städte und Siedlungen beiträgt, als auch ein Erzeugnis der Bauproduktion, das dem Kreislauf mit der Natur angehört. Die Realisierung jeder einzelnen Funktion wie auch ihres Zusammenhanges ist eine Aufgabe von komplexem Zuschnitt, die höchste gesellschaftliche Wertschätzung beansprucht.

Die gesellschaftliche Funktion der Architektur besteht in ihrer allgemeinsten und wesentlichen positiven Bestimmung darin, mit baulichen Mitteln den sozialen und kulturellen Emanzipationsprozess ihrer Bewohner zu fördern. Alles Menschliche fügt sich zu ihrem Maßstab. Auf diesen humanistischen Kern ist in diesem Text das Attribut „sozialistisch“ zurückgeführt, es bedeutet also eine Ausweitung, nicht eine Begrenzung der positiven Werte des entsprechenden Begriffes. Die sozialistische Gestaltungskonzeption orientiert auf eine gesellschaftliche Funktion der gebauten Umwelt, die die soziale Effizienz des Raumes erhöht, die den solidarischen Beziehungen und der freien Entfaltung von Persönlichkeiten dienlich ist, die subjektive Produktivität der Individuen fördert, geistige und emotionale Potenzen stimuliert und dabei entwickelte Beziehungen zu den natürlichen und historischen Eigenarten des Standortes herstellt. Sie orientiert auf einen großen Beziehungsreichtum zwischen Bauwerk, Mensch und Natur und trägt bei zur räumlichen Koordination der durch die Arbeitsteilung getrennten Lebensfunktionen, zur Herausbildung einer lebendigen Massenkultur und zur komplexen, selbstbestimmten Verfügung über die gegenständliche Umwelt.
Im Widerspruch zu dieser Gebrauchs- und Kulturwerterhöhung stehen all diejenigen Bestrebungen, die auf Exklusivität, auf Gewinn- oder Repräsentationssucht, auf soziale und kulturelle Segregation ausgerichtet sind, die Entfremdung, Abhängigkeit, Täuschung und Illusion fördern, die die proportionale Entwicklung der Städte und Siedlungen, den sozialkulturellen Differenzierungsprozess, die Pflege der historischen Werte oder auch nur die ganzheitliche Aneignung von Architektur behindern.

Im politisch-sozialen Bereich, nicht im Reich der Formen, sollten wir die wesentlichen Scheidelinien zu anderen Konzeptionen ziehen. Die Orientierung auf das Solidarprinzip der Bedürfnisbefriedigung und auf ökologische Kreisläufe erfordert ganzheitliche und dauerhaft-anpassungsfähige Ergebnisse. Ihnen sollte der Drang zu modischem, schnellem Verschleiß, zu Styling, zu Effekthascherei und oberflächlicher, leerer Dekoration zuwider sein.

2. Gestaltung ist ein unstetes Optimierungsverfahren, bei dem Zwecke und Mittel in Beziehung gesetzt werden. Nur in diesem Sinne ist Gestaltung funktional. Die Funktion ist ein labiles Bindeglied zwischen Anforderung und Wirkung, sie ist das eigenschaftliche Verhalten der baulichen Umwelt im Prozess ihrer aktiven Aneignung durch die Nutzer (durch die Bewohner, Touristen usw. – durch alle Menschen).

Der Funktionsbegriff ist nicht deshalb eine wichtige Kategorie, weil er die Dominanz der Zwecke über den Ausdruck, sondern die der Zwecke über die Mittel postuliert. Dabei sind Zwecke und Mittel in mehreren Ebenen geschichtet, die Mittel wirken auf die Zwecke zurück. Funktional vorgehen heißt, von sozialkulturellen Zielstellungen ausgehend, möglichst alles andere zu verfügbaren Mitteln zu machen, auch das technisch und ästhetisch Vorgefundene. In diesem Sinne gibt die Gestaltungstheorie Auskunft über (historisch, sozial und lokal veränderliche) Mittel-Zweck-Implikationen im ästhetischen Bereich und bietet Strategien zur Lösung von Zielkonflikten bei komplexen Aufgaben.

Doch ist die Architektur nicht das Ergebnis eines zweckrationalistisch gedachten Funktionalismus – auch nicht eines erweiterten, die ideell-ästhetischen Momente einschließenden Determinismus, der von eindeutigen Zweck-Mittel-Beziehungen ausgeht und mit der baulichen Struktur die vermeintlich zugehörigen Verhalten-, Denk- und Empfindungsweise der Menschen gleich mitproduzieren will. Auch die radikal offenen oder subjektivistischen Konzeptionen, nach denen alles Geschaffene seine Verwendung und seine Interpretation finden werde, bedienen nur eine Seite der dialektischen Einheit. Die strukturellen Beziehungen zwischen Mitteln, Zwecken und Wirkungen sind nicht eindeutig, doch auch nicht zufällig, es sind Wahrscheinlichkeitsvariablen, die kulturell determiniert sind. Die Architekturgestaltung schafft nicht nur Räume als umhüllte Leere, sondern auch Freiräume der gesellschaftlichen Aneignung, die die Potenz einer Neubewertung, Neuinterpretation und Neunutzung der gebauten Umwelt enthalten sowie spontanes emotionales Reagieren auf die bauliche Vorgabe ermöglichen. Die Funktionalität der Architektur und die Aneignungskraft der Nutzer überlagern sich im Freiraum ihres tatsächlichen Zusammentreffens.

3. Widersprüche sind Agenten der Gestaltung, das Aufspüren der Widersprüchlichkeit und Komplexität der Anforderungsstruktur ist der analytische Kern der Gestaltungstätigkeit.

Das allgemeine Problemlösungsverfahren in der Architektur ist das Entwerfen. Gestalten ist dessen ästhetischer Aspekt. Architektonisches Gestalten ist der Prozess der Integration von ästhetischer Kultur in alle Ebenen des Entwurfs und der realen Architektur. Die ästhetischen Eigenschaften der Architektur werden in einem entwurfsmethodischen Verfahren festgelegt, das auf einem Wechselspiel von Analyse- und Synthesephasen basiert.

Für den inneren Hauptwiderspruch der Architektur ist ein Komplex von physikalischen Eigenschaften Voraussetzung, die das statische Gefüge des Baues sichern und durch Umhüllung und konstruktive Maßnahmen die technische Funktion der Architektur gewährleisten. Auf der Basis dieser voraussetzenden Schutz-, Trag- und Hüllfunktion entwickelt sich die Dialektik von materiell-praktischen und ideell-ästhetischen Ansprüchen und Einflüssen der Architektur von Bauaufgabe zu Bauaufgabe unterschiedlich. Der architektonische Funktionskomplex umfasst ein weitgefächertes Wirkungsspektrum. Zu ihm gehören poetische und symbolische Ausdrücke – auch wenn sie keinen direkten instrumentellen Bezug haben. Architektur nimmt Einfluss auf das äußere (praktische) und auf das innere (ideell-ästhetische) Verhalten der Nutzer. Die Proportionen zwischen beiden Seiten, ihre Gewichte und Aufwendungen, sind nicht als ein vorgefasstes Axiom festgelegt, sie werden vom Typ der Bauaufgabe und der konkreten räumlichen und kulturellen Situation, also von den Bedingungen, diktiert. Diese müssen darüber entscheiden, „in welchem gestaltreich der einzelne bau steht“ (H. Häring).

Kultur, Natur und Umwelt sind die der architektonischen Komplexität adäquaten Begriffe. Die Form folgt nicht dem praktischen Zweck, dem Material oder der Herstellung – das auch, sondern einer aus den Interessen der Nutzer und der Kommune hervorgehenden Gesamtvorstellung von Kultur und Umwelt. Nicht einzelne Funktionen werden optimiert, sondern die Gesamtheit der Anforderungen und Beziehungen wird in der Totalität der Widersprüche funktionalisiert. Gestaltung muss zuerst die Höhe eines so allgemeinen Funktionsbegriffes aufsuchen, um danach um so genauer die verschiedenen Charaktere der (ästhetischen) Wirkungsbeziehungen zu unterscheiden. An einer komplexen Funktionalität gemessen treten konzeptionelle Mängel nicht als Verabsolutierung der Funktion, sondern als deren relative Begrenzung, falsche Rangigkeit oder enge Determiniertheit auf.

Beim Entwerfen stehen objektive und subjektive Momente, ökonomische und kulturelle, rationale und emotionale, wissenschaftliche und künstlerische … Aspekte in einem Spannungsverhältnis. Die einander divergierenden Anforderungen fordern die Kreativität des Architekten heraus. Der sachkundigen Gestaltlogik ist das Spiel mit Formen und Farben zugesellt, das nicht selten bedeutsame Innovationen hervorbringt. So ergänzen sich analytisches Denken und architektonische Phantasie wechselseitig. Spiel und Phantasie sind die Korrektive des funktionalen Denkens.

Bauen ist eine kollektive Handlung, die nicht aus voreiligen, glättenden Kompromissen, sondern aus dem Widerspiel prägnanter Standpunkte und souveräner Individuen ihre Objektivität bezieht. Der Architekt ist für die organische Einheit der Widersprüche verantwortlich, nicht für die Einheitlichkeit von Schemen, die „aus einem Guss“ sind. Er transformiert die Dialektik der vielfältigen Anforderungen in eine architektonische. Wo sich eine lebendige Kultur mit allen ihren Widersprüchen in den baulichen Strukturen vergegenständlichen kann, dort sind die Häuser – obwohl aus Stein oder Stahl gebaut – lebendige, wandlungsfähige Individuen, die um so besser funktionieren, je ähnlicher ihre Komplexität der alles Natürlichen ist.

Im Gegensatz zur Ganzheitlichkeit dieses Verfahrens steht die reduzierte Architektur des Utilitarismus, des Ästhetizismus, Formalismus, Technizismus oder anderer Ismen, in der die Komplexität und Widersprüchlichkeit entweder bereits in der Anforderungsstruktur oder im Ergebnis einer fehlerhaften Entwurfsprozedur verkümmert ist. Äußerliches Nachbessern und falsche Fassaden sind oft deren Folgen. Widersprüchliches verliert sich dann aus den dialektischen Zusammenhängen und wird zum aufgesetzten Dekor.

4. Die Anschauung ist dem Gebrauch integriert. Architekturgestaltung zielt auf Aneignung der gebauten Umwelt, nicht lediglich auf das verräumlichte Tätigsein der Nutzer (wie im Utilitarismus) oder lediglich auf erbauende Anschauung (wie im Ästhetizismus).Im Aneignungsprozess verschmelzen Tätigkeit und Anschauung durch das jeweils andere zu einer architekturspezifischen Verhaltenseinheit. Auf diese Weise wird die Nützlichkeit der Architektur zur komplexen Verfügbarkeit der Menschen über ihre bauliche Umwelt ausgeweitet, und der ästhetische Genuss entwickelt sich aus dem gesamten räumlichen Verhalten in gebauter Umwelt. An der Wahrnehmung und ästhetischen Wertung sind alle Sinne beteiligt. Architektonisches Erleben ist ein synästhetischer Prozess von außerordentlich komplexem Zuschnitt, der das Empfinden von Raumbewegung, das Begreifen von Handhabung und Nützlichkeit einschließt.

Die zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Fonds bestimmen den Gesamtaufwand für das Bauen, legen aber nicht das Wertgefüge zwischen dem Praktischen und dem Ästhetischen fest – etwa in dem Sinne, dass zuerst die praktischen Anforderungen an das Bauen erfüllt sein müssten, bevor die ästhetischen Ansprüche an die Reihe kämen. Die sozialistische Architekturgestaltung setzt die soziale Wertordnung anders: Nicht die materiell-praktischen dominieren über die ideell-ästhetischen, wohl aber die Grundbedürfnisse (die sich immer auf Gebrauch und Wahrnehmung beziehen) über die Luxusbedürfnisse (über weiterreichende Anforderungen).

5. Die Form soll informieren, orientieren und unterhalten. Die ästhetische Funktion der Form besteht darin, wichtige strukturelle, funktionelle und historische Bezüge, die die Menschen kennen (oder empfinden) müssen, um sich in ihrer Umwelt einzurichten, auf ästhetisch genussvolle Weise zu vermitteln. Die Form stellt einerseits eine Hilfe bei der Organisation von Lebensprozessen dar, indem sie nutzertechnologische und räumliche Zusammenhänge artikuliert. In diesem Sinne dient ihre Aussagekraft dem aktuellen Gebrauch. Zweitens gibt sie langzeitliche Orientierungen im Wertesystem der herrschenden Kultur, dabei vereint sie ihre kulturelle Potenz mit anderen Bereichen der gegenständlichen Umwelt, mit den Medien und der Kunst. Letztlich dient sie auch dem ästhetischen Genuss, indem ihre ästhetischen Merkmale sowohl untereinander als auch zum Menschen, besonders seinem Wahrnehmungssystem und seinen konkreten ästhetischen Bedürfnissen zur Übereinstimmung kommen. Das Schöne ist aber nicht das formale Gleichmaß einer oberflächlichen Harmonie, sondern ein Urteil über die Angemessenheit einer durchaus auch widersprüchlichen Umwelt mit unserer Befindlichkeit in der Wahrnehmung, beim Gebrauch, in der Aneignung.

Die Architekturform umfasst die Gesamtheit der sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der baulichen Umwelt, alles Ausdrucks- und Bedeutungsvolle der Architektur. Indem sie sich präsentiert, repräsentiert sie zugleich nicht wahrnehmbare Eigenschaften der Architektur oder ihrer Umgebung, Beziehungen, Prozesse usw. Sie vermittelt diese durch Bilder, Anzeichen und Symbole, einiges wird logisch, anderes assoziativ in Erinnerung gebracht.

Die Träger der Aussagen sind in widersprüchlicher Einheit zugleich materielle Funktionsträger. Der Inhalt der Aussagen bezieht sich in engerem Sinne auf Eigenschaften des Ausdrucksträgers, im weitesten Sinne stellt er die Gesamtheit der Ideen und Emotionen dar, die mit der betreffenden Architektur in Zusammenhang gebracht werden. Die Form ist Ausdruck des praktischen Gebrauchs und widerspiegelt einige faktische Bedingungen der Herstellung, sie ist aber auch eine breit gefächerte Deutung des Lebens der Gesellschaft und ihrer Kultur. Gestaltung bemüht sich, den engeren und den weiteren Gehalt, die Bedeutung und den Sinn der Form in einen Zusammenhang zu bringen. Wie der zentrale Kern der architektonischen Funktionalität darauf orientiert ist, den „Umgang“ mit ihr zu optimieren, so besteht auch der Kern der architektonischen Aussagen aus praktischen Informationen, die alle anderen ästhetischen Aussagen durchdringen. In der Transzendenz der Gebrauchsanweisungen in die Kunstwerte der Architektur liegt der wesentliche Inhalt der Gestaltung. In der baulichen Form werden die Funktionsbeziehungen der Architektur und ihre Konstruktion auf eine künstlerische (und manchmal weitschweifige) Weise mit baulichen Mitteln interpretiert.

Auch hierbei sind dualistische Lösungen abzulehnen, z.B. solche, die den Formen einen der praktischen Bedeutung unverträglichen Sinn geben, oder solche, bei denen sich die „Fiktion“ oder die „Thematisierung“ von der Bauaufgabe zu weit entfernt hat oder aufgesetzt bleibt. Die angestrebte Einheit entwickelt sich aus dem Zusammenhang der Inhalte und der Kodesysteme, während die stoffliche Hüllform von der Bauhauptstruktur konstruktiv durchaus losgelöst sein kann. Dekorationen sind dann abzulehnen, wenn sie nur oberflächlich und verschleiernd Bedürfnisse nach Vielfalt abdecken, ohne einen semantischen Bezug zur sozialräumlichen Wirklichkeit zu entwickeln. Architektonische Aussagen sollen wahr sein, doch nicht im Sinne der mechanischen Widerspiegelung, sondern nach dem Charakter künstlerischer Aussagen. „Konstruktive Wahrheit“, „Materialgerechtigkeit“ usw. sind zugleich richtige Orientierungen wie auch dogmatische Begriffe. Optische Täuschungen können zu künstlerisch richtigen Wahrnehmungen führen, doch Imitationen und andere illusionäre Gestaltungen sind dann problematisch, wenn sie (zum Vorteil billiger Effekte) das Vertrauensverhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt beeinträchtigen.

6. Formen sind Anzeichen und Symbole. Formen sind mit den Bedeutungen und Aussagen, die sie tragen, durch unterschiedliche, oft labile und zerbrechliche Strukturen verbunden. Da unsere Gestaltungsprogrammatik zuerst an Zielen und Funktionen orientiert ist, legt sie dort auch die klarsten und wesentlichen Kriterien fest. Auf den unteren Ebenen der Gestaltungsmittel indessen gibt sie nur Orientierungen oder ist völlig offen. Deshalb ist die Formenwahl aber nicht zufällig oder subjektiv. Die Gestaltungsmittel werden aus dem (immer offenen) Repertoire eines raumzeitlich konkreten Kulturkreises und in widersprüchlicher Einheit zu den praktischen und technischen Konditionen entsprechend ihrer Eignung dafür ausgewählt, in der historisch und räumlich konkreten Gestaltungssituation den erstrebten Inhalt auszudrücken bzw. eine Wirkungsabsicht realisieren zu können. Sie gewinnen ihren Wert nur in ihrer inhaltlichen Beziehung, die sich meist erst in der Kombination und Konkretisierung zu baulichen Gebilden entwickelt. Formen oder Formenmerkmale „an sich“ sind wertfrei, Formen werden nach ihrer ästhetischen Funktion beurteilt. Eine Gestaltungsprogrammatik, die auch nur ein einziges derjenigen künstlerischen Mittel nicht zu integrieren weiß, das einen relevanten Wirklichkeitsbezug an eine Gruppe von Menschen zu vermitteln vermag, ist reduziert, ist formalistisch. In das Repertoire ästhetischer Mittel sind auch Symbole, Motive, bildhafte Zeichen, Metaphern, Zitate, Verfremdungen usw. eingeschlossen. Nicht ihre Zugehörigkeit zum Fundus eines Stiles ist Gegenstand der Bewertung, sondern ihre konkrete gesellschaftliche Verwendung.

Das Gestalten zielt nicht lediglich auf eine formale Schönheit oder Harmonie, sondern auch auf Aussagen und Wirkungen, deshalb untersucht die Gestaltungstheorie die komplizierten Beziehungen von Formen und Inhalten. Sie sind teils festgelegt – z.B. bei Anzeichen, die den Fakt, aus dem sie ursächlich hervorgingen, durch logisches Denken erschließen lassen; Symbole hingegen haben ihre Bedeutung durch einen bewussten Akt der Sinngebung erhalten, sie kann u.U. auch ausgewechselt werden. Die Architekten überprüfen die Sinngehalte der Formen, verwenden aussagekräftige Gestalten, versuchen die Neuinterpretation wichtiger Formen, Formenmerkmale oder Gestaltungsprinzipien, wenn ihr Sinngehalt den humanistischen Orientierungen nicht entspricht und erfinden neue Träger architektonischer Aussagen.

Die genannten Mittel sind geeignet, künstlerische Wirkungen zu fördern. Das Künstlerische ist als ein konzentrierter, ausdruckstiefer Modus des Ästhetischen ein Moment der Gestaltung. Dabei bleibt gültig, dass die Architektur und die Gebrauchsgegenstände dem Umweltbegriff viel näher stehen als dem Kunstbegriff. Doch erst auf diese Totalität des Künstlerischen geweitet, wird Architektur auch praktisch oder sozial voll wirksam.

7. Gestalten ist das Formulieren von architektonischen Aussagen mit baulichen Mitteln.
Die Gestaltungsmittel sind der ästhetisch manipulante Teil der Formen – im Idealfall deren Gesamtheit. Das Formulieren, also die Produktion von architektonischem Ausdruck, ist ein Prozess, in dem das Ergebnis durch Figurieren, Modifizieren, Selektieren und Kombinieren von bedeutungstragenden und meist auch materiellen Zwecken dienlichen Formen gebildet wird.

Das Bestreben, auch die Gestalt in der eingangs beschriebenen Weise zu funktionalisieren, bindet sie in kommunikative Zusammenhänge. Die Menschen nutzen die baulichen Formen seit den Ursprüngen der Architektur zur Speicherung und zur Weitergabe von sozialen Erfahrungen. Mit den Formen werden ihre Inhalte, Assoziationen, Emotionen, Werte usw., die ihnen auf Grund einer sozial-kulturellen Übereinkunft zukommen, ins Bild gesetzt, so dass das Leben in gebauter Umwelt auch eine Existenz inmitten gebauter Aussagen und bewusst vergegenständlichter Ideen ist. Im Prozess der Vermittlung findet teilweise rhetorische Kommunikation statt, d.h., die Nutzer werden zu einem bestimmten Denken, Fühlen oder Verhalten aufgefordert, teilweise werden praktische und ästhetische Impulse geliefert, die umgedeutet und interpretiert werden, letztlich gibt es auch Formaspekte als leere Speicher, denen erst im Gebrauch ein Inhalt zugesprochen wird.

Auffälligkeit und Ausdruckskraft der baulichen Umwelt richten sich nach ihrer konkreten Funktion; gegenüber dem Leben der Menschen sollte Architektur immer Hintergrund bleiben. Sie spricht selten laut, doch sollte sie alles aussagen können, was die Rezipienten im Interesse eines entwickelten Verhältnisses zur Architektur erfahren wollen.

Die kommunikative Funktion der Form macht es notwendig, dass sich Gestaltung an den Möglichkeiten und Gewohnheiten zur Wahrnehmung und Interpretation der baulichen Formen orientiert. Die Fähigkeit der Formen, soziale Erfahrungen zwischen denen zu vermitteln, die mit Architektur umgehen, ist an ihre Fasslichkeit gebunden. Die Verständlichkeit ist deshalb eine Grundfunktion der baulichen Form. Sie ist die Eignung, in einer bestimmten historischen und lokalen Situation einen geistigen Impuls an eine Gruppe von Menschen zu vermitteln. Funktionale Verständlichkeit zu Zwecken der Kommunikation steht im Widerspruch zu elitären Haltungen, denen der Publikumsgeschmack unwichtig ist, sie ist aber auch nicht zu verwechseln mit seichter Eingängigkeit, aus der dem Kitsch seine zweifelhaften Reize erwachsen. Kitsch ist die Gefälligkeit unverbindlicher und aufregender Surrogate. Auch das einfache Bedienen eines kulturell gespaltenen Publikums – der großen Masse, die simple, gängige Ausdrücke zu erwarten scheint und einer intellektuell hoch stehenden, esoterisch gestimmten Elite – kann der Verantwortung sozialistischer Architektur nicht genügen (vgl. die postmoderne „Doppelkodierung“). Sie orientiert dagegen auf die Interstrukturen einer vielfältig vernetzten Formensprache, die in einem gesellschaftlichen Lernprozess zum Kulturgut für alle werden kann.

8. Die Form ist Element einer Formensprache. Die vielfältigen Anforderungen an die Form können nicht lediglich in einem Kompromiss vereint werden, sondern sie müssen einem außerhalb der Kompetenz des einzelnen Architekten befindlichen normativen System – einer Formensprache zugeführt werden; dabei wird diese durch den Gebrauch selbst verändert. Sie besteht aus kombinierfähigen Formelementen und Regelsystemen, die extreme Kreativität zulassen und zugleich eine Verständlichkeit des Ergebnisses sichern.

Die sozialistische Gestaltungstheorie zielt auf das Einfache, doch nicht auf geometrisch, einfache Formen, sondern auf die Einfachheit verständlicher Ausdrücke, die zugleich komplex und vielfältig sind. Das sind typologische Figuren. Gestaltung akkumuliert die Formen mit derjenigen Menge an technischen, praktischen, sozialen, kulturellen, lokalen … Faktoren, die genau dem System der Anforderungen entsprechen. Die objektiven Anlässe bilden die Grundlage für eine differenzierte Formensprache, deren lokale und sozialkulturelle Differenzierung ebenso der Bedingungsstruktur wie auch der Organisation des menschlichen Bewusstseins entsprechen sollten. Eine verständliche und ausdrucksvolle Sprache der Architektur muss funktions-, kontext- adressatenbezogen sein.
Sprache ist an ein dialektisches Verhältnis von Einheit und Vielfalt ihrer Elemente gebunden. Im Gegensatz zum Systemcharakter der Sprache stehen diejenigen Formauffassungen, die entweder die isolierten Elemente und die Vielfalt überbewerten wie auch solche, die nur auf wiederholbare Ordnungen und Zusammenhänge setzen. Erstere folgen dem eklektischen, letztere dem kanonischen Prinzip. Der (Neo) Eklektizismus sammelt heterogene Formen(Merkmale) aus verschiedenen Zeiten und Regionen und verbindet sie zu einer gefälligen (oder schockierenden) Kompilation. Im kanonischen Prinzip wird die Vielfalt durch ein harmonisierendes ästhetisches Dogma getilgt. Zu ihm zählen historisierende wie auch sich „modern“ (z.B. rechtwinklig) gebende Stilüberzüge. Beide Tendenzen vermindern die Ausdrucksfähigkeit der Architektur, sie sind gegen die Entwicklung der Form zur Formensprache gerichtet.

Die ästhetische Kultur sollte im Sozialismus zur Vielfalt in der Einheit tendieren, also zum Pluralismus, nicht aber zu den disparaten Strukturen des Eklektizismus.

9. Der Stil und das Kolorit modifizieren die Formensprache. Die normativen Kodes der Formensprache werden im Stil historisch variiert. Der Stil ist die historisch konkrete Verwendungsweise der Sprache und Ausdruck materieller und ideologischer gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich in einer spezifischen Geschmackskultur verfestigt haben. Wir sollten die Veränderungen in der gesellschaftlichen Psyche anerkennen, doch subjektive Manieren, „Styling“ und Modisches ablehnen, da diese Verfahren den moralischen Verschleiß außerhalb der Produktivkraftentwicklung künstlich beschleunigen. Die profitwirtschaftlichen Pendelbewegungen des Modischen sind dem sich gesellschaftlich verändernden Duktus innerhalb eines ausdrucksfähigen und offenen Sprachsystems, dem Stil, fremd. Das Modische ist ein dem Einzelnen auferlegter Mitteilungszwang, die Sprache dagegen ein gesellschaftliches Angebot zum Ausdruck. Das Modische herrscht über das Individuum, während Sprache und Stil im die Kompetenz zur Aussage stiften.

Das ästhetische Kolorit fügt der Architektursprache neben dem Stil eine weitere Bedeutungsschicht hinzu. In diesen Stilfärbungen kommen die lokalen Besonderheiten, die subjektiven Prägungen durch den Architekten und der Selbstgestaltungswille der Bewohner zum Ausdruck.

Durch den Stil und seine Färbungen wird das Gerüst der Sprache in der Art von Ort und Zeit des Gestaltens ausgefüllt. Stil und Kolorit bilden die konnotativen Kodes der architektonischen Sprache. Deren Bedeutsamkeit macht erklärbar, dass den Entwürfen der sog. „Rationalisten“ wichtige Komponenten der ästhetischen Aussage fehlen. Sie zielen auf die sprachlichen Grundmuster, auf die archetypischen „Hauptwörter“, sie wollen Sprache, aber nicht Stil, am wenigsten die Farbigkeit eines lebendigen sozialen Milieus.

10. Architektonische Typen sind baulich definierte Gestaltinvarianten für die Erfüllung von Raumbedürfnissen, in denen sich langzeitliche und massenhafte Erfahrungen verdichtet haben. Der Typus bezeichnet im Verhältnis zum „Standard“, der ein technischer Terminus ist, ein Kulturprodukt. Er basiert auf einer sensiblen Balance der praktischen, technischen und ästhetischen Anforderungen. Der architektonische Typus ist gegenüber dem Standard flexibel; er enthält eine positive Unschärfe in der Formulierung der konkreten Lösung, zugleich verfestigt der Typus die Breite möglicher Lösungen in bewährten Gestalten. Er vereinigt das Allgemeine einer massenhaften Erfahrung mit dem Einzelnen der raumzeitlichen Situation, das Typische der baulichen Kategorie mit dem Typischen des Ortes.

Wir sollten die gültigen Erfahrungen und bewährten Lösungen achten, wir sind nicht neuerungssüchtig. Die Änderung der Lösung setzt eine Änderung der Anforderung und Umstände voraus. Typologisches Denken hilft, das Wesen einer Bauaufgabe und das Charakteristische einer lokalen Situation zu erkennen – vor allem bei komplexen Anforderungen. Doch das typologische Entwerfen ist nicht der Umgang mit standardisierten Häusern oder Segmenten bzw. mit Wiederverwendungsprojekten. Standardisierungsprozesse sind nur auf der Ebene der technischen Mittel und der technologischen Ordnungen gültig, sie betreffen abgeleitete Aufgaben, während die architektonischen Typen kulturhistorische Grundmodelle für das Verhältnis von Bauwerk und Mensch darstellen.
Typen sind sowohl herstellungs- und nutzertechnologisch als auch ästhetisch sehr ökonomische Gebilde. Die typologischen Figuren sind Grundbausteine der architektonischen Formensprache. Durch ihre synthetische Natur erhalten sie jenes Maß an Dauerhaftigkeit, an Logik und Prägnanz, das sie verständlich macht und Orientierungen gibt. Zugleich gewinnen sie durch ihre Elastizität jene Momente der Innovation und der Anpassungsfähigkeit, die sie interessant und reizvoll machen. Problematisch ist aber die dominant ästhetische Verwendungsweise der Typen, durch die sie in die Nähe einer historischen Verfälschung des Geschichtsbewusstseins geraten können.

11. Konventionen können Innovationen enthalten. Der ästhetische Gebrauch typologischer Figuren und anderer mit historischer Bedeutsamkeit beladener Formen kann zum Historismus führen, er kann aber auch ein Beitrag zur Entwicklung der Formensprache sein, die ihrem Wesen nach nichts anderes ist, als der kreative und geordnete Umgang mit bekannten Formenmerkmalen. Die geistige Vermittlung des Neuen ist an die ästhetischen Erfahrungen der Adressaten gebunden. Neues kann durch Bekanntes ausgedrückt werden, wenn das Hergebrachte durch die gestalterischen Operationen des Modifizierens, Verfremdens usw. in neue Erfahrungsdimensionen gehoben wird und wenn die Zeichen neben der Bedeutung, die sie tragen, durch die Kombination mit ihresgleichen neue Aussagen vermitteln können. Die Fähigkeit von Texten, mehr Aussagen als Elemente zu enthalten, ist eine Voraussetzung für die Existenz einer Formensprache. Doch nicht selten werden historische Formen aus anderen Gründen als dem verwendet, Aneignungshilfen für die Bewohner (oder Touristen) zu sein. Nicht immer ist das Motiv vorherrschend, eine wichtige Erfahrung verständlich auszudrücken. Auch die Verwendung historischer Formen im zeitgenössischen Bauen sollte funktional, nach ihrem Sinn und ihrem Zweck, befragt werden. Dabei ist zu unterscheiden: Das typologische Entwerfen verwendet bewährte Baukörper- und Raumformen auf Grund ihres ungebrochenen Gebrauchs- und Kulturwertes. Das Anliegen der Denkmalpflege ist es, die wertvollen Sachzeugen der Geschichte zu erhalten und in das soziale Leben zu integrieren. Den Kontextualismus motiviert ein großes Harmoniebedürfnis, er versucht, den Neubau an die bauliche Umgebung (den Kontext) anzugleichen. Der Historismus ist bestrebt, mit der Verwendung historischer Formen ideologische Werte der Vergangenheit zu reaktivieren. Der Eklektizismus bedient sich aus dem Fundus der Bauformen aller Zeiten und Regionen nach willkürlichem Belieben. Die Nostalgie setzt auf ein ästhetisiertes Vergangenheitsweh des Publikums, dem sie bei Verachtung der historischen Wahrheit vordergründig gefallen will. Historische Zitate sind Aussagenträger, die teils als Spolien, teils als Kopien oder als freie Interpretationen die überlieferten Motive wiederholen. Sie können unterschiedlich wirken – als historische Verweise für eine Kulturelite, als nostalgisch-kitschige Dekoration oder als experimentelle Erkenntnismittel gegen verkrustete Denkklischees. Einige überlieferte Gestaltungsmittel sind in der Phase des Umbruchs nur verfremdet oder ironisch zu gebrauchen, um die alten Bedeutungen zu verunsichern (z.B. die Säule als Symbol der Macht und des Reichtums).

Geschichtsbewusstsein ist im allgemeinen am besten dadurch zu fördern, dass das wertvolle Alte respektiert wird und das Neue seine eigene Sprache spricht – eine solche aber, die dialogfähig ist mit dem geschichtlichen Kontext.

12. Bauen ist Ortsveränderung. Bauen ist nur scheinbar das Produzieren oder Errichten von Gebäuden, Bauen ist der sinnvolle Eingriff in einen gegebenen Zustand der Umwelt, deren Strukturen durch diese Operation verändert werden. Im Normalfall ist die Baustätte schon eine menschliche Siedlung und das Ergebnis einer jahrhundertlangen Kulturentwicklung, deren Geschichte in den vorhandenen Strukturen, Zeichen und Stoffen aufbewahrt ist und Traditionslinien bildet, in die auch das Neue einzuordnen ist. Bauen ist deshalb das Fortschreiben der Kulturgeschichte des Ortes und veränderten Aneignungsweisen.

Orte entstehen erst durch das menschliche Eingreifen und die Strukturierung des Raumes. Die Architektur definiert den Raum nach dem Charakter der Zivilisation, der sie angehört. Durch das Bauen werden die Orte sozial und ästhetisch präzisiert. Immer begegnen sich am Bau die lokale und die temporale Spezifik – der Geist des Ortes und der Geist der Zeit. Letzterer wird durch viele sozialkulturelle Faktoren spezifiziert, ersterer ist das Substrat der in einer konkreten Kultur abgehobenen Besonderheiten eines Ortes. Diese Besonderheiten resultieren aus geographischen und geschichtlichen Faktoren und den abgeleiteten klimatischen, baustofflichen … sozialen, ethnischen und anderen Bedingungen, doch der „genius loci“ ist der zum Bild verdichtete Kern dieser Eigenarten. Ein Bauen, das sich dem genius loci verpflichtet fühlt, wiederholt nicht die Giebel und Erker der Nachbarschaft, sondern sucht nach dem verborgenen Wesen des Ortes, das auch nicht mit dem oft zum Vorstellungsklischee erstarrten Image verwechselt werden sollte.

13. Das Gestalten ist ein Handeln mit der Natur. Bauen muss in die natürlichen Kreisläufe einbezogen werden und eine Einheit zwischen außermenschlicher und menschlicher Natur herstellen. Das betrifft sowohl den energieökonomischen Aspekt (z.B. passive und aktive Energienutzung) als auch den sozialen Aspekt (z.B. Dach- und Hausgärten) oder das Problem der Wiederverwendung von Bauteilen und Baustoffen bzw. deren Renaturierung (Recycling). Die baustoffliche Basis der Architektur braucht Verwertungsketten für diese Materialien, so dass sie je nach ihrem Verschleißgrad Aufgaben zugeführt werden, die ihre Restnutzungsdauer einlösen.

Bauen ist ein lebendiges Reagieren auf eine lebendige Umwelt, Gebäude brauchen die Regenerations- und Umbaufähigkeit zur Erhöhung ihrer Lebensdauer, ihres Gebrauchs- und ihres Identifikationswertes. Die ökologischen Argumente zielen auf ein stahl- und zementloses Bauen – vor allem im Wohnungsbau. Natürliche und wandlungsfähige Baustoffe haben auch die Fähigkeit, mit Würde zu altern. Sie wirken Tendenzen zu schnellem moralischen Verschleiß entgegen. Eine Ästhetik der Dauer bezieht auch die vielfältigen Spuren des Gebrauchs in ihre Gestaltungskonzeption ein, sie nutzt die sinnlichen Erfahrungswerte mit natürlichen Stoffen und anpassungsfähigen Strukturen. Sie organisiert auch formal das Zusammenspiel von organischen und geometrischen Figuren.

14. Gestaltung braucht eine flexible Fertigung. Die sozialkulturellen Anforderungen und die natürlichen und historischen Bedingungen individualisieren den lokalen Standort derart, dass ihm kein universeller Standard entsprechen kann. Wiederverwendungsprojekte bilden auch unter gesamtökonomischem Aspekt praktizierte Ausnahmen. Die „klassische“ Form der Industrialisierung, die standardisierte Massenproduktion auf der Ebene von großen Einheiten wie Blöcken und Gebäudesegmenten, ist für die Stadt- und Siedlungsentwicklung mit weit reichenden Anforderungen an geographische, soziale, kulturelle und historische Differenzierungen untypisch und nur als historisch begrenzt eingesetzte Technologie zur Überwindung des Wohnungsdefizits zu verstehen.
Bauen setzt eine flexible Produktion voraus, die sich den ändernden Bedingungen mit Produkten anpasst, die weiterhin wandelbar bleiben. Gestaltungsqualität orientiert auf die Entwicklung offener Systeme und begünstigt ökonomische Lösungen auf der Basis frei programmierbarer (Computer gestützter) Fertigung. Dabei ist wichtig, dass die modernen Produktivkräfte nicht nur ästhetisch vorgeführt werden (zum Beispiel in den Hochglanz polierten Hightech-Visionen und dass die automatischen Informationsverarbeitungssysteme nicht lediglich die Bauvorbereitung rationalisieren, sondern die Tiefenstrukturen der Bauprozesse in Richtung höherer Flexibilität durchdringen.
Das Spezifische der baulichen Produktionsweise besteht (im Gegensatz zu anderen Zweigen der Volkswirtschaft) auch darin, neben den modernsten Bauchtechnologien alle technologischen Niveaus – von der einfachsten Handarbeit bis zur Systemsteuerung – als mögliche Techniklösung zu integrieren. Handwerkliche und hochtechnologische Lösungen treffen sich in der der Bauproduktion eigenen Flexibilität und der entsprechenden hohen Organisations- und Entscheidungsdichte, während serielle Produkte der reproduktiven Art Ausnahmen, Zwischenlösungen oder Größenordnungen unterhalb architektonischer Einheiten darstellen. Elemente und Halbfabrikate sind Erzeugnisse, doch Gebäude sind originäre Orte.

15. Gestaltung ist ein Element entwickelter Demokratie. Architektur dient nicht nur dem Leben der Bewohner, sondern muss auch zunehmend mit ihnen und durch sie vollzogen werden. Die Nutzer sind die souveränen Subjekte der architektonischen Praxis, die Architektenschaft ist ihr Anwalt und fachkompetenter Partner, der in diesem Verhältnis die führende Rolle in der Entwicklung der Architektur übernehmen muss. Das setzt den Dialog mit den Nutzern voraus, deren zunehmende intellektuelle und praktische Potenz, auch ihr polytechnisches und musisches Interesse am Bauen gebraucht werden – und zwar vor allem in den Städten und Dörfern (nicht nur in den privaten Zellen der Datschen). Der Architekt sollte die Ansprüche und Möglichkeiten der Nutzer respektieren und qualifizieren, er betrachtet sie als Mündige und macht sie zugleich mündig. Die kulturpädagogische Funktion der Architekten zur Herausbildung einer gültigen Massenkultur ist angesichts der Unsicherheit in den ästhetischen Wertorientierungen außerordentlich wichtig. Nicht zu verwechseln ist diese nutzerfreundliche Gestaltung mit dem bequemen Nachlaufen hinter dem Publikumsgeschmack oder mit dem Überlassen einer unzulänglichen baulichen Umwelt an die nachbessernden Laien.

Der Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens gebauter Umwelt kann nur als umfassender demokratischer Entscheidungsprozess organisiert werden. Insofern ist die Entwicklung der Demokratie eine Prämisse für diese Programmatik sozialistischer Architekturgestaltung. Die unbedingte Stärkung der Stellung des Architekten, im Bauprozess und der ganzen Gesellschaft, die einer Neugeburt seines Berufsethos gleichkommt, ist ebenso wie die kommunale Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden und die Beteiligung der Nutzer an der Planung und praktischen Gestaltung ihrer baulichen Umwelt ein Moment des allgemeinen sozialen und kulturellen Emanzipationsprozesses, in dessen Verlauf das bauliche Ergebnis immer deutlicher und direkter durch die Interessen der Betroffenen bestimmt wird.
Die Form folgt den praktischen und ästhetischen Bedürfnissen und Interessen differenzierter Nutzer(gruppen), die der Architekt aufspürt und die er im gesellschaftlichen Dialog mit ihnen nach der Art der Baustoffe und der Bautechnologie und nach dem Geist des Ortes und der Zeit in die räumliche Artikulation der gebauten Umwelt übersetzt.

Gestalterische Grundwerte der Architektur.
in: Architektur der DDR Berlin, Verlag für Bauwesen 38 (1990) 1. – S. 41-44.

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