Die Revolution ist verraten und verkauft
Nun beschweren sich schon fast alle Berufsgruppen über den Regierungsweg zur deutschen Einheit: die Bauern besonders, aber nicht weniger die privaten Einzelhändler, die sich über die DDR-Zeiten hinweggerettet und nun große Perspektiven erhofft hatten. Ähnlich geht es den Handwerkern, den Künstlern und so weiter; die Arbeiter und Angestellten der meisten Betriebe haben mehr als berechtigte Sorgen, sogar die Feuerwehr und neuerdings auch die Ärzte. Bei so viel Unmut muss doch etwas Prinzipielles nicht stimmen.
Schuldige der Misere
Sind daran nicht einfach der Honecker und seine Garde weiterhin schuld – die sogenannten Altlasten? Wer so denkt, der belügt sich selbst oder hat politische Absichten. Die heutigen Probleme liegen vor allem bei den heutigen Machthabern, besonders bei den Polit-Profis in Bonn. Das wirtschaftliche Chaos war vorauszusehen. Die ökonomischen Beziehungen zwischen den DDR-Betrieben untereinander und zum Handel sind zusammengebrochen. Der vertraglose Zustand im Innern wird durch das Aus des Osthandels ergänzt. Vom Westen kommen nur Produkte und wenig Investitionen – dort Aufschwung, hier Niedergang. In der Manier der alten Gesundbeter fällt den neuen Machthabern nichts anderes ein, als die Aussicht auf eine rosige Zukunft in den grauen Himmel zu malen und ihre Kritiker als Panikmacher zu diffamieren.
Manche der DM-Geschädigten beginnen sich schon nach den alten „gesicherten“ Zeiten zurückzusehnen. Das ist genau so naiv, wie der unkritische Hilfeblick nach dem „goldenen“ Westen, der, wie sich immer mehr heraus stellt, vor allem seine eigenen Interessen kennt. In einer solchen Situation wird nach den Schuldigen der Misere Ausschau gehalten, und die alten Bürokraten, Direktoren und Vorgesetzten geraten zuerst in das Blickfeld. Ich will beileibe nicht die aalglatten Aufsteigertypen verteidigen, die sich in alle Systeme einschleichen, auch nicht die zum Denken unfähigen Befehlsempfänger, oder die umgepolten Wendehälse. Doch weiß ich, dass sich diese Leute vor allem nach den Bedingungen verhalten, die sie vorfinden und, dass deshalb die politischen Rahmenbedingungen, die in Berlin, vor allem aber in Bonn geschaffen worden sind, für die wirtschaftliche und soziale Situation zuerst verantwortlich sind.
Bild: (Geld statt Kommunikation: das älteste Café in Weimar)
Falscher Weg zur Einheit
Die Schuldigen für Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind diejenigen, die uns nicht die Zeit geben wollten, uns auf die neuen Bedingungen einzustellen. Als Anmerkung muss gesagt werden, dass die „versteckte“ Arbeitslosigkeit, d.h. das Herumgammeln von Arbeitern und Angestellten am sicheren Arbeitsplatz, betriebswirtschaftlich uneffektiv war, während die „offene“ Arbeitslosigkeit volkswirtschaftlich uneffektiv ist. Dabei ist die letztere sozial und psychologisch problematischer als die erstere.
Jedenfalls sollte und konnte der Übergang zur Marktwirtschaft bei laufenden Motoren vor allem deshalb nicht glücken, weil die internationalen Investoren so lange abwarten, bis die ohnehin dem freien Markt nicht gewachsenen DDR-Betriebe völlig heruntergewirtschaftet und billig gemacht worden sind. Die meisten von ihnen bekamen keine Chance zum sinnvollen Übergang. Außerdem hatten die Machthaber in Bonn die Sorge, dass die notwendige Zeit zur Umstellung auch dafür genutzt werden könnte, etwas DDR-Eigenes in den Einigungsprozess einzubringen. Das Tempo der Vereinigung war ein politisches Mittel, um DDR-Spezifisches möglichst radikal auszulöschen. Diesem Ziel sind die Wirtschaft und die Landwirtschaft, sind die Arbeitslosen zum Opfer gefallen.
So dient dieser Weg zur deutschen Einheit wieder mal nur den Oberen und Wohlhabenden, während der kleine Mann und seine Frau grob benachteiligt werden – drüben absehbar durch höhere Steuern, hier vor allem durch soziale Unsicherheit. Dabei soll an dieser Stelle offen bleiben, inwieweit der erreichte Zustand absichtsvoll oder dilettantisch entstanden ist.
Vergebene Chance eines dritten Weges
Doch nicht nur der Weg zur Einheit ist falsch, sondern auch das inhaltliche Ziel, d.h. der angestrebte Charakter des vereinigten Deutschlands. Um dieses Ziel zu bestimmen und konkret auszuformen, hätte das in vierzig Jahren Gewordene genau und sensibel nach dem Bewahrenswerten befragt werden müssen, zweitens hätten die beachtlichen Qualitäten des bundesdeutschen Systems und drittens die Anforderungen, die aus der Zukunft erwachsen, klar definiert werden müssen. Weder das eine noch das andere oder das dritte aber ist getan worden. Aufgrund vieler negativer Erfahrungen aus der Vergangenheit meinen manche, dass es aus der DDR überhaupt nichts hinüber zu retten gäbe, während andere Betroffene in der Noch-DDR, aber auch aufmerksame Beobachter im Westen auch anerkennen, dass es bei uns nicht nur Grundlegendes zu verändern, sondern auch zu erhalten gäbe, dass manches sich geloht hätte, auf ganz Deutschland übertragen zu werden. Das betrifft nicht nur SERO, Kindergärten, Polikliniken, das einheitliche Sozialversicherungssystem, die Abwesenheit von Konsumprogaganda und dergleichen, sondern auch das solidarische Grundgefühl, das zwar oft genug verkitscht wurde, nun aber durch das große Geld und das Geschäftemachen allzu massiv und abrupt gestört wird. Das viele, das bei uns verändert werden musste, hätte anders verändert werden müssen. Die Kohl’sche Gangart wird mit Sicherheit Polarisation, Gewalt und eine neue Frustration nach sich ziehen.
Eine differenzierte Betrachtung unserer Vergangenheit ist kein Plädoyer für den SED-Staat, der sich selbst abgewirtschaftet hat, kommt aber dem zu Gute, was manchmal „dritter Weg“ genannt wird und zu Unrecht vorschnell abgekanzelt worden ist. Unter dem „dritten Weg“ hat niemand die einfache Mischung unverträglicher Elemente verstanden, deshalb ist das Gleichnis von Feuer und Wasser, die nicht
zusammenpassen, völlig unzutreffend. Auch ist er nicht ein Pfad, auf dem man wandernd die Rosinen auf beiden Seiten herauslesen könnte.
Der „dritte Weg“ wäre aber der geradlinigste Kurs in die Zukunft gewesen, wenn er den ökologischen Umbau der Gesellschaft unter Berücksichtigung der DDR-Besonderheiten und marktwirtschaftlicher Effizienz angezeigt hätte. Er wäre nicht das unwägbare Experiment gewesen, sondern die sichere Orientierung auf das neue Jahrzehnt. Er hätte zur Vollendung der Revolution geführt, während die schnelle Orientierung auf die veränderungswürdige Konsumgesellschaft im Westen der riskante und auch teure Umweg ist – noch dazu ein stümperhaft betriebener. Die wirkliche Revolution hätte die ökologische Orientierung auf die Zukunft erfordert, sowie die beachtliche Reduktion und Kontrolle von Macht, nicht bloß ihren Austausch.
Import westdeutscher und Erhalt alter Strukturen
Nun ist es anders gekommen. Wer sich darüber beschwert, dass die alten Bürokraten immer noch an ihren Sesseln kleben oder nur ausgetauscht sind, der soll sich bei den Parteien, Behörden und Firmen im Westen beschweren, die allzu schnell bereit waren, sich mit den alten Parteien und verbrauchten Leuten (sogar mit Stasi-Vergangenheit) zu arrangieren. Diese sollten die Garanten für eine gewisse
Stabilität sein und konnten ortsspezifische Erfahrungen einbringen; beides war wichtig, um den Absatz der westdeutschen Produkte zu sichern. Es war vorauszusehen, dass die Bundesregierung neben der Installation von Strukturen zur Vermarktung ihrer Produktionsüberschüsse hauptsächlich am politischen Sieg über die SED interessiert war. Das musste andere Aspekte, die auf einen viel
tieferen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse zielten, zweitrangig, völlig nebensächlich oder gar unerwünscht werden lassen. Der Übergang von der SED zur CDU/CSU war eben trotz aller Polemik der politischen Gegner ein ziemlich oberflächlicher, weil nach wie vor wirtschaftlich auf Wachstum und politisch auf Macht gesetzt wird. Der Wandel, der durch die ökologisch geprägte Bürgerbewegung angestrebt worden ist, wäre grundlegender und zugleich behutsamer gewesen.
Bild: irgendwo in der DDR 1990 – nur mehr Fassade für den Denkmalschutz?
Deshalb ist manchermanns Hoffnung, unsere Probleme würden sich lösen und bundesdeutscher Wohlstand würde sich einstellen, wenn wir noch schneller alle bundesdeutschen Verhältnisse annähmen, uns von dort regieren ließen oder westdeutsche Politiker importierten, mit großer Wahrscheinlichkeit eine weitere Quelle tragischer Enttäuschungen – jedenfalls, wenn mit „Import“ diejenigen Politiker gemeint sind, die zur Zeit das Sagen haben. Diese “Experten“ der Wirtschaft haben uns erst in das Schlamassel hinein geritten, aus dem zu retten sie uns nun versprechen.
Abbruch des Demokratisierungsprozesses
In ähnlicher Weise, wie der wirtschaftliche Umbau nun zur Wegwerfgesellschaft, statt zur ökologischen Produktions- und Lebensweise tendiert, ist auch die Demokratisierung der Gesellschaft steckengeblieben bzw. verbogen worden. Das SED-Blockparteienmonopol ist glücklicherweise abgeschafft, aber es ist durch eine solche Art von Demokratie ersetzt worden, die ebenfalls viel an Macht, an Demagogie, Manipulation und Tricks enthält. Bestechung und Korruption blühen
heute wie eh und je, nur gelten sie nun als weniger unmoralisch. Wie sich herumgesprochen hat, werden Kaufhausdirektoren und Gastwirte nach durchaus marktwirtschaftlichen Regeln gekauft und genötigt, dass die Schwarte kracht. Politisch ist der Bürger zwar stimmberechtigt, wird aber nicht für mündig gehalten und nicht mündig gemacht.
Bild: Der Autor, Dr. Olaf Weber (hier beim Antikriegstag 1990 in Weimar) ist Architekt.
Die Bürgerbewegungen sind durch die politischen Strukturen der BRD nieder gewalzt worden, das Wahlverfahren wird manipuliert, die Parteien werben wie Waschmittelhersteller. Die Schlammschlachten des Wahlkampfes werden uns bald wieder daran erinnern. Meinungsfreiheit und Demokratie sind große Worte, die Wirklichkeit wird, Gott sei Dank, nicht mehr durch die Stasi, wohl aber mit
verfeinerten Mitteln, vor allem mit Geld, aus dem Hintergrund regiert. Im unwissend gehaltenen, aber umworbenen Bürger treffen sich die Machtpolitiker alten und neuen Schlages. Die „Revolution“, wie wir mal die Wende genannt haben, ist durch die neuen Konservativen nicht vollendet, sondern karikiert worden, und die entstandene Karikatur ist nicht mal komisch.
Olaf Weber
Pfalzforum Nr. 3 Zeitschrift für Frieden, Demokratie und Umwelt 1990