Gewinn der Mitte? Tendenzen eines Wettbewerbes (1990)

Der Ideenwettbewerb für das Stadtzentrum von Leipzig hatte 1988 eine überraschende Vielfalt von Baustilen aufgezeigt, die fehlende öffentliche Reflexion war aber ein Anzeichen der Lähmung des baupolitischen Apparates. Die Analyse des Wettbewerbes wurde von den politischen Ereignissen des Jahres 1989 überholt.

Olaf Weber/Gerd Zimmermann
Gewinn der Mitte?
Tendenzen eines Wettbewerbs

Ideenwettbewerbe liefern nicht nur konkrete Gestaltungsvorschläge für konkrete Orte. Sie spiegeln immer auch grundsätzliche Architekturauffassungen, Strömungen und Tendenzen und sie reflektieren in der Sprache der Architektur Status und Perspektiven einer Gesellschaft.

Manche Wettbewerbe wurden, in geschichtlichen Augenblicken, zu Wendepunkten der Architekturentwicklung, z. B. der Wettbewerb für den Sowjetpalast in Moskau 1933.
Solches Maß an Ausstrahlung, von den Inhalten nicht zu reden, konnte der 1988 stattgefundene Ideenwettbewerb für das Stadtzentrum der Messemetropole Leipzig wohl nicht gewinnen. Im Klima der baupolitischen Stagnation und der hochgradigen öffentlichen Sprachlosigkeit wurden die Ergebnisse völlig unzureichend publiziert, also auch kaum öffentlich diskutiert, weder in der Fachöffentlichkeit der Architekten, noch hinreichend in der Stadtöffentlichkeit der Leipziger Bürger. Dies muss nun nachgeholt werden.

Der Wettbewerb für das Leipziger Zentrum gibt durch den Rang des Ortes und der Aufgabe, durch seine prognostische Orientierung und die Vielfalt der 28 Beiträge einen wichtigen Einblick in das architektonische Denken in der DDR – dort, wo die Ideen ausnahmsweise von den sonst engen technologischen Restriktionen entfesselt sind. Der Fächer der Wettbewerbsarbeiten lässt im Vergleich einerseits die Vielfalt und Heterogenität der Autorenhandschriften ablesen – die subjektiv geprägte Deutung und Idee bis hin zum Spektakulären, andererseits jene stillschweigenden Übereinkünfte zur Architektur, in denen sich der allgemeine Zeitgeist spiegelt.

Für den Wettbewerb Leipzig ist die Umbruchsituation augenscheinlich. Manche Entwürfe berufen sich noch auf urbanistische Prinzipien der 60er Jahre, andere suchen nach Alternativen, denen neue Ansätze zur Lösung verkehrstechnischer, ökologischer, sozialer und ästhetischer Fragen zugrunde liegen. Die Vielfalt der Angebote ist nicht nur ein Ausdruck der architektonischen Phantasie ihrer Verfasser, sondern auch ein Indiz für fehlende Beurteilungskriterien, für unklare Leit- und Zielvorstellungen.

Die heterogenen Ergebnisse des Wettbewerbs rufen deshalb dazu auf, über die städtebauliche Ideen für das Stadtzentrum von Leipzig hinaus wissenschaftliche Analysen und fachkompetente Grundsatzdiskussionen über die Entwicklung von Städtebau und Architektur in der DDR mit dem Ziel durchzuführen, ihre objektiven Grundlagen auf ein höheres Niveau zu heben und damit künftig mehr Sicherheit bei der Beurteilung schöpferischer Angebote zu gewinnen.

Der groß angelegte Wettbewerb vermittelt eine Vision. Er umreißt, was Leipzigs Stadtmitte sein könnte, welche Architekturen uns vorschweben. Das heißt, in den Bebauungsvorschlägen steckt utopisches Potential, geeignet Denken und Handeln für das Ziel der Stadtentwicklung zu mobilisieren.
Andererseits ist die Kluft schärfer kaum denkbar zwischen dem schönen Bild, das der Wettbewerb vom künftigen Leipziger Zentrum entwirft und der heute vom baulichen Verfall gezeichneten Stadt, vor allem in den Wohnquartieren der Peripherie. Pflegen also die Wettbewerbsentwürfe nur wieder Illusionen, ersonnen von Architekten in Elfenbeintürmen?

Diese Alternative ist, obgleich schnell bei der Hand doch falsch gestellt, denn wir brauchen beides, Vision und die Realisation. Das Beispiel Leipzig zeigt, dass auch in der Architektur Idee und Wirklichkeit, das Wünschbare und das Machbare nur sinnvoll zusammenfinden können, wenn die Belange der Stadt, der Architektur überhaupt, öffentlich und demokratisch, d. h. in einen kreativen geistigen Klima verhandelt werden.

MESSEMETROPOLE: DAS URBANE MILIEU

Wettbewerbsausschreibung und Beiträge zielen auf einen bestimmten Stadtcharakter, ein bestimmtes Bild der Metropole. Welche sind die Grundzüge und Ziele dieser Konzeption des Großstadtzentrums?
Das Zentrum von Leipzig wird als Ort hoher Bedeutsamkeit begriffen, als Ort der Messe und des internationalen Publikums, als Mitte und historischer Ursprung der Gesamtstadt, als Universitätsstadt, Stadt der Verlage, der Industrie, Wirkungsstätte berühmter Persönlichkeiten mit Bauwerken von hohem kulturgeschichtlichen Wert.

Der Status quo des Zentrums kann als Fragment eines historisch gewachsenen, dichten urbanen Gefüges beschrieben werden. Viele der durch Kriegszerstörungen gerissenen großen Lücken sind bis heute unbebaut geblieben oder mit Provisorien versehen. Die überall aufragende Brandwand ist das Symbol der noch ruinösen Stadtgestalt. Die Summe der Defekte führt zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung von Stadtraum und Gestalt und zu einem ökonomisch, sozial und kulturell unvertretbaren Verlust an Nutzungsintensität und Urbanität.

In Verarbeitung dieser Konflikte lautet die einhellige Aussage des Wettbewerbes, sowohl der Ausschreibung als auch fast aller Beiträge: Schließung der Lücken, Verdichtung des Stadtraumes, Harmonisierung der Stadtgestalt in der Dialektik von Tradition und Innovation und Schaffung einer hohen Nutzungsintensität im Dienste der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Die generelle Botschaft des Leipzig-Wettbewerbs ist der Wert der Urbanität.
Sie kann in folgenden Faktoren gesehen werden.

– Komplexität und Integration
Die gesellschaftlichen Lebensmomente treten im Herzen der Stadt nicht bloß partiell und isoliert auf, sondern im Zustand der Fülle und Integration. Das gesellschaftliche Leben hat im Stadtzentrum durch die Simultanität und Verdichtung, also auch durch Beschleunigung seiner wesentlichen Komponenten einen Höhepunkt. Die Überlagerung und Vernetzung der Prozesse, die ihren Niederschlag in einer entsprechend komplizierten Raumstruktur finden muss, erzeugt den hohen Anregungswert der urbanen Umwelt. Außerdem ist wichtig, im komplex integrierten Gefüge des Stadtzentrums jenen Lebensraum zu erkennen, der höchste soziale und kulturelle Flexibilität gewährt (Wechsel der Sozialbeziehung, Wahl der Kommunikationspartner, Pluralität der Lebensstile).

– Öffentlichkeit und Kommunikation
Die Wettbewerbsausschreibungen definiert das Zentrum primär als Ort der Öffentlichkeit. Vorgesehen sind Einrichtungen der öffentlichen Kommunikation, des Handels, der Freizeit und der Dienstleistungen. Das Wohnen hat im Zentrum eine untergeordnete Bedeutung.
In allen Wettbewerbsbeiträgen wird das Zentrum als Ort des Fußgängers begriffen. Im Mittelpunkt steht nicht das Auto, sondern der flanierende und geschäftige Mensch. Die Maßstäbe des Raumes werden seinem Rhythmus angemessen.

Auf die unkomplizierte, schnelle Aneignung des Zentrums durch eine breite Öffentlichkeit zielt ebenfalls die wichtige Konzeption des Massenverkehrsmittels U-Bahn, das in den Wettbewerbsarbeiten vorgesehen ist. Die U-Bahn (Untergrund- oder Unterpflasterbahn) sollte das Stadtzentrum nicht an der Peripherie tangieren, sondern es mittig erschließen. Entscheidend ist die Flüssigkeit der Erlebnisfolge: der aus dem Untergrund auftauchende Stadtnutzer wird sofort vom pulsierenden Leben des Zentrums eingefangen.

– Repräsentation und Stadtkultur
Der Raum des Zentrums sollte das Areal der Stadt sein, in dem die stadt-bildenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einrichtungen präsent oder angemessen repräsentiert sind. In diesem Sinne ist das Großstadtzentrum Symbol der Gesamtstadt und image-prägender Ort der städtischen Selbstdarstellung. So ist es z. B. für Leipzig besonders wichtig, die Messefunktion, wie historisch in einmaliger Weise vorgeprägt, auch zukünftig im Zentrum weiter zu entwickeln.
Das Wettbewerbsprogramm geht richtig davon aus, das Ensemble der Institutionen im Zentrum zu komplettieren: Kinozentrum für die Dokumentarfilmwoche, Verlagshaus, Presse- und Kongreßzentrum, Markthalle, Hotels usw.

Die notwendige Informationsdichte und Wahrnehmungsdynamik in der City prägt die Sinnlichkeit des Großstädters und legt so den Grund für den Anspruch an eine verfeinerte ästhetische Kultur des Stadtzentrums. Die Zielvorstellung richtet sich nicht nur auf einzelne Bauten, sondern auf den ganzheitlichen Erlebnisraum der Stadtmitte (Straßen, Plätze, Verkehrsmittel usw.).
Geschäftigkeit und Ruhe, Austausch von Waren und Informationen, Reizaufnahme und Versenkung, hastiges Fortkommen und bummelndes Beschauen sind die Kontraste, denen die Großstadtzentren ihre Vitalität verdanken. Gestalterische Maßnahmen sollten vor allem diese Widersprüche visualisieren und ihnen einen hoch entwickelten zeitgenössischen Habitus geben. Großstadtzentren sollten die neusten Geschmackskulturen repräsentieren – auch unter den Voraussetzungen einer Stadtkultur, die nicht den Wechsel der Moden aus wirtschaftlichen Gründen forciert.

STADTRAUM – TENDENZEN

Die beherrschende Tendenz des Wettbewerbs im Umgang mit dem Stadtraum ist die baulich-räumliche Verdichtung des Zentrums.

Das heißt
– einerseits Erhöhung der Nutzungsintensität (Zielfunktion Urbanität) in Erkenntnis von Bodenwert und Bedeutung der Stadtmitte, und
– andererseits strenge Definition prägnanter Räume. Die Fragmente werden durch Lückenschließung derart komplettiert, dass sie utilitäre und ästhetische Ganzheiten bilden, deren zeitgemäßer Charakter in wesentlichen Zügen vom historischen Werdegang des betreffenden städtischen Elements bestimmt wird. Ausgehend von der vorgefundenen Typik der Stadtgestalt werden die tradierten Raumformen Straße, Passage, Hof, Platz und Quartier aufgegriffen, die Gestalt des Zentrums gewinnt Geschlossenheit und Prägnanz zurück.

In der überwiegenden Zahl der Entwürfe ist die Struktur des historischen Zentrums (vor der Kriegszerstörung 1943) Ausgangspunkt der Gestaltfindung und Raumbildung.
Nach der Haltung gegenüber dem Kontext können wir in den Wettbewerbsbeiträgen verschiedene Auffassungen unterscheiden:

1. der historistische Typ
Das historische Stadtgefüge erscheint als das zu rekonstruierende Ideal, Zielstellungen sind Stadtreparatur und Wiederaufbau, eng an das historische Muster angelehnt, der Denkmalpflege verwandt.

2. der modernistische Typ
Das bestehende Alte wird respektiert oder auch nur geduldet, liefert jedoch nicht die Gestaltbilder für die Neubebauung. Die Leitlinien der Neuplanung entspringen vielmehr den neuen heutigen und zukünftigen Funktionsanforderungen an eine moderne Messemetropole von internationalem Rang. Diese Interpretation findet in ihren Niederschlag in radikal neuen Raumgefügen, die sich als Antithese vom Bestehenden abheben.

3. der postmoderne Typ
Der Ansatz ist pluralistisch und synthetisch. Das Ganze des Raumgefüges bildet sich durch die Wechselseitige Transformation und Übersetzung vielfältiger Elemente. Das historische Erbe wird akzeptiert und mittels der typologischen Methode in mehreren Stufen in die Neuplanung übersetzt. So entsteht ein vielschichtiges Kontinuum zwischen Alt und Neu (Zitate, Collagen, Durchdringungen usw.). Es gibt Heterogenität und Übergänge, also Mannigfaltigkeit und Ganzheit.
Die Wettbewerbsergebnisse zeigen, dass keine der drei Architekturauffassungen allein die Fülle der Aufgaben im Leipziger Stadtzentrum befriedigend lösen kann. Weder das bloße Nachempfinden historischer Raumfolgen noch die zweckrationale Bauform oder das Spiel mit historisierenden Metamorphosen sind allein oder in einfacher Mischung geeignet, der Komplexität der Aufgaben und der Vielfalt der Raumcharaktere zu genügen.

In der Raumbildung lässt sich allerdings eindeutig feststellen, dass das „offene Städtebaukonzept der 60er und 70er Jahre“ vollkommen revidiert wird, der „offene Raum“ wird geschlossen, das Konzept des „fließenden Raumes“ abgelöst durch das Konzept des hierarchisch gegliederten Raumes.

Der Wandel wird auch sichtbar im Umgang mit den baulichen Zeugen der 60er und 70er Jahre im Stadtzentrum. Die fragmentarische und zerklüftete Stadtgestalt, die nach den Kriegszerstörungen durch die modernistische Stadtplanung der 60er Jahre noch weiter zerfiel, soll nun durch verschiedene Maßnahmen harmonisiert werden:

– „Überbauung“ der großen freien Plätze (Sachsenplatz) und Freiflächen (vor der Thomaskirche, am Hallischen Tor, Burgplatz), die zum großen Teil ohnehin nur als provisorische „Verschönerung“ der im Krieg zerstörten Zentrumsflächen angesehen werden können. Der Sachsenplatz wird, obwohl in der Ausschreibung nicht gefordert, von allen Wettbewerbsteilnehmern bebaut.

– „Rückbau“, d. h. Abriss solcher Bauten der 60er und 70er Jahre, die so problematisch sind, dass sie sich kaum in das neue Raumgefüge des Zentrums integrieren lassen. In wenigen Wettbewerbsbeiträgen wird daher der Abriss des Informationszentrums am Brühl oder des Interpelzgebäudes vorgeschlagen.

– „Umbau“, also Integration der Bauten in einen neu definierten Kontext, z. B. Umbau des Zentralmesseamtes am Markt nach Maßgabe der neuen Quartierschließung, z. B. Einbauten zwischen den Hochhausscheiben am Brühl im Sinne der Raumbegrenzung bzw. -schließung.

Die Wettbewerbsergebnisse beweisen den gewachsenen Sinn für einmalige Raumformen und die Individualität und Typik des Ortes.

Der Geist des Ortes, das Unverwechselbare von Leipzig, soll behütet und bekräftigt werden. Diese auf das Originäre gerichtete Entwurfsphilosophie zeigt sich in zwei Fällen besonders deutlich: bei dem Typus des Messehauses und dem der Passage.

Beide Bauformen sind in der DDR einmalig und für das Zentrum von Leipzig stadtbildprägend. Beide Bauformen entstanden im historischen Prozess der Stadtentwicklung aus der Verbindung von Messefunktion und Stadtöffentlichkeit. Diese Verzahnung von Messefunktion und Stadtöffentlichkeit ist die eigentliche Besonderheit der Leipziger Stadtmitte und muss vor allem angesichts der internationalen Bedeutung der Messe weiter entwickelt werden!

Das Messehaus ist durch die Ausschreibung zurecht in dem Mittelpunkt des Wettbewerbs gerückt.
Die glasüberdachte Passage wird in allen Wettbewerbsarbeiten und umfangreich als Element des Stadtraumes kultiviert. Die Wettbewerbsteilnehmer plädieren für Erhalt und Pflege der vorhandenen Passagen ebenso wie für die Entwicklung des Typus` der Passagen bei der Erweiterung des vorhandenen Passagensystems durch Neubauten. Das Formenspektrum vom einfachen Durchgang bis zur repräsentativen „Galleria“ wird genutzt, in Kombination mit Lichthöfen.

Dabei wird erkannt, dass Passagen und Lichthöfe ein urbanes „Innenraumsystem“ bilden, das die städtebaulichen Freiräume Straße und Platz im Inneren des Baumassives erweitert und ergänzt bzw. als überdachter Straßenraum in Erscheinung tritt.

Es stellt sich heraus, dass die soziale Funktion der Passage (wie der gesamten City) neu definiert werden muss. Passagen sollten weniger Orte des Warenumschlages als der Kultur sein, das Kaufen sollte aus seiner imageprägenden Rolle verdrängt und durch Freizeitfunktionen überformt werden – wobei natürlich die Attribute der Messe beide Komponenten beeinflussen.
Die Geschlossenheit dieses überdeckten Bauwerks „Passage“ fördert das generell für die Architekturgestalt hohen Rang besitzende soziale Bedürfnis nach Identifikation, Geborgenheit und Schutz und scheint einer der Gründe für das wieder gewonnene Interesse am Bautyp der Passage auch in den Wettbewerbsbeiträgen zu sein.

FORMENSPRACHE – TENDENZEN

Das Spektrum der Wettbewerbsbeiträge zeigt das in unserem Architekturschaffen erreichte Maß an Vielfalt der Architekturauffassungen und Autorenhandschriften. Die Beiträge sind nicht nur Variationen einer allgemeingültigen Architekturdoktrin, sondern es werden mehrere grundverschiedene Ansätze bzw. Konzepte erkennbar. Diese Konzepte stehen in einer mehr oder minder deutlichen Beziehung zu zeitgenössischen Strömungen in der internationalen Architektur. Nicht immer werden die dort gesammelten Erfahrungen den Leipziger Bedingungen gegenüber adäquat angewandt. Oftmals bleiben die Übernahmen oberflächlich und formalistisch – wohl meist aus mangelnder Übung und fehlender öffentlicher Auseinandersetzung innerhalb der Architektenschaft der DDR.

In der Wahl der Gestaltungsmittel und dem Gestus der Formensprache ragen folgende Tendenzen heraus:

1. Monumentalität
In mehreren Entwürfen werden betont Monumentalordnungen vorgeschlagen (hierarchische Gliederung, „Gravitationsarchitektur“, Massivität), die der Architektur Prägnanz und Expressivität verleihen, mitunter aber in Gigantismus und Vergröberung entgleiten. Es wird eine Vorliebe für das Klassische sichtbar. Es kann vermutet werden, dass dieser erkennbare Hang zum Monumentalen dem Bestreben entspringt, den Maßstab der Großstadt zu treffen, sich dem machtvoll repräsentativen Ausdruck von Zentrumsbauten (Hauptbahnhof, Neues Rathaus u. a.) anzulehnen und zugleich mit den Mitteln der Architektur ein allgemeines Gefühl von Prosperität zu vermitteln. Die Monumentalität erscheint in einer historischen und einer modernistischen Variante. Erstere spricht eine neo-klassizistische Formensprache, letztere eine streng rationalistische.

2. Transparenz
Hervorstechend in der überwiegenden Zahl der Entwürfe ist der extensive Gebrauch transparenter Verglasungen. Sie dienen einerseits der intensiven Durchlichtung der öffentlichen Innenräume durch Passagen, Lichthöfe und Oberlichter. Das Milieu ist entsprechend nicht bedrückend-finster, sondern freundlich gelöst, z. T. steht diese Atmosphäre der Lichtspiele und Reflexionen absichtlich kontrapunktisch gegen die Schwere von Stein und Beton.

Zum anderen erzeugt die Transparenz ein optisches Kontinuum des öffentlichen Raumes: vielfältige Einblicke zwischen Innen und Außen, Ladenstraßen, hoch reichende Verglasung über mehrere Geschosse usw. Die Öffentlichkeit des Stadtraumes bedingt die Transparenz der Wand.
Letztlich dient der exzessive Einsatz von Glas auch dem Ausdruck von Modernität. Das Spiegelnde des Glases ist eine virulente Erscheinung des Zeitgeistes und einer der Höhepunkte der Maschinenästhetik.

3. Ausdrucksstärke
Die subjektive Erwartungshaltung nach hoher Informationsdichte in der Mitte der Stadt wird seitens der Gestalt in einigen, bemerkenswerten Entwürfen durch Formenreichtum, Reizfülle und Detailfreudigkeit beantwortet. Dieses Streben nach gestalterischer Intensität verbindet sich dann mit einem hohen Grad an Originalität und Formphantasie. Zwei Entwürfe zeigen unseres Erachtens diese Qualität besonders deutlich: Der Messehausentwurf im Beitrag der HAB Weimar (Arbeit Nr. 17) und die Entwürfe der Autoren Ambrus, Krause, Schinko, Zsoldos (Arbeit Nr. 13), hier besonders vor der Thomaskirche und Leuschner Platz.

Die Architektur strebt nach kunstvoller Ausdrucksteigerung, Elemente der Bildenden Kunst (menschliche Figur) werden gelegentlich in die Tektonik der Architektur integriert. Hier stehen historische Muster Modell (Hermen, Karyatiden), dennoch hat das Verfahren Originalität.
Das positive Ausdrucksverhalten der gelungensten Entwürfe ist vielleicht dadurch zu benennen, dass die Architektur unabhängig von den eingesetzten Gestaltungsmitteln an Charakter, Individualität und Gestus gewonnen hat. Sie will nicht mehr im Hintergrund verschwinden und entwickelt deshalb in unterschiedlichsten Formensprachen einen neuen Habitus. Dagegen bleiben die traditionellen (historisierenden oder modernistischen) Konzeptionen im allgemeinen ohne selbstbewußte Haltung.

4. Geschichtlichkeit
Der Bezug zum innenstädtischen Kontext wird in allen Beiträgen gesucht, aber die Beziehungsdichte zum „Geist des Ortes“ und zur Geschichtlichkeit der Stadt ist sehr unterschiedlich. Manche Beiträge begnügen sich mit der Harmonisierung des Neuen mit dem Alten, andere wollen mehr: Dialog, Assoziationen, Metamorphose. Die historischen Elemente der Architektur durchdringen mit unterschiedlicher Tiefe und Stärke die Entwürfe. Einerseits findet man Geschichtliches in den konkreten Formen wieder, in Details, Dekorationen, in Motiven und Bauteilen (z. B. Säule, Bogen, Tympanon), andererseits in abstrakten Gestaltungsprinzipien (z. B. dem symmetrischen Prinzip, den tradierten Proportionen, der Maßstäblichkeit).

Letztlich ist Historisches in typologischen Gestalten aufbewahrt, die als bewährte Muster die Zeiten überdauert haben (z. B. Typ des Messehauses, der Passage). Der Geist des Ortes kann auf allen drei Ebenen zum Ausdruck kommen – gefährdet sind aber vor allem die historischen Anleihen auf der Ebene der realen Formen, weil sie leicht zum platten Historismus führen.

Kritisch muss festgestellt werden, dass mehrere Beiträge einen ausgeprägten Eklektizismus praktizieren. Modernismus und Historismus, bei dem klassizistische Motive dominieren, stehen auf z. T. groteske Weise nebeneinander. Es fehlt an kreativer Kraft zur Synthese und an einem Sinnzusammenhang, der in der Lage wäre, die geschichtlichen und die modernen Elemente in Einklang zu bringen.

Die historischen Momente fügen sich dort am besten in den Kontext ein, wo sie durch eine kreative Tat auf aktuelle Bedürfnisse und auf den Zeitgeist hin verwandelt wurden. Allerdings widerspricht manchmal der Drang, das Formenrepertoire der Weltarchitektur auszuschöpfen, der Notwendigkeit, Leipzig-Typisches weiterzuentwickeln (z. B. Bauten im Stil der italienischen Palazzi).
In der Gesamtheit der Arbeiten überwiegt allerdings eine Tendenz zur Weiterentwicklung des modernen Formenvokabulars, das durch spielerische Modifikation „late-modern“ wird oder durch urbane Großformen und geometrische Ergänzungen versucht, die strenge puristische Sprache unserer Bautechnologie in den Stil des modernen Rationalismus überzuleiten (Arbeit Nr. 10, Kollektiv des ISA der Bauakademie und Arbeit Nr. 21 von den Autoren Dölle, Mitzon, Jasinski, Alvarez, B. Hammer, Th. Hammer). Die Tore, Türme und andere Besonderheiten bleiben dann aber meist hohle Phrasen an gigantomanen Baukörpern.

Der Wettbewerb zum Leipziger Stadtzentrum war ein typischer Ideenwettbewerb, der keine fertigen Lösungen anstrebte, aber eine Reihe guter Anregungen und Ideen hervorgebracht hat, die sich allerdings in wenigen Beiträgen konzentrierten. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich und spiegeln das Fehlen einer öffentlichen Auseinandersetzung um Grundfragen der Architektur- und Städtebauentwicklung in unserem Land wieder. Es fehlen vor allem integrative Kenntnisse über die internationale Architekturentwicklung, die über ein Bildwissen aus Zeitschriften hinausgehen, es fehlt ein tief ausgeloteter Konsens über die baupolitischen Ziele und es fehlt eine Kultur der (nicht nur theoretischen) Auseinandersetzung innerhalb des Pluralismus subjektiver Angebote.
Der Wettbewerb zum Stadtzentrum Leipzig ist auch als Ganzes ein Angebot und sollte über das Urteil der damaligen Jury hinaus weiter in der Diskussion bleiben.


Anmerkung: Die Autoren des Textes wollen mit den Modellfotos dieser Seiten die Kreativität und Originalität im Wettbewerbsbeitrag der damaligen Studenten der HAB Weimar L. Ambrus, K. Krause, M. Schinko und A. Zsoldos würdigen.

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