Für eine baupolitische Wende (1989)

Diese Rede auf dem Kolloquium der Akademie der Künste der DDR am 11. Dezember 1989 war ein Beitrag zu dem Versuch, bei Fortbestehen der DDR in letzter Minute eine baupolitische Wende herbeizuführen – ein Plädoyer für eine partizipatorische und ökologische Architektur.

Olaf Weber
Für eine baupolitische Wende

Die Verfallsruinen in unseren Städten und die politisch-moralische Krise unseres Landes sind kongruente Ergebnisse von lang andauernden fehlgeleiteten Prozessen, die jeder für sich und beide zusammen einer gründlichen Revision bedürfen. An den Stadträndern werden die sterilen Neubauwohnungen und, weil diese zu unwirtschaftlich sind, noch weiter draußen die Datschen-Siedlungen aus dem Boden gestampft, während in den Städten die alten Häuser zusammenfallen. Und je mehr dort gestampft wird, umso mehr fällt da zusammen. Vor allem die Stadtkerne außerhalb der Renommierzone und die Gründerzeit-Viertel leiden unter der mangelnden Obhut, wo sie doch gar kein schlechtes Obdach abgegeben hätten.

Ich will über den Gebrauchswert sprechen und setze voraus, dass der Kulturwert, der historische und der ästhetische Wert vieler alter Bauwerke unbestritten sind, vom Denkmalwert ganz abgesehen. Ich will vom Gebrauchswert des gewöhnlichen Wohnungsbaues ausgehen, der vor allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammt, weil in unserer Haltung der Vernachlässigung, sogar der bewussten Sterbehilfe für das Alte, die Fehlorientierung unserer bisherigen Baupolitik in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt.

Was ist eigentlich an einem Ziegel- oder Fachwerkhaus unmodern? – Vielleicht die Heizung, die sanitäre Ausstattung, die Wärmedämmung der Wände, Decken und Fenster oder auch die Formauffassung, unter der es entstanden ist. Die Komfortmängel ließen sich problemlos korrigieren, wenn man innerhalb des individuellen Bauens und des handwerklichen Prinzips bliebe. Das gilt für die Modernisierung des Altbaues wie für den Neubau. Doch der Technikkult der 60er Jahre und die kritiklose Übernahme der industriellen Großmechanisierung für das Bauwesen führten nicht nur zu einem neuen Baustil – das allein wäre kein Problem, sondern zu einer Architektur, die den gewachsenen Städten völlig fremd und vor allem auch dem Menschen und der Natur fremd bleiben musste. Diese weltweiten Tendenzen – anderswo bald wieder zurückgenommen – verfestigten sich in der DDR zu einer dogmatischen Baupolitik, die bald nur noch mit dem Grundfonds der importierten Plattenwerke argumentieren konnte.

Das Problematische an unserem Platten-Wohnungsbau ist seine Starrheit, seine Festigkeit, seine Schematismus, die so im Widerspruch zur Lebendigkeit des biologischen und sozialen Organismus „Mensch“ stehen. Die bauliche Umwelt ist nicht mehr die dritte Haut des Menschen, die für ihn identifikatorische Räume bildet und Freiräume selbst bestimmten Handelns – auch gegenüber dieser Umwelt – schafft. Diese Starre ist in der Geschichte der Wohnarchitektur neu und begrenzt ihren Gebrauchswert erheblich.

Jeder Fortschritt ist irgendwo auch ein Verlust an Vielfalt, an Lebendigkeit, Anpassungsfähigkeit, an Natürlichkeit, an Beziehungsreichtum der Architektur – das sind keine Kleinigkeiten. Diese Einbußen machen den Fortschritt der Plattenwerke mehr als fragwürdig. Industrialisierung des Bauens wurde bei uns so durchgeführt wie die Industrialisierung von beliebigen Produkten, von Staubsaugern oder Rasierapparaten. Damit war das Wesen der Architektur gründlich verfehlt. Nicht nur die Metapher von der dritten Haut des Menschen sollte die mechanische Serienproduktion von Häusern, Segmenten und Blöcken verbieten, sondern die ebenso bedeutsame Wesenseigenschaft des Gebauten, einem Orte anzugehören und aus seinen Besonderheiten, aus seinem Geiste, möglicherweise auch aus den Baustoffen des Ortes hervorzugehen. Städte und Gebäude sind Individuen, mögen auch gewisse Elemente standardisiert sein. Häuser gehören variierenden typologischen Reihen an, aber nicht technischen Standards. Von allen technischen Möglichkeiten entspricht der Techniktyp II (die klassische Maschinerie der seriellen Produktion) dem permanenten Variationsdruck der architektonischen Anforderungen am wenigsten. Es wird deshalb darauf ankommen, so schnell wie möglich zur qualifizierten handwerklichen Bauproduktion (Techniktyp I) zurückzukehren und zugleich zu einer erst als Utopie bestehenden flexiblen Automatisierung (Techniktyp III) voranzuschreiten, beziehungsweise alle technologischen Niveaus unter Einschluss seriell produzierter Teile und Halbfabrikate zu einer architekturspezifischen Produktionsweise zu vereinen.

Die Defekte liegen nicht nur in den Strukturen, sondern besonders auch im Material. Stahlbeton ist nicht in der Lage, Veränderungen und Anpassungen zu ertragen, er ist kaum wieder verwendbar und schwer in den Kreislauf mit der Natur zurückzuführen. Seine wohnhygienischen Eigenschaften sind schlecht, Wohnungen aus Stahlbeton sind unpraktisch.

Wir brauchen eine neue Baupolitik. Kosmetische Operationen an den genehmigten Typensegmenten sind völlig unzureichend, historisierende Schnörkel an den Fassaden verfälschen und verkitschen nur das Geschichtsbewusstsein. Das, was wir neu bauen, wird dann in unsere historisch gewachsenen Städte passen, wenn es zum Mensch und zur Natur passt, Architektur muss ökologisch und demokratisch sein. Die Bauwirtschaft muss die normale Maßordnung des Menschen und der Natur wieder annehmen, so dass eine demokratisch manipulante Technik ihr Humanpotential und ihre Ökonomie entfalten kann.

Für die neue Baupolitik sind schon einige Markierungen gesteckt, einige Forderungen sollen sie konkretisieren:

  • Dezentralisierung der Entscheidungen nach den Kommunen zu, Regionalisierung der Bauproduktion und der Baustoffproduktion (z. B. kleine Ziegelwerke, Entlastung des Transportaufwandes)
  • Aufhebung der subalternen Beziehung der Architekten zu den Baubetrieben, Gründung selbständiger Architekturbüros
  • Unterstützung von kulturellem und technologischem Pluralismus
  • Entwicklung vielfältiger Formen der Baufinanzierung; Erhöhung des Eigentümer- und Wertbewusstseins durch neue Mietpreis- und Wohnungsvergabepolitik
  • Entwicklung und Einsatz von Baustoffen und Baukonstruktionen, die recyclingfähig sind, Schaffung von Baustoff- und Bauteilbörsen für wieder verwendungsfähiges Material und andere Organisationsformen von Verwertungsketten, Abbau der Aversion gegen Gebrauchtes
  • Wiederherstellung der Naturnähe des Bauens durch vielfältige Maßnahmen, z. B. Dach- und Fassadenbegrünung, Mietergärten
  • Durchsetzung der Energieökonomie durch bauphysikalische und energiewirtschaftliche Maßnahmen
  • Entwicklung von Dialogmodellen zwischen Auftraggeber, Architektur und Nutzern
  • Rückführung der baulichen Aktivitäten aus den Datschensiedlungen in die Städte und Gemeinden, Nutzung des musischen und polytechnischen Potentials der Bewohner für ein lebendiges Bauen
  • Wiederherstellung eines kulturellen und geistigen Baumilieus, Förderung von Architekturwettbewerben und von Architekturkritik.

Wir werden viel zu bauen haben, aber im Vordergrund steht gerade wegen der Nützlichkeit des Alten das Erhalten. Unter der Voraussetzung sofortiger und konsequenter Wende in Richtung ökologischer und demokratischer Architektur haben unsere Städte trotz jahrzehntelangem Entzug unserer Fürsorge noch eine Chance, denn sie sind zwar arg stranguliert, aber sie sind nicht mit Baugebäuden, Versicherungshochhäusern, Park- und Kaufhäusern kaputt betoniert. Wir haben noch viel Authentisches, lasst uns eine Alternative zum westöstlichen Beton versuchen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert