16 Fragen und Antworten zur Schelfstadt Schwerin (1989)

Dieses fiktive Interview stellt eine Diskussionsgrundlage zu einer Ausstellung dar, die im Frühjahr 1989 von einer Initiativgruppe zur Erhaltung der vom Abriss bedrohten Schelfstadt in Schwerin unternommen wurde. Hier wird die technologische und organisatorische Basis des Bauwesens öffentlich in Frage gestellt.

Olaf Weber
16 Fragen und Antworten zur Schelfstadt Schwerin

Was ist die Schelfstadt?
Ein schöner, häßlicher Teil der Stadt, der widersprüchlichste Teil der Stadt.

Wieso widersprüchlich?
Mehrmals wurde er erneuert, immer teilweise. Mehrmals wurde er neu gegründet. Gründerzeiten schaffen die Widersprüche: Die kleinen Reihen, die großen Häuserecken, das Verfallene, das Monströse.

Sollte die Schelfstadt konserviert werden?
Sie muss verändert erhalten werden. Wo das Ebenmaß praktischer Harmonie fehlt, muss behutsam gebaut werden, wo das Schöne besteht, muss bewahrt werden. Die Apothekerstraße ist nicht die Münzstraße.

Geht es nur um die Schönheit?
Es geht um Kultur. Das wirklich Schöne ist auch praktisch und wirtschaftlich. Nur durch einen kulturlosen Umgang mit der Geschichte fallen Nützliches und Schönes auseinander.

Ist das neue Gebäude in der Schelfstraße schön?
Es ist nicht praktisch, es ist nicht wirtschaftlich genug, zu wenig ist es ein differenzierter Ausdruck unserer Kultur.

Der Baubetrieb Hagenow ist aber anderer Meinung.

Ein Produktionsbetrieb ist nicht die Öffentlichkeit, Betriebswirtschaft ist nicht die Ökonomie der Stadt. Der Wohnungsbau in den Innenstädten muss besonders sorgfältig auf seine kulturellen Potenzen hin diskutiert und definiert werden. Bauen ist eine öffentliche Angelegenheit, die Baubetriebe haben nur die Aufgabe, die baulich-räumliche Kultur wirtschaftlich zu realisieren.

Was ist denn die Kultur der baulichen Umwelt?
Das ist ein buntschillernder Begriff. Neben umstrittenen Anforderungen an die Qualität unserer baulichen Umwelt gibt es eine Reihe von Merkmalen, die in der internationalen Architekturdiskussion zunehmend als Qualitätskriterien gesetzt werden. Dazu zählt selbst verständlich die soziale Verfügbarkeit über genügend Wohnraum, die Praktikabilität und der technische Ausstattungsgrad der Wohnungen, der gesellschaftlichen Einrichtungen und städtischen Strukturen. In diesem Punkt erfüllt der zur Diskussion stehende Massenwohnungsbau ein durchaus entsprechendes Niveau.

Was sind die problematischen Aspekte?

Zunächst das Verhältnis zur Geschichte. Es kommt darauf an, im Neuen die Traditionslinien der Stadt fortzsetzen, freilich auch zu korrigieren. Dabei ist es zu wenig, nur äußerliche Attribute des Vergangenen (wie Giebel, Pilaster, Traufen) aufzunehmen – manchmal führt das sogar zur Verfälschung des historischen Bewußtseins. Dagegen ist es wichtig, den „Geist des Ortes“ in seiner Tiefe zu ergründen und auf eine zeitgemäße Weise baulich zu interpretieren. Den Besonderheiten ihres Ortes können die Schweriner sicher besser nachspüren als ein Ortsfremder.

Sollte also der Neubau an seine bauliche Umgebung angeglichen werden?

Das ist nur teilweise richtig. Der Neubau soll in einen „Dialog“ zu seinen Nachbargebäuden treten. Er soll seine eigene Sprache sprechen aber dialogfähig sein. Die Stadt braucht neben harmonischen Verhältnissen auch Widersprüche, aber solche, die sie beleben und Kultur ausstrahlen.

Kann man mit industriellen Bausystemen in die Innenstädte gehen?
Das hängt natürlich von der Qualität des Bausystems ab, doch es gibt auch eine prinzipielle Schwelle. Gründerzeitgebiete vertragen entwickelte Montagebauten, da sie selbst dem industriellen Zeitalter entsprungen sind. Die Stadtviertel, die durch Bauten der vorindustriellen Zeit (sagen wir vor 1850) geprägt sind, haben einen anderen Charakter. Dort haben handwerkliche Arbeiten, bodenständige Materialien und besondere Bindungen zu einem Bauen geführt, das durch ein eigentümliches Verhältnis von Maßgeschneidertem und Getyptem geprägt ist. In den typologischen Figuren jener Häuser sind die Erfahrungen vieler Menschen, vieler Generationen gespeichert. Ihre Eigenart ist durch das serielle Bauen nicht zu adaptieren. In solchen Bereichen der Stadt können standardisierte Häuser, mögen sie auch Steildächer, Gauben, Gesimse oder historische Ornamente erhalten, den Charakter des Viertels nicht treffen.

Wie sollte man dort bauen?
Dort muss dominant handwerklich gebaut werden.

Das serielle ist vom industriellen Bauen also räumlich zu trennen?
Im Gegenteil es ist zu vermischen. Die Reparatur der Städte erfordert einen Pluralismus und eine Verträglichkeit der Bausysteme. Auch industrielles Bauen sollte dem Wesen der Architektur wieder zunehmend entsprechen: Aus dem Orte und den spezifischen Bedürfnissen erwachsend und zugleich etwas Allgemeines darstellend.
Jedes Haus sollte individuell projektiert werden. An geistiger Leistung, an Nachdenken und Gestalten ist nicht zu sparen. Das individuell Projektierte kann danach untersucht werden, an welchen Positionen es vorgefertigte Teile verträgt.

Sind die Architekten dabei nicht überlastet?
Ein bißchen, wir brauchen mehr von ihnen. Aber auch das Interesse der Öffentlichkeit an der Stadtgestaltung wächst. Wie kann das intellektuelle, das organisatorische und gestalterische Vermögen der Bewohner, auch ihre baupraktischen und polytechnischen Fähigkeiten für die Stadt nutzbar gemacht werden, anstatt sie nur in den Datschensiedlungen und Bootshäusern zu verbrauchen? Die Antwort auf diese Frage wird auch die Technologie der Bauproduktion berühren, in deren Getriebe der Kranspiele zur Zeit solche Initiativen wie Sandkörnchen knirschen. Die notwendige Demokratisierung der Stadtgestaltung wird mit der Flexibilisierung des industriellen Bauens verbunden sein müssen.

Wie ist die Flexibilisierung der Bausysteme zu erreichen?
Einmal durch Mischbauweisen: vorgefertigte Teile und monolithisch angepasstes Bauen ergänzen sich. Zum anderen durch die Einführung des offenen Baukastenprinzips, das mit kleinen Einheiten vielfältige Lösungen erlaubt. Beide sich ergänzende Verfahren die die übliche Block- und Segmentprojektierung und das Denken in Wiederverwendungslösungen prinzipiell überwinden, müssen kulturell erstritten und technisch-ökonomisch durchgesetzt werden. Kommen wir zur Schelfstadt zurück.

Ist sie noch zu retten?
Sie muss erst noch ihr Gesicht erhalten. Nur die Öffentliche Diskussion – ein Anstoß ist diese Ausstellung – kann die Sinnfälligkeit des Bauens dort definieren. Die Devise kann nur heißen: Soviel wie möglich schönes Altes (nützliches Altes) erhalten und zugleich passendes Neues entwickeln. Wenn sich in diesem Prozess die Bauindustrie nicht zu einer neuen Qualität entwickelt, war das Bemühen zur Umgestaltung der Schelfstadt vergebens.

Sollte mit dieser Umgestaltung nicht gewartet werden, bis bessere Rahmenbedingungen bestehen?
Nein. Jetzt. (Der Bauzustand erfordert dringend den behutsamen Eingriff, das Bauwesen benötigt dringend den streitbaren Impuls.)

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