Der Erfurter Angerbereich – Zur Qualität von Stadtgrafik, Stadtmöblierung und Freiraumgestaltung (1989)

Eine kritische Analyse zum „Erlebnisbereich Anger“ in Erfurt bezog sich auf das (schlechte) Stadtmobiliar und die (dürftige) Kunst im öffentlichen Raum. Der Anger solle aber nicht zu Ungunsten der vernachlässigten Quartiere dahinter „aufgemotzt“ werden, hieß es im Wendejahr 1989.

Olaf Weber
Der Erfurter Angerbereich – Zur Qualität von Stadtgrafik, Stadtmöblierung und Freiraumgestaltung

Fußgängerbereiche, die in den 60er Jahren aufkamen, sind als Antworten auf die Widersprüche zwischen dem anschwellenden Fahrverkehr und der intensiven fußläufigen Nutzung in den attraktiven innerstädtischen Bereichen entstanden.

Fußgängerbereiche und noch mehr die eine Renaissance- erlebende Passagensysteme sind Orte intensiven Stadterlebens, in denen sich vor allem Kauf-und Dienstleistungseinrichtungen aber auch Kunst- und Kulturstätten etabliert haben.

Sie sind multifunktionale Flanierzonen, in denen sich die jeweils höchste Form ästhetischer Kultur innerhalb der betreffenden Stadt manifestiert. Geschäftigkeit und Ruhe, Kaufen und Besinnen, Information und Versenkung, hastiges Fortkommen und bummelndes Beschauen sind die Kontraste, denen diese Zonen ihre Vitalität verdanken. Gestalterische Maßnahmen müssen vor allem diese Widersprüche visualisieren, so daß die hochentwickelten Reize das sinnliche und assoziationsreiche Material für einen zeitgenössischen Habitus liefern, der die neuesten Geschmackskulturen repräsentiert. So gesehen müssen Fußgängerbereiche ständig „up to date“ sein und die permanente Reparatur ist auch in diesem Bereich der Stadt besser als die kommunalen Kampagnen zur Quartiersanierung. Trotzdem fällt es mir schwer, für den 1976-79 komplex rekonstruierten Anger eine neuerliche Modernisierung anzuraten, solange viele der umliegenden Bereiche in schlechtem, manchmal ruinösem Zustand sind. Das Gebot des urbanistischen Zusammenhanges erfordert zunächst einen akzeptablen Grundzustand aller Teile, so daß die auftretenden Qualitätsunterschiede nicht aus der Vernachlässigung der einen und dem „Aufmotzen“ anderer Teile, sondern aus einem natürlichen Bedeutungsgefälle der Straßen und Plätze hervorgeht. Die folgenden ausgewählten, kritischen Anmerkungen zum gegenwärtigen ästhetischen Zustand des Angers sollten aus diesem Blickwinkel betrachtet werden.

Das Straßenmobiliar (Papierkörbe, „Schlängelbänke“, Pflanzschalen usw.) entspricht durchweg nicht den Ansprüchen an ein modernes Kommunaldesign. Es korrespondiert weder untereinander noch mit dem Zeitgeschmack oder dem Charakter des Architekturraumes; vor allem die Schlängelbänke passen nicht zu den Gebäuden, die das Gesicht des Straßenzuges prägen. Den Kurven dieser Bänke fehlt jede Entsprechung in der Architektur des Angers (von einigen barocken Motiven abgesehen, die aber nicht dominieren.) Hier hätte man sich eine größere strukturelle Verwandtschaft zur Architektur gewünscht. Insgesamt fehlt dem Straßenmobiliar auch eine taktile Qualität. Möbel sind Gegenstände zum Anfassen und die glatte feingefügte Oberfläche von veredelten Stoffen ist ein wichtiges Merkmal modernen Straßenmobiliars. Während das Straßenmobiliar qualitativ viele Wünsche offen läßt, ist der Raum quantitativ von ihm gesättigt. Er ist sogar teilweise übermöbliert.

Die Terasse des Café espresso ist ein Beispiel für fehlende Designkonzeption. Das handwerkliche Umfassungsgeländer beschreibt mit großer aber grober Geste aus Stahlrohr und Edelstahlblech einen kleinen Raum, in dem eine spillrige Bestuhlung und wacklige Konfektionssonnenschirme den Nachweis antreten wollen, dass mehreres Kitschiges auch untereinander unverträglich sein kann. Die Einheitlichkeit einer Designkonzeption steht in Frage, sie kann natürlich nicht in einem formal einheitlichen Stilüberzug bestehen, sondern nur in einer künstlerischen Qualität, die immer Widersprüchliches mit einschließt. Der Grundcharakter dieses Straßenzuges ist derart, daß immer kleinere funktionale Bereiche eine ästhetische Einheit bilden. Die Sonnenschirme eines Straßencafés sollten deshalb mit den Tischen und Stühlen, dem Geländer, den Blumenkästen usw. desselben Cafés eine gestalterische Einheit bilden, nicht aber mit den Sonnenschirmen einer weit entfernten Milchbar. Der funktionale, individuelle Raum, den ein Laden, ein Café, ein Kino im Straßenzug markiert, will durch ein spezifische Artikulation aller seiner Formen ausgedrückt sein. Dagegen können beispielsweise Beleuchtungskörper, aber auch Elemente der Schrift- und Werbegestaltung, die am Anger prinzipiell zu wenig Signets, Piktogramme und ikonische Firmierungen enthalten, den ästhetischen Zusammenhang des ganzen Straßenzuges herstellen.

Das Problem der Ruhezonen ist auf dem Anger nicht gelöst. Die Bänke und gastronomisch bewirtschaftete Freiflächen stören in vielen Fällen den engen und durch die Straßenbahn verunsicherten Raum. Ich schlage vor, einige der den Anger angrenzenden Gassen 10–15 m tief zu überdachen (leichte Glasstahlkonstruktion), so dass sich passagenartige Elemente bilden, unter denen gastronomische Einrichtungen beherbergt sein könnten und sich natürlich neue Aufgaben für gestalterische Akzente ergeben. Durch diese Überdachung der Gassenanschlüsse würden auch die strukturellen Beziehungen zum Umfeld des Angers aufgewertet, d.h. seine städtebauliche Linearität und Isolation könnte überwunden werden. Solche „Angerhöfe“ könnten sich zu charakteristischen Motiven herausbilden und auf diese Weise einen Beitrag zu einem modernen ortstypischen Gepräge der Stadt Erfurt liefern.

Der Raumerweiterung am Angereck fehlt ein gestalterischer Akzent. Nachdem das Angereck-Gebäude (wohltuend) zurückhaltend ausgefallen ist und die geplante Großplastik vor der Schlosserschule (erfreulicherweise) nicht ausgeführt wurde, ist aber ein gestalterisch verdünnter Raum entstanden, der durch die sich kreuzenden Straßenbahntrassen beherrscht wird. Vielleicht könnte an dieser Stelle ein raumschaffendes künstlerisches Gebilde (Straßenbahnhaltestelle, Telefonhäuschen, Blumenladen), das filigran und durchsichtig sein müsste, ein dringend benötigtes Beispiel für die Integration von Baukunst, Design, Kunsthandwerk und bildender Kunst liefern.

Jeder gestalterischen Aktivität sollte eine gründliche Modernisierung der Konzeption von 1976 vorausgehen und die Korrektur von missratenen Lösungen (z.B. der Skulptur des neuen Angerbrunnens) einschließen. Alles Vitale, Mobile, Widersprüchliche sollte dabei ästhetisch entwickelt und kultiviert werden. Mobile Verkaufswagen oder saisonale Raum- und Fassadengestaltungen bilden das temporäre Element der Stadtgestaltung. Die zeitgemäßen ästhetischen Reize, die großstädtisches Fluidum ausstrahlen, sollten in der sozialistischen Gesellschaft nicht den Werbeträgern überlassen werden, sondern zunehmend von moderner Kunst getragen werden, die auf diese Weise zum synästhetischen Gemälde der Stadt wird. Gerade im öffentlichen, städtischen Raum sollte die Kunst die Schranken traditionellen Denkens überwinden und neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue Medien und Aneignungsformen entwickeln.

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