In diesem Beitrag zum Bauhauskolloquium 1988 wurde das ästhetische Ideal vor allem historisch begründet mit einem Plädoyer für eine geschmeidige Bautechnologie und eine anthropozentrische Architektur. Irgendwie war die Antike schön, hieß es.
Olaf Weber
Die Umfunktionierung der Gestalt – zu Elementen eines ästhetischen Ideals
Der Zustand des Bauens ist weltweit unbefriedigend. Angesichts der am Maßstab des Menschen festzustellenden Mängel der Architektur gelten für die Diskussion um deren Ästhetik zweierlei Voraussetzungen: Die ästhetische Argumentation darf nicht an den Rand, sie muss in das Zentrum der Auseinandersetzung um Architektur führen, und sie muss moralische Haltungen implizieren, die das Erstrebenswerte von der Summe alles Möglichen ausgrenzen. Ich will beides versuchen.
Das Moralisieren ist in der Kunst- und Architekturtheorie heute wegen des oft reglementierenden Charakters der normativen Ästhetik verpönt, doch wir sollten auf dem sittlichen Anspruch der Architekturtheorie bestehen. Zur Zeit produziert die hochgeschraubte Innovationsrate der vielen konkurrierenden Architekturkonzepte eine permanente Verunsicherung statt schöpferische Freiheit, so dass der international vorherrschende Alles-ist-möglich-Pluralismus höchstens gut ist zur Überwindung zu eng gesteckter Pflöcke. Architekten brauchen vor allem auch unter ästhetischem Aspekt die deutliche Orientierungsfunktion von Bewertungskriterien, sofern diese nur tief genug ansetzen, also nicht etwa eine bestimmte Formensprache diktieren wollen.
Es lohnt sich, auf der Suche nach dem architektonischen Ideal beim Neuen Bauen anzuknüpfen – nicht wegen des rechten Winkels, sondern weil es eine der letzten großen Bewegungen war, die versucht hatte, die Ästhetik des Bauens mit einem ethischen Prinzip und ganzheitlichem Denken zu verbinden. Aber die Voraussetzungen und die Ziele ästhetischen Formierens haben sich seitdem völlig gewandelt.
Während die technologische Entwicklung des Bauens damals in Richtung des klassischen Typs der Industrialisierung, also der standardisierten Massenproduktion von Häusern ging, ist heute eine flexible, computergestützte Bauproduktion durchzusetzen, die in der Lage ist, auf die Besonderheiten von Aufgabe, Ort und Nutzer sinnvoll zu reagieren. Während das soziale Ziel damals auf die Wohnung für das Existenzminimum orientiert war, geht es heute um die umfassende soziale und kulturelle Reparatur der Städte und Siedlungen, und während letztlich die gestalterischen Anstrengungen damals dahin zielten, den Ballast der ausdruckslosen Schnörkel und Verzierungen abzustreifen und die Schönheit der sachlichen Beziehungen zu feiern, geht es heute um die Ausformung einer architektonischen Formensprache, die in der Lage ist, den Fundus ihrer reichhaltigen Gestaltungsmittel in den Ausdruck dessen einzubringen, was die Menschen an Informationen, Anregungen und Werten von der Architektur erwarten.
Als die sozialen und ästhetischen Ideale des Neuen Bauens verblassten, blieb eine der Industrialisierung empfängliche Architektur zurück, in die sehr schnell die Kälte eines engen Zweckrationalismus und die Kulturlosigkeit eines partikulären Wirtschaftlichkeitsdenkens einzogen. Diese Industrialisierung und das enge Rentabilitätsprinzip zerstörten die Identität von Ökonomie einerseits und Kultur und Natur andererseits, weil Ökonomie nicht mehr die Vermeidung von Vergeudung bedeutete, sondern das nackte Maß von erzieltem Profit oder abstrakten Kennziffern annahm und damit seine kulturbedeutende Dimension verlor.
Und noch eine zweite wichtige Folge hatte die Industrialisierung. Die Arbeit, die Produktion und die Produkte teilten sich. Damit fiel auch die Form auseinander. Der Übergang vom Klassizismus, den man bis 1830 noch als Monostil gelten lassen kann, zum Eklektizismus erschien im 19. Jahrhundert vielleicht wie die Erlösung der Form aus dem Korsett eines Stils, doch dieser Übergang war auch Verlust an gesellschaftlich gewachsener und allgemein verständlicher Formensprache, und die neue, scheinbare Freiheit erschöpfte sich in der Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Korsetts, im Stilpluralismus. Seit dieser Zeit waren die erfundenen Stile und Moden, ob sie sich in immer kürzer werdenden Intervallen ablösten oder parallel nebeneinander existierten, ästhetisch reduziert und legitimierten sich aus ihren Antipoden. Der Jugendstil kritisierte das Historisierende des Eklektizismus, die Neue Sachlichkeit das Verspielte des Jugendstils. Das organische Bauen profilierte sich gegen das Tektonische, das alternative Bauen lebt vom Kontrast zur Vergötterung der Technik, der Individualismus kompensiert die Strenge des neuen Rationalismus usw.
In den Pendelbewegungen werden die Unzulänglichkeiten einer Strömung durch andere Unzulänglichkeiten in einfacher Negation ersetzt. These und Antithese führen nicht zur Synthese. Die mehrfache Spaltung der Architektur hat zwar dazu verholfen, die Sicht auf die vielen Probleme zu schärfen, nun ist es aber an der Zeit, den szenischen Wechsel der mal auf dieses und mal auf jenes reduzierten Architektur in einem ganzheitlichen Gestaltungskonzept aufzuheben, in dem das Auseinanderdriftende, Heterogene wieder aufeinander bezogen und der Pluralismus zur sinnfälligen Vielfalt funktionalisiert wird. Diese Aussage zielt nicht auf eine zeitlose, „objektive“ Formensprache, sondern auf ein Beziehungsganzes, das immer auch durch die Bewegungen der gesellschaftlichen Psyche gefärbt wird.
Der heute vom Postmodernismus zum Idol erhobene radikale Eklektizismus bietet die Formen aller Zeiten und Regionen feil, er produziert Kompilation, nicht Ganzheit. Es hat sich erwiesen, dass eine Architektur aus heterogenen Zeichen, denen es an Grammatik mangelt, höchstens einige Vokabeln stammeln, aber nichts Brauchbares aussprechen kann. So fehlt allerorts Bezogenheit, Zusammenhang und Ganzheit. Letzteres ist auch darin zu spüren, dass viele Neubauten nur durch die ergänzenden Werte der Nachbarschaft, mit denen sie sich im Erleben vereinigen, akzeptabel werden. In vorindustrieller Zeit hatte jedes Bauwerk selbst genügend an Informationen, Logik, Emotion, an Symbolischem, an gestalterischen Mitteln, so dass es im städtischen Gefüge eine vollwertige distinktive sprachliche Einheit war.
Der erste Akt der Umfunktionierung der Gestalt ist also die Wiederherstellung der architektonischen Ganzheit in der Sinnfälligkeit von Funktion, Konstruktion und Form, wie sie beispielsweise in der anonymen Volksarchitektur immer bestand. Sinnfällig wird Architektur durch einen tiefen Bezug zur Sphäre des Menschlichen, wobei menschliches Maß, menschliches Denken, Fühlen und Handeln bauliche Gestalt gewinnt. Anthropomorphe Architektur hat nur unwesentliche ikonische oder metrische (modulare) Beziehungen zum Menschen, um so mehr aber soziale, politische, psychologische, ergonomische, mythische und symbolische. Menschliches kommt nur durch den Menschen in die Architektur, sei es durch die überlieferten Erfahrungen vieler Generationen, sei es durch die demokratische Teilhabe vieler Zeitgenossen oder durch die kongenialen und sensiblen Erfindungen der Architekten und Ingenieure. Alle drei Quellen von Vielfalt und Lebendigkeit waren zu den 60er Jahren unseres Jahrhunderts hin merklich versiegt. Noch nie war Architektur aus so wenig Entscheidungen hervorgegangen. Noch nie enthielt ein Kubikmeter umbauter Raum, ein Kubikmeter verbautes Material so wenig an potenziellen, nutzerrelevanten Informationen wie im Ergebnis der klassischen Industrialisierung. Noch nie war die Baumasse so geistlos, noch nie so leblos.
Wir müssen uns über die Einbußen Rechenschaft ablegen, die wir zum Vorteil der technischen Qualität, des Bautempos, der Arbeitsproduktivität usw. hinnehmen mussten. Jeder Fortschritt ist zwar irgendwo immer auch ein Verlust, doch der Verlust an Flexibilität der Baustrukturen, an Natürlichkeit der Baustoffe, an Beziehungsreichtum zur Umwelt, insgesamt an Lebendigkeit dessen, was wir heute bauen, das sind keine Kleinigkeiten, über die wir uns mit dem Hinweis auf andere erfolgreiche Aspekte des Wohnungsbaus hinwegsetzen dürften. Die praktischen und ästhetischen Mängel haben wesentliche Ursachen darin, dass die Architektur ein starres Gefüge geworden ist, das sich nicht mit den Menschen, die in ihr wohnen, und mit der städtischen Kultur und der Natur, die sie umgibt, verändern kann. Die Architektur lebt nicht mehr, sie ist nicht mehr Organismus, zur Metamorphose fähige dritte Haut des Menschen. Sie ist weder genügend gerüstet, dem Bedürfniswandel ihrer Bewohner zu folgen, noch sich dem Kreislauf mit der Natur einzuordnen oder sich der geschichtlichen Kultur des Ortes zur Verfügung zu stellen. Aber erst in der Enge der Beziehung zum Menschen, zur Natur und zur Geschichte entwickelt sich architektonische Qualität, und erst aus diesem Beziehungsreichtum begründen sich die Elemente eines ästhetischen Ideals.
Die Orientierung auf Ganzheit schließt natürlich die Totalität der geistigen und psychischen Beziehungen von Bauwerk und Mensch ein. Architektur zielt in ihren künstlerischen Momenten nicht einfach auf visuelle Reize, sondern auf die höchsten seelischen Erregungen und sinnliche Genüsse. Ein unscheinbares Bauwerk oder eine belanglose Fassade sind zu akzeptieren, wenn sie nicht einem prinzipiell reduzierten Architekturverständnis entspringen, sondern einer aus der baulichen Situation erwachsenen, spezifischen Funktion der Form. Architektur muss nicht laut sprechen, nicht schwatzhaft ihre inneren Geheimnisse preisgeben oder gar die Komplexe der Architekten hinausposaunen, wie es Hannes Meyer mokierte, sie soll aber auch nicht schweigen. Auffälligkeit und Ausdruckstiefe sollten von den Umständen diktiert werde, in die das Bauwerk hineingesetzt wird. Immer sollte dabei der Mensch als Souverän über die Dingwelt, die ihn umgibt, dominieren. Dazu muss er seine innere Beziehung, die psychische Enge und Weite zur Architektur selbst bestimmen können, also weder von einer aufdringlichen Dingwelt ohnmächtig angezogen noch von deren Aura zu einem devoten Fernblick abgestoßen werden. Der Mensch will die Vertrautheit mit der Architektur, doch auch die Möglichkeit zur Zurückhaltung, die ihm Freiräume selbstbestimmten Handelns verschafft. Deshalb sollte auch die Ausdrucksenergie der Architektur unterschiedlichen Niveaus angehören. Preskriptive Sprache, bei der der Architekt versucht, seine Wertvorstellungen über Lebensweise und Kultur unversehrt an die Adressaten zu vermitteln, ist selten und nur kombiniert mit den beiden anderen Vermittlungsformen vorstellbar: der kulturell normierten, doch auch unabhängigen Interpretation im Rahmen der architektonischen Reizvorlage und letztlich der freien Deutung von leeren Formen als ideelle Aufladung der baulichen Strukturen im sozialen Aneignungsprozess.
Die Form ist eine ästhetische Hilfe bei der Organisation von Lebensprozessen und dient dem aktuellen Gebrauch. Zugleich gibt sie langzeitliche Orientierungen im Wertesystem der herrschenden Kultur, und drittens soll sie ästhetischen Genuss vermitteln, also schön sein. Das alles kann die Form nur erfüllen, wenn sie in ihrer Aussage weit über sich selbst hinausweist und wenn sie diese Verweisung nicht nur logisch, sondern auch assoziativ vermittelt. Das ist das Reich der Zeichen und Symbole. Zeichen sind relativ unbedeutende sinnliche Anlässe, die weitreichende Denk-, Gefühls- und Verhaltensoperationen nach sich ziehen können. Auf diese ästhetisch sehr ökonomischen Gebilde sollte Gestaltung nicht verzichten. Symbolhafte Formen sind selbst dort, wo sie fest in Stein gemeißelt sind, zerbrechliche Organismen, deren ambivalenter Sinn sich historisch und situationsabhängig wandelt. Daher kommt es auch, dass symbolische Ornamente lebendiger erscheinen gegenüber den maschinellen Strukturen, die kein oder wenig Assoziationspotential haben. Die Eigenschaft der Symbole, auf etwas außer ihnen liegendes verweisen zu können, kann dafür genutzt werden, auch dem flüchtigsten Betrachter ein vielleicht knappes, aber ganzheitliches Bild des Bauwerks, des sozialen Milieus, des technischen Niveaus, der Kultur usw. zu vermitteln; dabei bereichern und informieren die Zeichen. Dieselbe Eigenschaft der Zeichen kann aber auch das Vortäuschen, den falschen Schein, die Repräsentationssucht und die Imitation befördern, immer ist entscheidend, ob Symbolisierung in die Lage versetzt, Bauwerk und Betrachter einander näher zu bringen, oder ob sie beide einander entfremdet. Die Frage nach der Wahrheit ist dabei nicht oberflächlich zu stellen. Die Forderung nach Materialgerechtigkeit, konstruktiver Wahrheit usw. sind zwar gültige Orientierungen, aber keine isolierten Lehrsätze. Künstlerische Wahrheit zielt auf die Sinnfälligkeit der ganzen Aussage, nicht auf die materielle Herleitung von Einzelheiten. Optische Korrekturen, Raumillusionen, auch das Spiel mit Unechtem sind legale Gestaltungsmittel, wenn sie nicht das unerlässliche Vertrauensverhältnis des Menschen zu seiner Umwelt zerstören und in dieser ethischen Grenzüberschreitung die Aneignungskräfte des Menschen reduzieren.
Eine architektonische Form erwächst zuerst aus einer praktischen Funktion oder einer Konstruktion. Später wird sie auch Bedeutung und Zeichen, am Ende ihrer Genese bleibt eine Form, die nur noch verfremdet zu gebrauchen ist. Verfremdung und Ironie, die – wie wir von Brecht wissen – hervorragende Erkenntnismittel sein können, haben aber in der Architektur einen beschränkten und nur ergänzenden Wert. Es bleibt abzuwarten, ob z. B. die Säule jenseits der ironischen Anspielung auf ihre eigene Vergangenheit wieder einmal zur Würdeform des Menschen und zum tektonischen Symbol seines aufrechten Ganges zurückfinden kann. Auch die neueste Mode, der Dekonstruktivismus, ist nur eine weitere Übertragung des Prinzips „Verfremdung“, diesmal auf die Tektonik. Die Verfremdung des Raumes, des Kontextes, ja der Natur lassen sich, wenn noch nicht erfunden, mühelos voraussagen. Sie sind als Moden peinlich, als sorgsam verwendete Gestaltungsmittel möglicherweise dienlich.
Eine besondere Art von Zeichen sind die Zeichen der Geschichte. Ein neuer Historismus sucht in den Zeichen der Vergangenheit oft nur die Kompensation zum faden Zweckrationalismus und inszeniert nostalgische Sehnsüchte. Historisches Bewusstsein wird auf diese Weise selten gefördert, und die ästhetischen Defekte unseres Bauens werden durch aufgesetzte Zeichen der Geschichtlichkeit nur scheinbar behoben.
Neben dem semiotischen Gebrauch der historischen Formen werden sie auch aus einem großen Bedürfnis nach Harmonie mit der umgebenden Architektur kontextualistisch verwendet. Oftmals wird aber dabei vergessen, dass die Traditionslinien, die den Geist des Ortes fortschreiben, weniger an den augenscheinlichen Gestaltungsmitteln, die eher den Geist der Zeit repräsentieren, festzumachen sind, als an den Tiefenstrukturen, die durch Landschaft und Lebensweise geprägt sind. Nicht die formale Ähnlichkeit eines Neubaus mit der historischen Umgebung ist geboten, sondern ihre Beziehungsqualität, die auch Widerspruch einschließt und in der Fähigkeit zum Dialog des Neubaus mit der Nachbarschaft kulminiert.
Eine bewusste oder unbewusste Gestaltungshandlung als conditio sine qua non mitgedacht, will ich behaupten, dass ein Haus, das zu den ganzheitlich empfundenen Bedürfnissen des heutigen Menschen passt, das mit beherrschten Bautechnologien und ortstypischen Baustoffen errichtet wurde, das sich im Einklang mit einer effektiven gesamtstädtischen Ökonomie befindet, dass ein solches Haus in wesentlichen Parametern zu den historischen Gebäuden der Nachbarschaft passt, ohne deren Formensprache zu entlehnen. Umgekehrt ist die Unvereinbarkeit eines Bauwerkes mit der historischen Umgebung ein Indiz dafür, dass es wichtige Grundanforderungen nicht erfüllt. Die Defekte mit der gebauten Nachbarschaft verweisen dann auf Defekte mit uns.
Die Dialogfähigkeit der Neubauten setzt eine moderne Formensprache voraus, deren Elemente sich zu wechselnden Aussagen zusammenfügen lassen. Zur Zeit herrscht noch Sprachlosigkeit, entweder Stummheit oder Sprachgewirr. Diese Krise des Ausdrucks ist eine tiefe Erfahrungskrise. „Sich architektonisch ausdrücken“ heißt aber nichts anderes als Erfahrungen mit Formen in der Absicht weiterzugeben, dass die Nutzer an den gebauten Texten den subjektiven Erwerb von Formensprache trainieren können und auf diese Weise Teilnehmer an dem sozialkulturellen Erfahrungsaustausch werden, dessen spirituelles Gefäß die architektonische Form ist.
Gemessen an solchen weitreichenden Anforderungen an eine humane Architektur greift die Kritik des Postmodernismus an der banalen Kistenarchitektur zu kurz. Der neue Ästhetizismus schickt sich an, die Impulse zur Veränderung des Bauens im Äußerlichen zu verbrauchen und die Funktion der Form zu verselbständigen. Schmuck und Dekorationen können zwar zu einem beträchtlichen Lustgewinn führen, sie können aber auch Ersatzmittelchen sein (und sind es heute meist), die die vorhandenen Mängel mit verniedlichtem Talmi oder historischen Attrappen kaschieren. Auch Baupolitik ist danach zu beurteilen, ob sie an den Wurzeln oder nur an den Symptomen der Unzulänglichkeiten kuriert.
Die Veränderungen tiefer ansetzen heißt aber gerade, dem Thema des Kolloquiums gemäß, die Produktivkräfte auf ihre Entwicklungspotenz hin zu befragen und eine neue technische Orientierung durchzusetzen. Die Industrialisierung des klassischen seriellen Typs hat die Besonderheit der Architektur, nämlich einem Orte anzugehören und diesem zu erwachsen, zugunsten einer scheinbar wirtschaftlichen standortlosen Massenproduktion derart vernachlässigt, dass schließlich Häuser wie beliebige andere Produkte hergestellt wurden. Die serielle Produktion musste die Vielfalt der Anforderungen reduzieren, das Schema schränkte zwangsläufig Gebrauchs- und Gestaltwert, auch Wirtschaftlichkeit und Identifikationsmöglichkeiten ein. Aus dem architektonischen Typus, der das Besondere im Allgemeinen fassen konnte und eine kulturelle Kategorie war, wurde der technische Standard. Typisierung wurde zur bloßen Standardisierung in den Größenordnungen von Gebäuden.
In der historischen Folge der Bautechnologien entsprechen die industriellen Erzeugnisse des „Maschinentyps“ in Form von Blöcken und Segmenten dem Bild vom raumorganisierenden Derma am wenigsten. Das Haus als lebendiger, historisch reagierender Organismus braucht die Flexibilität der handwerklichen oder die der automatisierten Produktion. Im Übergang vom Techniktyp der Maschine zu dem des Automaten, also durch die Hilfe der Computer, besteht eine reale Chance zu weitreichender Flexibilität. Durch technologischen Fortschritt überwindet die Bautechnik ihre architekturfremde Produktionsweise und gewinnt auf neuer Ebene Qualitäten zurück, die dem handwerklichen Bauen eigen waren. Daneben wird sich auch handwerkliches Produzieren bis in alle Zukunft weiterhin entwickeln. Ein wichtiger Grund dafür ist das zunehmende Bedürfnis der künftigen Nutzer, ihre intellektuellen, polytechnischen und musischen Fähigkeiten in die Gestaltung ihrer Lebens- und Arbeitsumwelt einzubringen. Es ist eine Besonderheit des baulichen Sektors der Volkswirtschaft, nicht nur das höchste Produktionsniveau (das der Automaten) anzusteuern, sondern alle möglichen technischen Niveaus zu integrieren. Es ist also im Bauwesen ein technologischer Pluralismus anzustreben, aber natürlich auch hierbei wieder eine Vielheit in der Einheit, also eine Verträglichkeit der Technikniveaus. Übrigens werden die vor- und rückwärtsgewandten Technikvorstellungen durch die Utopie des „mauernden“ Roboters zu einem kongruenten Bild. Die Flexibilisierung der Bautechnik hin zu automatischer und handwerklicher Produktion von Unikaten (die standarisierte Teile selbstverständlich einschließen) führt aber nicht zwangsläufig zu wandlungsfähigen Bauwerken, weil die Produkte nicht immer die Eigenschaft der Produktion annehmen. Die Fähigkeit zur Anpassung des fertigen Bauwerkes an sich verändernde Bedürfnisse dient vor allem der Erhöhung der Lebensdauer der Gebäude und wirkt der Verschleiß- und Wegwerftechnologie entgegen. Diese Anpassungsfähigkeit bedarf noch weiterer Veränderungen, die besonders die baustoffliche Basis der Architektur betreffen. Sie erfordert demontierbare und ergänzungsfähige Konstruktionen und solche Baustoffe, die zur Wiederverwendung oder Denaturierung taugen. Auch hierin sind ebenso Erfahrungen mit traditionellen Baustoffen wie Erfindungen neuer Materialien geeignet, um den sicher verdienstvollen Beton in seine Schranken zu verweisen.
Die Erfahrungen mit kosmetischen Korrekturen zeigen, dass die Probleme in der Erscheinungsweise von Architektur nur durch klare Leitbilder und durch tiefgreifende Veränderungen in den materiellen Voraussetzungen des Bauens gelöst werden können. Trotz der weltweiten Ähnlichkeit der Grundprobleme können die Lösungen nur regional und ortsbezogen sein. Bei uns in der DDR besteht mit der Erfüllung des Wohnungsbauprogramms die Chance und das Erfordernis zu dieser Neuorientierung. Die ästhetisch relevanten Veränderungen der nächsten Zukunft betreffen viele Bereiche, zum Beispiel den Übergang von der Segmentprojektierung zum individuellen Entwurf, die Entwicklung von Mischbauweisen auf der Basis des technologischen Pluralismus, die Ausbildung eines neuen Naturverhältnisses, die Produktion mutabler Baustoffe und -strukturen, die Verstärkung der Mietermitbeteiligung und der Demokratisierung des Planungsprozesses und anderes mehr. Wir haben zum Wohle der Menschen in den 60er Jahren erstaunlich schnell und konsequent den maschinellen Typ der Industrialisierung im Bauwesen durchgesetzt, nun sollten wir ihn zum Wohle der Menschen ebenso schnell und konsequent überwinden. Alle unsere Anstrengungen sollten dahin gehen, das Bauen zu intensivieren, d. h., es aus einer mechanischen in eine lebendige Angelegenheit zu überführen.
Allen Traditionen und Innovationen aufgeschlossen, sollten wir an die Form selbst keine Bewertungskriterien binden. Ob gerade Linien oder gebogene, ob alte oder neue, symbolische oder expressive Formen usw. – das Urteil gilt immer ihrer Anwendung, ihrer konkreten ästhetischen Wirkung. Die Trennungslinien zu fremden Leitbildern können nicht im Formbereich festgeschrieben werden, wohl aber zwischen oberflächlichen und ganzheitlichen Lösungen, zwischen Darstellen und Verschleiern, zwischen emanzipatorischen Bedürfnissen und egoistischen usw. Immer ist die architektonische Formensprache danach zu beurteilen, wie sie der Beziehung Architektur-Mensch dienlich ist, wie sie zur Kultivierung aller Lebensprozesse beiträgt, wie sie die soziale Effizienz des gestalteten Raumes und die Identifikation der Bewohner mit ihrer Umwelt erhöht, wie sie letztlich der allgemeinen Emanzipation der Menschen einige räumliche und symbolische Voraussetzungen schafft.
Wir sollten unsere Leitbilder am Ausgang unseres Jahrhunderts nicht kurzatmig formulieren, und wir sollten die vorbildlichen Elemente unseres ästhetischen Ideals zuerst dort suchen, wo die Lösungen ganzheitlich waren. So wunderlich es auf einem Bauhauskolloquium heute noch erscheinen mag, ich möchte am Ende meines Vortrages an die griechische Antike erinnern. Die Bauhäusler hatten die Akropolis nicht zu ihrem Symbol gemacht. Von der Antike war im 19. Jahrhundert wenig Inhalt, es waren vor allem korrumpierte Formen übriggeblieben. Sie konnten negiert oder ironisiert werden, wie es die zwanziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts taten. Sie können aber auch nach ihrem Ursinn hinterfragt werden, nach der großartig gelungenen baulichen Inszenierung der Gesellschaft, nach dem intimen, kunstvollen Verhältnis von Bauwerk, Mensch und Landschaft, von Kultur und Natur. In diesen Elementen kann die antike Architektur unserem Ideal recht nah sein, mag uns auch Zeus, der Tympanon oder die Säulenreihe fern liegen.
Wir brauchen ein tiefes Verständnis der Baugeschichte, aus der wir Erfahrungen, nicht Formen sammeln wollen, wir brauchen aber auch die konkrete Dialektik von kurzen und langen Schritten in die Zukunft. Um die nächsten praktischen Schritte richtig zu lenken, brauchen wir die geistige Auseinandersetzung um eine formal offene, doch sozialkulturell klar definierte Vision humanistischer Architektur der Zukunft als ein dringendes Erfordernis.