Eine politische Ästhetik der Architektur in 15 Thesen. In diesem Text wird 2 Jahre vor dem Untergang der DDR und quasi eine fast 20-jährige Forschungsarbeit zusammenfassend, eine offene Utopie der Architektur entwickelt, die dem Humanismus verpflichtet ist und „sozialistisch“ genannt wurde.
Olaf Weber
Entwurf einer Leitlinie sozialistischer Architekturgestaltung
(Thesen)
Die internationale Architektur befindet sich in einer Phase der Umorientierung, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften initiiert wird. Auch Städtebau und Architektur der DDR werden in den kommenden Jahrzehnten bedeutenden Veränderungsprozessen unterworfen sein. Auf diesen Entwicklungsweg werden nicht nur Technologien, Baustoffe und Bausysteme ausgetauscht und qualifiziert werden, auch die Planung, Projektierung und Baudurchführung – also das gesamte System des gesellschaftlichen Hervorbringens von Architektur – werden sich verändern.
Die vorliegende Leitlinie der Gestaltung befasst sich mit den ästhetischen Aspekten dieser Entwicklung. Sie hat programmatischen und methodischen Charakter und soll die Diskussion um die Zukunft der ästhetischen Kultur im Sozialismus befördern. Darüber hinaus will sie aber auch Orientierungen für die Bewertung der Gegenwartsarchitektur geben, die weltweit durch eine verwirrende Vielfalt gekennzeichnet ist und sowohl objektive Strömungen- als auch kurzlebige Moden einschließt. So stellt die mit einer Linie nur ungenau ins Bild gesetzte Leitvorstellung der Gestaltung auch einen Versuch dar, handhabbare Bewertungskriterien für die zeitgenössische Architektur aufzustellen.
Eine Leitlinie der Gestaltung ist weder ein ästhetisches Dogma noch ein offener Ausblick nach allen Seiten. Sie sondert die Orientierungen, die sie gibt, von fremden Leitbildern deutlich ab, doch sollte sie sich nicht oberflächlich, sondern in der Tiefe der ästhetischen Kultur abgrenzen. Eine solche Leitlinie muss nicht nur ständig den sich veränderten Bedingungen angepasst, sondern auch immer wieder geprüft, revidiert und präzisiert werden. In der Dialektik von Zielen, Mitteln und Wegen, von Allgemeinem und Einzelnem, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft liegt ihre schöpferische Potenz. Sie ist nicht nur ein Element „konkreter Utopie», sondern auch ein Instrument zur Durchsetzung einer historisch konkreten sozialkulturellen Architekturauffassung und deshalb mit konkreten Formvorstellungen durchsetzt, doch sollen diese keinen normativen Charakter erhalten. Die Leitlinie muss das kreative Feld beschreiben, das zwischen den Gestaltungsnormen der Entwurfspraxis und der Offenheit eines weitreichenden gesellschaftlichen Ideals liegt. Die damit verbundene Architekturprogrammatik zielt in denjenigen Momenten, in denen sie historisch begrenzt ist, auch auf Elemente eines Stile. Damit orientiert sie aber nicht auf die Festschreibung von formalen Merkmalen, sondern auf die Beschreibung von Zielen und Verfahren, denen methodisch-stilistische Orientierungen innewohnen.
Als programmatischer gedanklicher Entwurf kann die Leitlinie ihre Umrisse nur aus einem gesellschaftlichen Ideal beziehen, das weit genug in der Zukunft verankert ist, so dass sich ein produktiver Widerspruch zur aktuellen Praxis einstellt. Die Baupraxis bildet mit Ihren technologischen Schemata. ihren funktionellen Standards und ästhetischen Konventionen den zu akzeptierenden und zugleich den zu überwindenden Ausgangspunkt. Das gestalterische Leitbild fügt Gestaltungsgesetze, Normative,Werte, Kriterien usw. zu Aussagen zusammen, in denen gesellschaftliche Orientierungen bis weit in die Zukunft vorgedacht, den Wegen und Mitteln breite Entfaltungsmöglichkeiten gegeben und zugleich die konkreten Bedingungen und nächsten Schritte der ästhetischen Kultur markiert werden.
Die vorliegende Gestaltungskonzeption hat natürlich ihre historischen Vorläufer und in der internationalen Arena ihre zeitgenössischen Konkurrenten. Sie beruft sich in wichtigen Punkten auf den Avantgardismus der 20er Jahre. Damals wurde versucht, auf die Herausforderungen unseres Jahrhunderts neue Antworten zu finden. Doch es gibt mindestens drei Gründe dafür, die Architekturkonzeptionen der 20er Jahre einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen.
Erstens besteht der historische Abstand eines dreiviertel Jahrhunderts, in dem wichtige gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden haben. Während die technologische Entwicklung des Bauwesens der 20er Jahre dahin ging, die Voraussetzungen für eine Serienfertigung der Bauhauptmasse nach dem klassischen Typ der Industrialisierung zu schaffen, geht es heute mehr und mehr um offene Bausysteme und eine flexible Produktion mit Hilfe der automatischen Informationsverarbeitung. Während es damals naheliegendes Ziel war, Wohnraum für das Existenzminimum zu schaffen, geht es im Sozialismus zunehmend um die qualitative Erhöhung der räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten Bevölkerung, deren persönliche Entfaltung und solidarische Beziehung. Während es damals darum ging, den Ballast der nur noch materiellen Reichtum darstellenden (oder vorspiegelnden) Schnörkel und Verzierungen abzuwerfen und die Schönheit der Sachlichkeit pathetisch zu demonstrieren, geht es heute um die Neuformulierung einer architektonischen Formensprache, die in der Lage ist, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Lebens im Kontext der städtischen oder dörflichen Kulturen mit Hilfe eines umfassenden Gestaltungsrepertoires auszudrücken.
Die Architektur des entwickelten Sozialismus wird sich sowohl in der Komplexität ihres theoretischen Modells, ihrer Zielrichtung, wie auch in ihren konkreten Ergebnissen von der Architektur der „Neuen Sachlichkeit“ in wichtigen Momenten unterscheiden, aber auf keinen Fall hinter sie zurückgehen. Sie muss sich genügend weit von der Avantgarde der 20er Jahre entfernen – ohne allerdings deren kühne Denkansätze und humanen Lösungsversuche zu desavouieren; dort waren mutige Vordenker, deren Thesen dialektisch aufzuheben sind.
Die vor uns liegende Phase der Architekturgestaltung ist von modernen Bauen der 20er Jahre durch einen Entwicklungssprung getrennt. Wer diesen Sprung nicht anerkennt, wird die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben mit einer antiquierten Elle messen.
Der zweite Grund für unsere Distanz zur Moderne ist deren Veranlagung zu einer gesellschaftlichen Aneignung, die sich den Sachzwängen scheinbarer Zweckrationalität allzu leicht ergibt und in dieser Beschränkung auch real vollzogen wurde. Trotz des vielfach vorgetragenen sozialen Bekenntnisses waren die Grundsätze der Moderne gesellschaftlich erstaunlich ambivalent und wurden schnell in eine profitwirtschaftlich orientierte „Sachlichkeit“ ungedeutet. „Das Konzept der Zweckmäßigkeit wurde schnell in das der (kapitalistischen) Rentabilität umgewandelt. Die anti-akademischen Formen wurden zum Dekor der herrschenden Klasse. Die rationelle Wohnung verwandelte sich in die Kleinstwohnung, die Cité radieuse in die Großsiedlung, die plastische Stränge in Armseligkeit.“ (C. Schnaidt) Die begrenzten funktionalen Ansätze verkümmerten bald wieder; selbst der Utilitarismus wurde nur eingeschränkt verwirklicht. Die einschneidenden politischen Veränderungen der 30er Jahre wie die Machtergreifung des Faschismus und sein Eingriff in die Architekturentwicklung begünstigten demagogische Formensprachen und verhinderten die organische Weiterentwicklung der Moderne. Der nach dem 2. Weltkrieg einsetzende „Wirtschaftsfunktionalismus“ und Pragmatismus stand nur unter einigen oberflächlichen Aspekten in der Traditionslinie des Neuen Bauens.
Drittens gaben die Grundsätze und Bauten der Moderne selbst Anlass zu begründeter Kritik. Die Moderne war einerseits ein kulturrevolutionärer Akt zur Erneuerung der gegenständlichen Umwelt und Kunst, andererseits reihte sie sich ein in die Pendelbewegungen der bürgerlichen Kultur, die immer größere Ausschläge zu extremen Positionen benötigt, um das verunsicherte Interesse des Publikums und der Bauwilligen wach zu halten. In der einfachen Negation vieler positiver überkommener Werte, in der Vernachlässigung des Geschichtlichen, des Lokalen, des Emotionalen, des Individuellen und des Prinzips der Verständlichkeit, im unkritischen Verhältnis zum technischen und wirtschaftlichen Fortschritt liegen die problematischen Momente der Moderne.
Trotz des teilweise leidenschaftlichen subjektiven Engagements zur Überwindung der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung, der Entfremdung und der Arbeitsteilung war das Neue Bauen insgesamt deren Ausdruck und schuf in den Konzeptionen zur Funktionstrennung in der Stadt, in der Wohnung und allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die verräumlichte Form spätbürgerlicher Verhältnisse.
Diese Einschätzung gilt natürlich erst recht für den Pragmatismus des „Internationalen Stils“ der ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg, doch auch für das Sammelsurium des „Postmodernismus“. In seiner gesellschaftlichen Funktion ist der Postmodernismus auch ein „dominierender Gegenpol allen konservativen und traditionalistischen Denkens“ (R. Weimann) und enthält teilweise ein ungewöhnliches Protestpotential, doch er ist nicht der von seinen Apologeten gepriesene große Alternativentwurf zum verflachten Modernismus, sondern stellt sich mehr als dessen aufgemotzte, bebilderte Fortsetzung dar. Die radikale Kritik an den gebauten Kisten soll dabei über die weiter unbewältigten Probleme hinwegtäuschen, eine nicht stattgefundene fundamentale Erneuerung des Bauens suggerieren und die innovativen Potentiale im Ästhetischen verbrauchen.
Viele Anhänger der neuen Ästhetik kritisieren zwar zu Recht die Erscheinungen von Monotonie und Ausdruckslosigkeit der Nachkriegsarchitektur, verbleiben aber auf derem Niveau, indem sie lediglich die Kisten mit aufwendigem, dekorativem Beiwerk historischer oder warenästhetischer Herkunft behängen. Waren die Visionen der Moderne noch kühne Projektionen auf eine unklare gesellschaftliche Zukunft, begnügt sich der neue Ästhetizismus mit der Revision ästhetischer Merkmale derjenigen Architektur, die die Ideale der Avantgarde längst verraten hatte. Indem er die monotonen Entartungen der Moderne zum Gegenstand einer flinken und oberflächlichen Kritik erhebt, und eine überkodierte Fülle ästhetischer Mittel proklamiert, kennzeichnet sich der Postmodernismus vor allem als Architekturkonzeption für die Phase der kapitalistischen Überproduktion, in der er die Funktion übernommen hat, neue Produktionsanreize für die Bauindustrie zu stimulieren. So nimmt es nicht Wunder, dass der Postmodernismus in der notwendigen Kritik am „Internationalen Stil“ nicht tief genug geht.
Eine fundamentale Kritik der Ästhetik der zeitgenössischen Architektur muss deshalb das Heterogene von Moderne und Postmoderne wechselseitig einschließen. Eine Leitlinie der Gestaltung im Sozialismus wird ihren Anspruch nicht gerecht, wenn sie sich lediglich als Modifikation der „Neuen Sachlichkeit“ versteht, doch auch eine Orientierung an den fremdbestimmten Formillusionen der Postmoderne muss die Züge dessen verzerren was wir programmatisch als Leitlinie der Gestaltung anstreben. Indem eine solche Leitlinie den Unternehmerfunktionalismus und die technokratische Architektur hinter sich lässt und sich von formalistischen und nostalgischen Erscheinungen abgrenzt, schafft sie wichtige Voraussetzungen, um ihre instrumentelle Potenz in Richtung auf eine gebrauchsfähige, langlebige, anpassungsfähige, ausdrucksvolle und schöne bau1iche Umwelt zu entfalten.
Die in den letzten Jahren international durchgeführten Formexperinente haben, sobald sie über reine Schaueffekte hinausgingen, eine neue Sensibilität für die Architektur und die ästhetische Umweltgestaltung geschaffen, doch eine neue ganzheitliche Architekturqualität ist daraus noch nicht hervorgegangen. Auch die Hinwendung zu historischen Formadaptionen in der DDR-Architektur hat zwar manchmal die Unverträglichkeit der groben Bautechnologie mit historischen Strukturen gemildert, ohne jedoch die komplexen Voraussetzungen einer neuen Baukultur und die Elemente einer neuen Formensprache auszubilden.
Die Impulse für eine ästhetische Erneuerung der Architektur erwachsen vielen Elementen der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ökologische Erneuerung von Städtebau und Architektur ist ebenso wie die demokratische Einbeziehung der Bürger in die Stadt- und Bauplanung und der Computereinsatz in der Projektierung und Baudurchführung eine dieser Quellen ästhetischer Innovationen.
Gestalterische Maßnahmen sollen diese gesellschaftlichen Prozesse des Bauens mit ästhetischen Impulsen durchsetzen helfen, sie können sie aber nicht – als bloße Dekoration – ersetzen.
Die folgende Leitlinie will einen theoretischen Rahmen bilden, der aufzeigt, wie diese grundlegenden Veränderungen des Bauens mit ästhetischer Kultur akkumuliert werden können. Jede Entwurfslösung kann an ihr gemessen, doch nicht aus ihr abgeleitet werden.
Thesen
1. Das Ziel der Gestaltung ist eine Gebrauchs- und Kulturwerterhöhung der Architektur im Dienste der realen Ansprüche der Menschen an eine humane Umwelt , die ihnen Schutz, Halt und Orientierung gibt.
Die Architektur ist sowohl dritte Haut des Menschen, die seinen sozialen Organismus umschließt als auch ein Kulturprodukt, das zur erweiterten Reproduktion der Städte und Siedlungen beiträgt als auch ein Erzeugnis der Bauproduktion, das dem Kreislauf mit der Natur angehört. Die Realisierung jeder einzelnen Funktion wie auch ihres Zusammenhanges ist eine Aufgabe von komplexem Zuschnitt, die höchste gesellschaftliche Wertschätzung beansprucht.
Die gesellschaftliche Funktion der Architektur im Sozialismus besteht in ihrer allgemeinsten und wesentlichsten Bestimmung darin, mit baulichen Mitteln den sozialen und kulturellen Emanzipationsprozess ihrer Bewohner zu fördern. Alles Menschliche fügt sich zu ihrem Maßstab. Die sozialistische Gestaltungskonzeption orientiert auf eine gesellschaftliche Funktion der gebauten Umwelt, die die soziale Effizienz des Raumes erhöht, die den solidarischen Beziehungen und der Ausbildung entwickelter Persönlichkeiten dienlich ist, die subjektive Produktivität der Individuen fördert, geistige und emotionale Potenzen stimuliert und dabei entwickelte Beziehungen zu den natürlichen und kulturellen Eigenarten des Standortes herstellt. Sie orientiert auf einen
großen Beziehungsreichtum zwischen Bauwerk, Mensch und Natur und trägt bei zur räumlichen Koordination der durch kapitalistische Arbeitsteilung getrennten Lebensfunktionen, zur Herausbildung einer lebendigen Massenkultur und zur komplexen, selbstbestimmten Verfügung über die gegenständliche Umwelt.
Im Widerspruch zur sozialistischen Richtung der Gebrauchs- und Kulturwerterhöhung stehen all diejenigen Bestrebungen, die hauptsächlich oder lediglich auf den Marktwert fixiert sind, die auf Exklusivität, auf Gewinn- oder Repräsentationssucht, auf soziale und kulturelle Segregation ausgerichtet sind, die Entfremdung, Abhängigkeit, Täuschung, Illusion und Zukunftspessimismus fördern oder auch nur die ganzheitliche Aneignung von Architektur behindern. Im politisch-sozialen Bereich, nicht im Reich der Formen, ziehen wir die wesentlichen Scheidelinien zu anderen Konzeptionen. Die Orientierung auf das Solidarprinzip sozialer Bedürfnisbefriedigung erfordert ganzheitliche und dauerhaft-anpassungsfähige Ergebnisse. Ihnen ist der Drang zu modischem, schnellem Verschleiß, zu Styling, zu Effekthascherei und oberflächlicher, leerer Dekoration zuwider.
2. Gestaltung ist ein Optimierungsverfahren, bei dem Zwecke und Mittel in Beziehung gesetzt werden. In diesem Sinne ist Gestaltung funktional. Die Funktion ist ein Bindeglied zwischen Anforderung und Wirkung; sie ist das eigenschaftliche Verhalten der baulichen Umwelt im Prozess ihrer aktiven Aneignung durch die Nutzer (durch die Bewohner, Touristen usw.). Die spezifischen Anforderungen an Stadt-, Bau- und Produktgestaltung liegen in den besonders komplizierten, dialektischen Beziehungen von materiellen und ideellen Momenten, die den Nutzern gegenüber den Charakter von (materiellen und ideellen) Funktionen annehmen. Der Funktionsbegriff wird nicht deshalb zu einer wichtigen Kategorie erhoben, um die Dominanz der Zwecke über den Ausdruck zu postulieren, sondern die der Zwecke über die Mittel.
Das allgemeine Problemlösungsverfahren in der Architektur ist das Entwerfen. Gestalten ist dessen ästhetischer Aspekt. Architektonisches Gestalten ist der Prozess der Integration von ästhetischer Kultur in alle Ebenen des Entwurfes und der realen Architektur. Die ästhetischen Eigenschaften der Architektur werden im Zusammenhang mit allen anderen Anforderungen an das Bauwerk in einem entwurfsmethodischen Verfahren festgelegt, das auf einem Wechselspiel von Analyse- und Synthesephasen basiert. Dabei sind Zwecke und Mittel in mehreren Ebenen geschichtet, die Mittel wirken auf die Zwecke zurück.
Die Gestaltungstheorie gibt Auskunft über (historisch, sozial und lokal veränderliche) Mittel- Zweck-Implikationen und bietet Strategien zur Lösung von Zielkonflikten bei komplexen Aufgaben. Funktional vorgehen heißt, von gesellschaftlichen Zielstellungen ausgehend, möglichst alles andere zu verfügbaren Mitteln zu machen, auch das technisch und ästhetisch Vorgefundene.
Doch orientiert die sozialistische Gestaltungskonzeption nicht auf einen zweckrationalistisch gedachten Funktionalismus, auch nicht auf einen erweiterten, die ideell-ästhetischen Momente einschließenden Determinismus, der von eindeutigen Zweck-Mittel-Beziehungen ausgeht und mit der baulichen Struktur die vermeintlich zugehörigen Verhaltens-, Denk- und Empfindungsweisen gleich mitproduzieren will.
Die gestalterische Lösung entsteht unter Beihilfe von Funktionsuntersuchungen, ist aber weder deren direkte Folge noch kann sie die Gesamtmenge aller realen und potentiellen Wirkungsbeziehungen und Aneignungsweisen festlegen. .
Andererseits bedienen auch die radikal offenen oder subjektivistischen Konzeptionen, nach denen alles Geschaffene seine Verwendung und seine Interpretation finden werde, nur eine Seite der dialektischen Einheit. Die strukturellen Beziehungen zwischen Mitteln, Zwecken und Wirkungen sind nicht eindeutig, doch auch nicht zufällig; es sind Wahrscheinlichkeitsvariable, die kulturell determiniert sind. Die Architekturgestaltung schafft nicht nur Räume als umhüllte Leere, sondern auch Freiräume der sozialkulturellen Aneignung, die die Potenz einer Neubewertung, Neuinterpretation und Neunutzung der gebauten Umwelt enthalten sowie spontanes und emotionslos Reagieren auf die bauliche Vorgabe ermöglichen.
3. Widersprüche sind Agentien der Gestaltung, das Aufspüren der Widersprüchlichkeit und Komplexität der Anforderungsstruktur ist der analytische Kern der Gestaltungstätigkeit. Für den inneren Hauptwiderspruch der Architektur ist ein Komplex von physikalischen Eigenschaften Voraussetzung, die das statische Gefüge des Baues sichern und durch Umhüllung und konstruktive Maßnahmen die technische Funktion der Architektur gewährleisten. Auf der Basis dieser voraussetzenden Schutz-, Trag- und Hüllfunktion entwickelt sich die Dialektik von materiell-praktischen und ideell-ästhetischen Ansprüchen und Einflüssen der Architektur von Bauaufgabe zu Bauaufgabe unterschiedlich. Der architektonische Funktionskomplex ist außerordentlich umfangreich. Zu ihm gehören auch poetische Gestalten und sensitive Wirkungen – auch wenn sie keinen direkten instrumentellen Bezug haben. Architektur nimmt Einfluß auf das äußere (praktische) und auf das innere (ideell-ästhetische) Verhalten der Nutzer. Die Proportionen zwischen beiden Seiten, ihre Gewichte und Aufwendung, sind nicht als ein vorgefaßtes Axiom festgelegt, sie werden vom Typ der Bauaufgabe und der konkreten räumlichen und kulturellen Situation, also von den Bedingungen diktiert. Diese müssen darüber entscheiden, „in welchem gestaltreich der einzelne bau steht“ (H. Häring).
Kultur, Natur und Umwelt sind die der architektonischen Komplexität adäquaten Begriffe. Die Form folgt nicht dem praktischen Zweck, dem Material oder der Herstellung – das auch, sondern einer aus den Interessen der Nutzer hervorgehenden Gesamtvorstellung von Kultur und Umwelt. Nicht einzelne Funktionen werden optimiert, sondern die Gesamtheit der Anforderungen und Beziehungen wird in der Totalität der Widersprüche funktionalisiert. Gestaltung muss zuerst die Höhe eines so allgemeinen Funktionsbegriffes aufsuchen, um danach umso genauer die verschiedenen Charaktere der (ästhetischen) Wirkungsbeziehungen zu unterscheiden. An einer komplexen Funktionalität gemessen treten konzeptionelle Mängel nicht als Verabsolutierung der Funktion, sondern als deren relativer Begrenzung, falscher Rangigkeit oder enger Determiniertheit auf. Die Funktionalität der Architektur und die Aneignungskraft der Nutzer überlagern sich im Freiraum ihres tatsächlichen Zusammentreffens.
Beim Entwerfen stehen objektive und subjektive Momente, ökonomische und kulturelle, rationale und emotionale, wissenschaftliche und künstlerische… Aspekte in einem Spannungsverhältnis. Die einander divergierenden Anforderungen fordern die Kreativität des Architekten heraus. Der sachkundigen Gestaltlogik ist das Spiel mit Formen und Farben zugesellt, das nicht selten bedeutsame Innovationen hervorbringt. So ergänzen sich analytisches Denken und architektonische Phantasie wechselseitig. Spiel und Phantasie sind die Korrektive des funktionalen Denkens. Wo sich eine lebendige Kultur mit allen ihren Widersprüchen in den baulichen Strukturen vergegenständlichen kann, dort sind die Häuser – obwohl aus Stein oder Stahl gebaut – lebendige, wandlungsfähige Individuen, die umso besser funktionieren, je ähnlicher ihre Komplexität der alles Natürlichen ist.
Der Architekt ist für die Einheit der Architektur verantwortlich, doch keine formale Einheitlichkeit ist das Ziel, sondern eine lebendige Einheit der Widersprüche. Im Entwurfsprozess wird, die Dialektik der Anforderungen in eine architektonische transformiert, ohne die verschiedenen Divergenzen – zum Beispiel zwischen Außen und Innen – zu tilgen.
Im Gegensatz zur Ganzheitlichkeit dieses Verfahrens steht die reduzierte Architektur des Utilitarismus, des Ästhetizismus, Formalismus, Technizismus oder anderer Ismen, in der die Komplexität und Widersprüchlichkeit entweder bereits in der Anforderungsstruktur oder im Ergebnis einer fehlerhaften Entwurfsprozedur verkümmert ist. Äußerliches Nachbessern und falsche Fassaden sind oft deren Folgen. Widersprüchliches verliert sich dann aus den dialektischen Zusammenhängen und wird zum aufgesetzten Dekor.
4. Die Anschauung ist dem Gebrauch integriert. Architekturgestaltung zielt auf Aneignung der gebauten Umwelt, nicht lediglich auf das verräumlichte Tätigsein der Nutzer (wie im Utilitarismus) oder lediglich auf erbauende Anschauung (wie im Ästhetizismus). Im Aneignungsprozess verschmelzen Tätigkeit und Anschauung durch das jeweils Andere zu einer architekturspezifischen Verhaltenseinheit. Auf diese Weise wird die Nützlichkeit der Architektur zur komplexen Verfügbarkeit der Menschen über ihre bauliche Umwelt ausgeweitet und der ästhetische Genuss entwickelt sich aus dem gesamten räumlichen Verhalten in gebauter Umwelt. An der Wahrnehmung und ästhetischen Wertung sind alle Sinne beteiligt. Architektonisches Erleben ist ein synästhetischer Prozess von außerordentlich komplexem Zuschnitt, der das Empfinden von Raumbewegung, das Begreifen von Handhabung und Nützlichkeit einschließt.
Die zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Fonds bestimmen den Gesamtaufwand für das Bauen, legen aber nicht das Wertgefüge zwischen dem Praktischen und dem Ästhetischen fest – etwa in dem Sinne, dass zuerst die praktischen Anforderungen an das Bauen erfüllt sein müssten, bevor die ästhetischen Ansprüche an die Reihe kämen. Die sozialistische Architekturgestaltung setzt die soziale Wertordnung anders: Nicht die materiell-praktischen dominieren über die ideell-ästhetischen, wohl aber die Grundbedürfnisse (die sich immer auf Gebrauch und Wahrnehmung beziehen) über die Luxusbedürfnisse (über Weiterreichende Anforderungen).
5. Die Form soll informieren, orientieren und unterhalten. Die ästhetische Funktion der Form besteht darin, wichtige strukturelle, funktionelle und historische Bezüge, die die Menschen kennen (oder empfinden) müssen, um sich in ihrer Umwelt einzurichten, auf ästhetisch genussvolle Weise zu vermitteln. Die Form stellt einerseits eine Hilfe bei der Organisation von Lebensprozessen dar, indem sie nutzertechnologische und räumliche Zusammenhänge artikuliert. In diesem Sinne dient ihre Aussagekraft dem aktuellen Gebrauch.
Zweitens gibt sie langzeitliche Orientierungen im Wertesystem der herrschenden Kultur. Dabei vereint sie ihre kulturelle Potenz mit anderen Bereichen der gegenständlichen Umwelt, mit den Medien und der Kunst. Letztlich dient sie auch dem ästhetischen Genuss, indem ihre ästhetischen Merkmale sowohl untereinander als auch zum Menschen, besonders seinem Wahrnehmungssystem und seinen konkreten ästhetischen Bedürfnissen zur Übereinstimmung kommen. Das Schöne ist aber nicht das formale Gleichmaß einer oberflächlichen Harmonie, sondern ein Urteil über die Angemessenheit einer durchaus auch widersprüchlichen Umwelt mit unserer Befindlichkeit in der Wahrnehmung, beim Gebrauch, in der Aneignung.
Die Architekturform umfasst die Gesamtheit der sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der baulichen Umwelt, alles Ausdrucks- und Bedeutungsvolle der Architektur. Indem sie sich präsentiert, repräsentiert sie zugleich nicht wahrnehmbare Eigenschaften der Architektur oder ihrer Umgebung, Beziehungen,Prozesse usw.. Sie vermittelt diese durch Bilder, Anzeichen und Symbole, einiges wird logisch, anderes assoziativ in Erinnerung gebracht.
Die Träger der Aussagen sind in widersprüchlicher Einheit zugleich materielle Funktionsträger. Der Inhalt der Aussagen bezieht sich in engerem Sinne auf Eigenschaften des Ausdrucksträgers, im weitesten Sinne stellt er die Gesamtheit der Ideen und Emotionen dar die mit der betreffenden Architektur in Zusammenhang gebracht werden. Die Form ist Ausdruck des praktischen Gebrauchs und widerspiegelt einige faktische Bedingungen der Herstellung. Sie ist aber auch eine weitgefächerte Deutung des Lebens der Gesellschaft und ihrer Kultur. Gestaltung bemüht sich, den engeren und den weiteren Gehalt, die Bedeutung und den Sinn der Form in einen Zusammenhang zu bringen. Wie der zentrale Kern der architektonischen Funktionalität darauf orientiert ist, den Umgang mit ihr zu optimieren, so besteht auch der Kern der architektonischen Aussagen aus praktischen Informationen, die alle anderen ästhetischen Aussagen durchdringen. In der Transzendenz der Gebrauchsanweisungen in die Kunstwerte der Architektur liegt ein wesentlicher Inhalt der Gestaltung. In der baulichen Form werden die Funktionsbeziehungen der Architektur und ihre Konstruktion auf eine künstlerische (und manchmal weitschweifige) Weise mit baulichen Mitteln interpretiert.
Auch hierbei sind dualistische Lösungen abzulehnen, z. B. solche, die den Formen einen der praktischen Bedeutung unverträglichen Sinn geben, oder solche, bei der sich die „Fiktion“ oder die „Thematisierung“ von der Bauaufgabe zu weit entfernt hat oder aufgesetzt bleibt. Die angestrebte Einheit entwickelt sich aus dem Zusammenhang der Inhalte und der Codesysteme, während die stoffliche Hüllform von der Bauhauptstruktur konstruktiv durchaus losgelöst sein kann. Dekorationen sind dann abzulehnen, wenn sie nur oberflächlich und verschleiernd Bedürfnisse nach Vielfalt abdecken, ohne einen semantischen Bezug zur sozialräumlichen Wirklichkeit zu entwickeln. Architektonische Aussagen sollen wahr sein, doch nicht im Sinne der mechanischen Widerspiegelung, sondern nach dem Charakter künstlerischer Aussagen. „Konstruktive Wahrheit“, „Materialgerechtigkeit“ usw., sind zugleich richtige Orientierungen wie auch dogmatische Begriffe. Optische Täuschungen können zu künstlerisch richtigen Wahrnehmungen führen, doch Imitationen und andere illusionäre Gestaltungen sind dann problematisch, wenn sie (zum Vorteil billiger Effekte) das Vertrauensverhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt zerstören.
6. Formen sind Anzeichen und Symbole. Formen sind mit den Bedeutungen und Aussagen, die sie tragen, durch unterschiedliche, oft labile und zerbrechliche Strukturen verbunden. Da unsere Gestaltungsprogrammatik zuerst an Zielen und Funktionen orientiert ist, legt sie dort auch die klarsten und wesentlichsten Kriterien fest. Auf den unteren Ebenen der Gestaltungsmittel indessen gibt sie nur Orientierungen oder ist völlig offen. Deshalb ist die Formenwahl aber nicht zufällig oder subjektiv. Die Gestaltungsmittel werden aus dem (immer offenen) Repertoire eines raumzeitlich konkreten Kulturkreises und in dialektischer Einheit zu den praktischen und technischen Konditionen entsprechend ihrer Eignung dafür ausgewählt, in der historisch und räumlich konkreten Gestaltungssituation den erstrebten Inhalt auszudrücken bzw. eine Wirkungsabsicht realisieren zu können. Sie gewinnen ihren Wert nur in ihrer inhaltlichen Beziehung, die sich meist erst in der Kombination und Konkretisierung zu baulichen Gebilden entwickelt. Formen oder Formenmerkmale „an sich“ sind wertfrei, Formen werden nach ihrer ästhetischen Funktion beurteilt. Eine Gestaltungsprogrammatik, die auch nur ein einziges derjenigen künstlerischen Mittel nicht zu integrieren weiß, das einen relevanten Wirklichkeitsbezug an eine Gruppe von Menschen zu vermitteln vermag, ist reduziert, ist formalistisch. In das Repertoire ästhetischer Mittel sind auch Symbole, Motive, bildhafte Zeichen, Metaphern, Zitate, Verfremdungen usw. eingeschlossen. Nicht ihre Zugehörigkeit zum Repertoire der Gestaltung ist Gegenstand der Bewertung, sondern ihre konkrete gesellschaftliche Verwendung.
Das Gestalten zielt nicht lediglich auf eine formale Schönheit oder Harmonie, sondern auf Aussagen und Wirkungen, deshalb untersucht die Gestaltungstheorie die komplizierten Beziehungen von Formen und Inhalten. Sie sind teils festgelegt – z. B. bei Anzeichen, die den Fakt, aus dem sie ursächlich hervorgingen, durch logisches Denken erschließen lassen; Symbole hingegen haben ihre Bedeutung durch einen bewußten Akt der Sinngebung erhalten, sie kann u.U. auch ausgewechselt werden. Die Architekten überprüfen die Sinngehalte der Formen, verwenden aussagekräftige Gestalten, versuchen die Neuinterpretation wichtiger Formen, Formenmerkmale oder Gestaltungsprinzipien, wenn ihr Sinngehalt den humanistischen Orientierungen nicht entspricht und erfinden neue Träger architektonischer Aussagen.
Die genannten Mittel sind geeignet, künstlerische Wirkungen zu fördern. Das Künstlerische ist als ein konzentrierter, ausdruckstiefer Modus des Ästhetischen ein Moment der Gestaltung. Dabei bleibt gültig, dass die Architektur und die Gebrauchsgegenstände dem Umweltbegriff viel näher stehen als dem Kunstbegriff. Doch erst auf diese Totalität des Künstlerischen geweitet, werden die Anforderungen einer sozialistischen Gestaltungskonzeptlon erfüllt.
7. Gestalten ist das Formulieren von architektonischen Aussagen mit baulichen Mitteln. Die Gestaltungsmittel sind der ästhetisch manipulante Teil der Formen – im Idealfall deren Gesamtheit. Das Formulieren, also die Produktion von architektonischem Ausdruck, ist ein Prozess, in dem das Ergebnis durch Figurieren, Modifizieren, Selektieren und Kombinieren von bedeutungstragenden und meist materiellen Zwecken dienlichen Formen gebildet wird.
Das Bestreben, auch die Form in der eingangs beschriebenen Weise zu funktionalisieren, bindet die Form in kommunikative Zusammenhänge. Die Menschen nutzen die baulichen Formen seit den Ursprüngen der Architektur zur Speicherung und zur Weitergabe von sozialen Erfahrungen. Mit den Formen werden ihre Inhalte, Assoziationen, Emotionen, Werte usw., die ihnen auf Grund einer sozial-kulturellen Übereinkunft zukommen. ins Bild gesetzt, so dass das Leben in gebauter Umwelt auch eine Existenz inmitten gebauter Aussagen und bewusst vergegenständlichter Ideen ist. Im Prozess der Vermittlung findet teilweise rhetorische Kommunikation statt, d.h., die Nutzer worden zu einem bestimmten Denken, Fühlen oder Verhalten aufgefordert, teilweise werden praktische und ästhetische Impulse geliefert, die umgedeutet und interpretiert werden, letztlich gibt es auch Formaspekte als leere Speicher, denen erst im Gebrauch ein Inhalt zugesprochen wird.
Auffälligkeit und Ausdruckskraft der baulichen Umwelt richten sich nach ihrer konkreten Funktion; gegenüber dem Leben der Menschen sollte Architektur immer Hintergrund bleiben. Sie spricht selten laut, doch sollte sie alles aussagen können, was die Rezipienten im Interesse eines entwickelten Verhältnisses zur Architektur erfahren wollen.
Die kommunikative Funktion der Form macht es notwendig, dass sich Gestaltung an den Möglichkeiten und Gewohnheiten zur Wahrnehmung und Interpretation der baulichen Formen orientiert. Die Fähigkeit der Formen, soziale Erfahrungen, zwischen denen zu vermitteln, die mit Architektur umgehen, ist an ihre Fasslichkeit gebunden. Die Verständlichkeit ist deshalb eine Grundfunktion der baulichen Form. Sie ist die Eignung, in einer bestimmten historischen und lokalen Situation, einen geistigen Impuls an eine Gruppe von Menschen zu vermitteln. Funktionale Verständlichkeit zu Zwecken der Kommunikation steht im Widerspruch zu elitären Haltungen, denen der Publikumsgeschmack unwichtig ist, sie ist aber auch nicht zu verwechseln mit seichter Eingängigkeit, aus der dem Kitsch seine zweifelhaften Reize erwachsen. Kitsch ist die Gefälligkeit unverbindlicher und aufregender Surrogate. Auch das einfache Bedienen eines kulturell gespaltenen Publikums – der großen Masse, die simple, gängige Ausdrücke zu erwarten scheint, und einer intellektuell hochstehenden, esoterisch gestimmten Elite – kann der Verantwortung sozialistischer Architektur nicht genügen (vgl. die postmoderne „Doppelkodierung“). Sie orientiert dagegen auf die Interstrukturen einer vielfältig vernetzten Formensprache, die in einem gesellschaftlichen Lernprozess zum Kulturgut für alle werden kann.
8. Die Form ist Element einer Formensprache. Die vielfältigen Anforderungen an die Form können nicht lediglich in einem Kompromiß vereint werden, sondern sie müssen einem außerhalb der Kompetenz des einzelnen Architekten befindlichen normativen System – einer Formensprache zugeführt werden; dabei wird diese durch den Gebrauch selbst verändert. Sie besteht aus kombinierfähigen Formelementen und Regel-systemen, die extreme Kreativität zulassen und zugleich eine Verständlichkeit des Ergebnisses sichern.
Die sozialistische Gestaltungstheorie zielt auf das Einfache. Doch nicht auf geometrisch einfache Formen, sondern auf die Einfachheit verständlicher Ausdrücke, die zugleich komplex und vielfältig sind. Gestaltung akkumuliert die Formen mit derjenigen Menge an technischen, praktischen,. sozialen, kulturellen, lokalen… Faktoren, die genau dem System der Anforderungen entsprechen. Die objektiven Anlässe bilden die Grundlage für eine differenzierte Formensprache, deren lokale und sozialkulturelle Differenzierungen ebenso der Bedingungsstruktur wie auch der Organisation des menschlichen Bewußtseins entsprechen sollten. Eine verständliche und ausdrucksvolle Sprache der Architektur muss funktions-, kontext- und adressatenbezogen sein.
Sprache ist an ein dialektisches Verhältnis von Einheit und Vielfalt ihrer Elemente gebunden. Im Gegensatz zum Systemcharakter der Sprache stehen diejenigen Formauffassungen, die entweder die isolierten Elemente und die Vielfalt überbewerten – wie auch solche, die nur auf wiederholbare Ordnungen und Zusammenhänge setzen. Erstere folgen dem eklektischen, letztere dem kanonischen Prinzip. Der (Neo) Eklektizismus , sammelt heterogene Formen(merkmale) aus verschiedenen Zeiten und Regionen und verbindet sie zu einer gefälligen (oder schockierenden) Kompilation. Im kanonischen Prinzip wird die Vielfalt durch ein harmonisierendes ästhetisches Dogma getilgt. Zu ihm zählen historisierende wie auch sich „modern“ (z. B. rechtwinklig) gebende Stilüberzüge. Beide Tendenzen vermindern die Ausdrucksfähigkeit der Architektur, sie sind gegen die Entwicklung der Form zur Formensprache gerichtet.
Die ästhetische Kultur tendiert im Sozialismus zur Vielfalt in der Einheit, also zum Pluralismus, nicht aber zu den disparaten Strukturen des Eklektizismus.
9. Der Stil und das Kolorit modifizieren die Formensprache. Die normativen Codes der Formensprache werden im Stil historisch variiert. Der Stil ist die historisch konkrete Verwendungsweise der Sprache und Ausdruck materieller und ideologischer gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich in einer spezifischen Geschmackskultur verfestigt haben. Die sozialistische Gestaltungstheorie anerkennt die Veränderungen in der gesellschaftlichen Psyche, doch lehnt sie subjektive Manieren, „Styling“ und Modisches ab, da diese Verfahren den moralischen Verschleiß ausserhalb der Produktivkraftentwicklung beschleunigen. Die profitwirtschaftlichen Pendelbewegungen des Modischen sind dem sich gesellschaftlich verändernden Duktus innerhalb eines ausdrucksfähigen und offenen Sprachsystems, dem Stil fremd. Das modische ist ein dem Einzelnen auferlegter Mitteilungszwang, die Sprache dagegen ein gesellschaftliches Angebot zum Ausdruck. Das Modische herrscht über das Individuum, während Sprache und Stil ihm die Kompetenz zur Aussage stiften.
Das ästhetische Kolorit fügt der Architektursprache neben dem Stil eine weitere Bedeutungsschicht hinzu. In diesen Stilfärbungen kommen die lokalen Besonderheiten, die subjektiven Prägungen durch den Architekten und der Selbstgestaltungswille der Bewohner zum Ausdruck.
Durch den Stil und seine Färbungen wird das Gerüst der Sprache in der Art von Ort und Zeit des Gestaltens ausgefüllt. Stil und Kolorit bilden die konnotativen Codes der architektonischen Sprache. Deren Bedeutsamkeit macht erklärbar, dass den Entwürfen der sog. „Rationalisten“ wichtige Komponenten der ästhetischen Aussage fehlen. Sie zielen auf die sprachlichen Grundmuster, auf die archetypischen „Hauptwörter“, sie wollen Sprache, aber nicht Stil, am wenigsten die Farbigkeit eines lebendigen sozialen Milieus.
10. Architektonische Typen sind baulich definierte Gestaltinvarianten für die Erfüllung von Raumbedürtnissen, in denen sich langzeitliche und massenhafte Erfahrungen verdichtet haben. Der Typus bezeichnet im Verhältnis zum „Standard“, der ein technischer Terminus ist, ein Kulturprodukt. Er basiert auf einer sensiblen Balance der praktischen, technischen und ästhetischen Anforderungen. Der architektonische Typus ist gegenüber dem Standard flexibel; er enthält eine positive Unschärfe in der Formulierung der konkreten Lösung, zugleich verfestigt der Typus die Breite möglicher Lösungen in bewährten Gestalten. Er vereinigt das Allgemeine einer massenhaften Erfahrung mit dem Einzelnen der raumzeitlichen Situation, das Typische der baulichen Kategorie mit dem Typischen des Ortes.
Die sozialistische Gestaltungstheorie und -praxis achtet die gültigen Erfahrungen und bewährten Lösungen, sie ist nicht neuerungssüchtig. Die Änderung der Lösung setzt eine Änderung der Anforderung voraus. Typologisches Denken hilft, das Wesen einer Bauaufgabe und das Charakteristische einer lokalen Situation zu erkennen – vor allem bei komplexen Anforderungen. Doch das typologische Entwerfen ist nicht der Umgang mit standardisierten Häusern oder Segmenten bzw. mit Wiederverwendungsprojekten. Standardisierungsprozesse sind nur auf der Ebene der technischen Mittel und der technologischen Ordnungen gültig, sie betreffen abgeleitete Aufgaben, während die architektonischen Typen kulturhistorische Grundmodelle für das Verhältnis von Bauwerk und Mensch darstellen.
Typen sind sowohl herstellungs- und nutzertechnologisch als auch ästhetisch sehr ökonomische Gebilde. Die typologischen Figuren sind Grundbausteine der architektonischen Formensprache. Durch ihre synthetische Natur erhalten sie jenes Maß an Dauerhaftigkeit., an Logik und Prägnanz, das sie verständlich macht und Orientierungen gibt. Zugleich gewinnen sie durch ihre Elastizität jene Momente der Innovation und der Anpassungsfähigkeit, die sie interessant und reizvoll machen.
11. Konventionen können Innovationen enthalten. Der ästhetische Gebrauch typologischer Figuren und anderer mit historischer Bedeutsamkeit beladener Formen kann zum Historismus führen, er kann aber auch ein Beitrag zur Entwicklung der Formensprache sein, die ihrem Wegen nach nichts anderes ist, als der kreative, geordnete Umgang mit bekannten Formenmerkmalen. Die geistige Vermittlung des Neuen ist an die ästhetischen Erfahrungen der Adressaten gebunden. Neues kann durch Bekanntes ausgedrückt werden, wenn das Hergebrachte durch die gestalterischen Operationen des Modifizierens, Verfremdens usw. in neue Erfahrungsdimensionen gehoben wird und wenn die Zeichen neben der Bedeutung, die sie tragen, durch die Kombination mit ihresgleichen neue Aussagen vermitteln können.
Die Fähigkeit von Texten-, mehr Aussagen als Elemente zu enthalten, ist eine Voraussetzung für die Existenz einer Formensprache. Neben diesen Akten assoziativer Zeichenverwendung wird freilich Neues durch indexikalische Elemente angezeigt, die den verursachenden Fakt (z. B. eine neue Baukonstruktion) logisch vermitteln.
Doch nicht selten werden historische Formen aus anderen Gründen als dem verwendet, Aneignungshilfen für die Bewohner (oder Touristen) zu sein. Nicht immer ist das Motiv vorherrschend, eine wichtige Erfahrung verständlich auszudrücken. Auch die Verwendung historischer Formen im zeitgenössischen Bauen sollte funktional, nach ihrem Sinn und ihrem Zweck, befragt werden. Dabei ist zu unterscheiden: Das typologische Entwerfen verwendet bewährte Baukörper- und Raumformen auf Grund ihres ungebrochenen Gebrauchs- und Kulturwertes. Das Anliegen der Denkmalpflege ist es, die wertvollen Sachzeugen der Geschichte zu erhalten und in das soziale Leben zu integrieren. Den Kontextualismus motiviert ein großes Harmoniebedürfnis, er versucht, den Neubau an die bauliche Umgebung (den Kontext) anzugleichen. Der Historismus ist bestrebt, mit der Verwendung historischer Formen ideologische Werte der Vergangenheit zu reaktivieren. Der Eklektizismus bedient sich aus dem Fundus der Bauformen aller Zeiten und Regionen nach willkürlichem Belieben. Die Nostalgie setzt auf ein ästhetisiertes Vergangenheitsweh des Publikums, dem sie bei Verachtung der historischen Wahrheit vordergründig gefallen will. Historische Zitate sind Aussagenträger, die teils als Spolien, teils als Kopien oder als freie Interpretationen die überlieferten Motive wiederholen. Sie können unterschiedlich wirken – als historische Verweise für eine Kulturelite, als nostalgisch-kitschige Dekoration oder als experimentelles Erkenntnismittel gegen verkrustete Denkklischees. Einige überlieferte Gestaltungsmittel sind in der Phase des Umbruchs nur verfremdet oder ironisch zu gebrauchen, um die alten Bedeutungen zu verunsichern (z. B. die Säule als Symbol der Macht und des Reichtums).
Geschichtsbewußtsein ist im allgemeinen am besten dadurch zu fördern, dass das wertvolle Alte respektiert wird und das Neue seine eigene Sprache spricht – eine solche aber, die dialogfähig ist mit dem geschichtlichen Kontext.
12. Bauen ist Ortsveränderung. Bauen ist weniger das Produzieren oder Errichten von Gebäuden, als der sinnvolle Eingriff in einen gegebenen Zustand der Umwelt, deren Strukturen durch diese Operation verändert werden. Im Normalfall ist die Baustille schon eine menschliche Siedlung und das Ergebnis einer jahrhundertelangen Kulturentwicklung, deren Geschichte in den vorhandenen Strukturen, Zeichen und Stoffen aufbewahrt ist und Traditionslinien bildet, in die auch das Neue einzuordnen ist. Bauen ist deshalb das Fortschreiben der Kulturgeschichte des Ortes unter veränderten Aneignungsweisen.
Orte entstehen erst durch das menschliche Eingreifen und die Strukturierung des Raumes. Die Architektur definiert den Raum nach dem Charakter der Zivilisation, die sie hervorbringt. Durch das Bauen werden die Orte sozial und ästhetisch präzisiert. Immer begegnen sich am Bau die lokale und die temporale Spezifik – der Geist des Ortes und der Geist der Zeit. Letzterer wird durch viele sozialkulturelle Faktoren spezifiziert, ersterer ist das Substrat der in einer konkreten Kultur abgehobenen Besonderheiten eines Ortes. Diese Besonderheiten resultieren aus geographischen und geschichtlichen Faktoren und den daraus abgeleiteten klimatischen, baustofflichen … sozialen, ethnischen und anderen Bedingungen, doch der „genius loci“ ist der zum Bild verdichtete Kern dieser Eigenarten. Ein Bauen, das sich dem genius loci verpflichtet fühlt, wiederholt nicht die Giebel und Erker der Nachbarschaft, sondern sucht nach dem verborgenen Wesen des Ortes, das auch nicht mit dem zum Vorstellungsklischee erstarrten Image verwechselt werden sollte.
13. Das Gestalten ist ein Handeln mit der Natur. Bauen muss in die natürlichen Kreisläufe einbezogen werden und eine Einheit zwischen außermenschlicher und menschlicher Natur herstellen. Das betrifft sowohl den energieökonomischen Aspekt (z. B. passive und aktive Wärmeenergienutzung) als auch den sozialen Aspekt (z. B. Dachgärten) oder das Problem der Wiederverwendung von Bauteilen und Baustoffen bzw. deren Renaturierung. Die baustoffliche Basis der Architektur braucht Verwertungsketten für diese Materialien, so dass sie je nach ihrem Verschleißgrad Aufgaben zugeführt werden, die ihre Restnutzungsdauer einlösen.
Bauen ist ein lebendiges Reagieren auf eine lebendige Umwelt. Gebäude brauchen die Regenerations- und Umbaufähigkeit zur Erhöhung ihrer Lebensdauer, ihres Gebrauchs- und ihres Identifikationswertes. Die ökologischen Argumente zielen auf ein stahl- und zementloses Bauen – vor allem im Wohnungsbau.
Natürliche und wandlungsfähige Baustoffe haben auch die Fähigkeit. mit Würde zu altern. Sie wirken Tendenzen zu schnellem, moralischem Verschleiß entgegen. Eine Ästhetik der Dauer zielt auf die sinnliche n Erfahrungswerte mit natürlichen Stoffen und anpassungsfähigen Strukturen. Sie organisiert auch formal das Zusammenspiel von organischen und geometrischen Figuren.
14. Gestaltung braucht eine flexible Fertigung. Die kulturellen Anforderungen und die natürlichen und historischen Bedingungen individualisieren den lokalen Standort derart, dass ihm kein universeller Standard entsprechen kann. Wiederverwendungsprojekte bilden auch unter ökonomischem Aspekt praktizierte Ausnahmen. Die „klassische“ Form der Industrialisierung, die standardisierte Massenproduktion auf der Ebene von großen Einheiten wie Blöcken und Gebäudesegmenten, ist für die Stadt- und Siedlungsentwicklung mit weitreichenden Anforderungen an geographische, soziale, kulturelle und historische Differenzierungen untypisch und nur als historisch begrenzt eingesetzte Technologie zur Oberwindung des Wohnungsdefizits zu verstehen.
Gestaltung setzt eine flexible Produktion voraus, die sich den ändernden Bedingungen mit Produkten anpasst, die weiterhin wandelbar bleiben. Gestaltqualität orientiert auf die Entwicklung offener Systeme und begünstigt ökonomische Lösungen auf der Basis frei programmierbarer (computergestützter) Fertigung. Dabei ist wichtig, dass die modernen Produktivkräfte nicht nur ästhetisch vorgeführt werden (zum Beispiel in den hochglanzpolierten high-tech-Visionen) und dass die automatischen Informationsverarbeitungssysteme nicht lediglich die Bauvorbereitung vereinfachen, sondern die Tiefenstrukturen der Bauprozesse in Richtung höherer Flexibilität durchdringen.
Das Spezifische der baulichen Produktionsweise besteht (im Gegensatz zu anderen Zweigen der Volkswirtschaft) auch darin, neben den modernsten Bautechnologien alle technologischen Niveaus – von der einfachsten Handarbeit bis zur Systemsteuerung – als mögliche Techniklösungen zu integrieren. Handwerkliche und hochtechnologische Lösungen treffen sich in der der Bauproduktion eigenen Flexibilität und der entsprechenden hohen Organisations- und Entscheidungedichte, während serielle Produkte der reproduktiven Art Ausnahmen, Zwischenlösungen oder Größenordnungen unterhalb architektonischer Einheiten darstellen. Elemente und Halbfabrikate sind Erzeugnisse, doch Gebäude sind originäre Orte.
15. Gestaltung ist ein Element sozialistischer Demokratie. Architektur dient nicht nur dem Leben der Bewohner, sondern wird auch zunehmend mit ihnen und durch sie vollzogen. Die Nutzer sind die souveränen Subjekte der architektonischen Praxis, die Architektenschaft ist ihr Anwalt und fachkompetenter Partner, der in diesem Verhältnis die führende Rolle in der Entwicklung der Architektur übernehmen muss. Das setzt den Dialog mit den Nutzern voraus, deren zunehmende intellektuelle und praktische Potenz, auch ihr polytechnisches und musisches Interesse am Bauen gebraucht werden. Der Architekt respektiert und qualifiziert die Ansprüche und Möglichkeiten der Nutzer, er betrachtet sie als Mündige und macht sie zugleich mündig. Die kulturpädagogische Funktion der Architekten zur Herausbildung einer gültigen Massenkultur ist angesichts der Unsicherheit in den ästhetischen Wertorientierungen außerordentlich wichtig.
Sozialistische Architektur orientiert auf neue Entwurfs- und Produktionsverfahren, die den Dialog mit den Nutzern ermöglichen und die gesellschaftlichen und Individuellen Potenzen zur Umweltgestaltung produktiv vereinigen. Dazu gehören die Unterordnung, der Bauproduktion unter den gestalterischen Entscheidungsprozess wie auch die Flexibilität der Bausysteme, deren Planung anschaulich und offen ist und die das praktische, handwerkliche Mittun von Laien ermöglichen. Nicht zu verwechseln ist diese nutzerfreundliche Gestaltung mit dem bequemen Nachlaufen hinter dem Publikumsgeschmack oder mit dem Überlassen einer unzulänglichen baulichen Umwelt an die nachbessernden Laien.
Der Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens gebauter Umwelt kann nur als umfassender demokratischer Entscheidungsprozess organisiert werden. Insofern ist die Entwicklung der sozialistischen Demokratie eine Prämisse für diese Programmatik sozialistischer Architekturgestaltung. Die Beteiligung der Nutzer an der Planung und praktischen Gestaltung ihrer baulichen Umwelt ist ein Moment des allgemeinen sozialen und kulturellen Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf das bauliche Ergebnis immer deutlicher und direkter durch die Interessen der Nutzer bestimmt wird. Die Form folgt den praktischen und ästhetischen Bedürfnissen und Interessen differenzierter Nutzer(gruppen), die der Architekt aufspürt und die er im gesellschaftlichen Dialog mit ihnen nach der Art der Baustoffe und der Bautechnologien und nach dem Geist des Ortes und der Zeit in die räumliche Artikulation der gebauten Umwelt übersetzt.