Funktionalismus – Historischer Begriff oder Leitlinie (1987)

Olaf Weber
Funktionalismus – historischer Begriff oder Leitlinie?

In maßgeblichen Kreisen der Ästhetik und Kulturtheorie der DDR wird im Ergebnis einer intensiven Aneignung des Erbes der 20er Jahre vorgeschlagen, den „Funktionalismus … für den ausserkünstlerischen Bereich ästhetischer Gestaltung auf ähnliche Weise als Hauptlinie der Entwicklung … (zu begreifen), wie uns Realismus als Hauptlinie der Kunstentwicklung gilt“./1/

Dieser Vorschlag hat die Faszination des klaren Entwurfes, doch ist die Bezeichnung unserer sozialistischen Gestaltungskonzeption als Funktionalismus angesichts der wechselvollen Geschichte dieses Begriffes, in deren Verlauf er mehrmals seine Bedeutung und seine Wertorientierung änderte, nicht unproblematisch. /2/

Es ist aber verlockend, das Thema Funktionalismus zum Ausgangspunkt einer Diskussion um die Leitlinie sozialistischer Architekturgestaltung zu machen. Das hat den Vorteil, dass die Diskussion historisiert und an die Avantgarde der 20er Jahre angebunden wird, deren widersprüchliche Konzeptionen zwar nach sozialistischen Maßgaben auch sehr kritisch beurteilt werden müssen, doch eine Menge tendenziell positiver Werte, wie soziales Engagement, Technikbejahung, Wissenschaftlichkeit, Realitätsbezogenheit … Zukunftsorientierung, verkörperten. Natürlich sind diese Schlagwörter missverständlich und keineswegs ausreichend, doch bilden die genannten Orientierungen – wenn sie in eine dialektische Betrachtung überführt werden – wichtige Voraussetzungen sozialistischer Architektur. Die Beibehaltung des Begriffes Funktionalismus als Orientierungsgrundlage ist auch ein Signal zur Abgrenzung von Architekturmoden, die immer neue Wörter zur Bezeichnung des modischen Wechsels benötigen. Diesen Bekenntnis muss aber auch die Anerkennung des Wandeln enthalten – mehr noch: auf diesen Wandel zielen, er ist in einem tiefen Sinngehalt des Wortes „Funktionalismus“ enthalten.

Der Begriff „Funktionalismus“ hat in der folgenden Betrachtung vor allem heuristischen Wert. Er dient darin als Erkenntnismittel – als Name für die sozialistische Gestaltungekonzeption bleibt er provisorisch. Der Kern der Untersuchung zum Begriff „Funktionalismus“ besteht in der Unterscheidung der verschiedenen theoretischen Aspekte den Funktionalismus von der historischen Entwicklungsphase des Neuen Bauens und beider wiederum vom sozialistischen Gestaltungekonzept. Die Stichpunkte sind dabei:Punktionalismus als Wertbegriff, als Stilbegriff, als komparativer Begriff, als allgemeine Methodik und als historischer Begriff.

Ein Wertbegriff ist der Funktionalismus dann, wenn er vorwiegend zur positiven oder negativen Beurteilung einer Erscheinung herangezogen wird, wobei sein semantischer Gehalt unbestimmt bleibt. Leider wird er oft so verwendet, er dient dabei vor allem als Munition in der polemischen Auseinandersetzung. Das ist seine schwächste Auslegung. Die Textzusammehhänge, in denen er dominant wertend auftritt, weisen ihn als Hilfswort aus, das immer dann eingesetzt wird, wenn eine positive resp. negative Eigenschaft des Objektes nicht besser beschrieben werden kann. „Funktionalistisch“ wird dann zu einer großen leeren Worthülse, die eklektisch und subjektivistisch mit allerlei Inhalten aufgefüllt wird. Einerseits entspricht ihm alles Progressive, alles sozial und technisch Vorwärtsweisende, alles Wahrhaftige und Einfache, andererseits alles Kalte Unpersönliche, Kapitalistische, Zweckrationalistische, ohne dieses näher zu bestimmen. Der Begriff ist in diesem Sinne zu offen, zu vieldeutig und hat außer Stimmungen und Orientierungen zu wenig objektiven Gehalt. /3/ Man benutzt ihn als Wertbegriff, ohne sich um einen klaren Inhalt zu bemühen. Doch gerade der Gebrauch dieses außerordentlich bedeutsamen, widersprüchlichen und emotionalisierten Begriffes „Funktionalismus“ erfordert parallel zu seiner Anwendung die permanente Auseinandersetzung mit seinem Inhalt. Dort aber, wo der Funktionalismus konkreter gedacht wird, gerät er sehr schnell in die Nähe eines formalen Stilbegriffes. Häufig wird über soziale oder entwurfsmethodische Aspekte des Funktionalismus gesprochen, doch tatsächlich dirigiert eine bestimmte Formvorstellung den Inhalt des Denkens. Auch subjektive Geschmackskulturen spielen eine wichtige Rolle, wenn sich „Funktionalismus“ konkret vorgestellt wird. So herrscht die Auffassung vor, dass die stilistischen Elemente der Architektur der 20er Jahre, die Karl-Heinz Hüter neben Grundprinzipien des Funktionalismus trefflich beschrieben hat /4/, für eine progressive Gestaltung in allen Zeiten zu gelten habe. Doch weder der dominante rechte Winkel der holländischen de Stijl-Bewegung, noch die Suprematie der elementaren Grundfiguren, die Transparenz, die eurhythmische Komposition, die Planoplastik usw. sind Merkmale der Form, an die die sozialistische Gestaltungspraxis programmatisch gebunden ist. Viele dieser Merkmale wirkten in einer bestimmten historischen Situation progressiv, haben aber diese Funktion inzwischen verloren. Der Funktionalismus als Stil ist kein Programm für die Zukunft. In seiner überspitzten Ausprägung haben die Formen lediglich die Funktion, die Zugehörigkeit zu dem Stil „Funktionalismus“ auszudrücken, sind also, an den Bedürfnissen der Nutzer gemessen, funktionslos.

Ein weiterer Funktionalismus hat vergleichenden (komparativen) Inhalt, ich will ihn deshalb „komparativen Funktionalismus“nennen. Er wägt die Eigenschaften, die dem praktischen Gebrauch dienen, gegen diejenigen, die der ästhetischen Aneignung verhelfen, wobei er die ersteren programmatisch überbewertet. Er kann deshalb auch als Utilitarismus bezeichnet werden. Die Überschätzung muss wiederum unterschiedlich bewertet werden. Es kann dahinter der historische Ausgleich gegenüber einer antipodischen Pendelbewegung stecken (wie durch die Avantgarde gewollt), oder aber eine generelle Einseitigkeit zugunsten der materiell-praktischen, technischen, biologischen … Komponenten, bei Vernachlässigung der kulturellen, historischen und ästhetischen Aspekte der Architektur. In dem letzteren, mit negativer Wertung versehenem komparativen Inhalt ist er dem Technizismus, dem Konstruktivismus oder dem Formalismus ähnlich. /5/ Diese Begriffe bezeichnen Relationen zwischen den verschiedenen Komponenten, Faktoren und Funktionen der Architektur und drücken in ihrem Namen die Überbewertung jeweils einer der Komponenten aus. Ein solchen Verständnis lag zugrunde, als der Begriff „Funktionalismus“ in der Ästhetik und Architekturtheorie der DDR negativ bewertet wurde, nämlich als Gestaltungmethode, die das Bauwerk und alle seine Teile „ausschließlich aus ihrem Zweck, ihrer Funktion gestaltet sehen will“, wobei der Funktionsbegriff „mechanistisch oder antropologisch vereinseitigt“ wird. 6/
In solcher Weise auf magere biologische oder technische Funktionen unhistorisch begrenzt, ist er in der Tat nur dezimierte Architektur. Der komparative Funktionalismus reduziert die Gebrauchsbeziehung zur Architektur auf Handhabung oder nutzertechnologische Raumbewegung, die er a priori über die ideellen Funktionen stellt. Er vernachlässigt den komplexen Zuschnitt der architektonischen Aneignung.

Dem Funktionalismusbegriff können wir nicht auf der Basis des alten Stilbegriffes oder des komparativen Inhalts eine sozialistische Wendung gebent obwohl stilistische Färbungen der architektonischen Formensprache und die Dialektik von Gebrauch- und Wahrnehmung natürlich wichtige Themen der Gestaltungstheorie darstellen.

In einer vierten Deutung ist Funktionalismus eine allgemeine Methode der Gestaltung von Dingen und Prozessen zu menschlichen Zwecken. In dieser allgemeinsten Auslegung trifft er ohne Abstriche aus die Verfahren zur Formfindung in der Architektur zu. Er sagt darin etwas über den adäquaten Gebrauch von Mitteln aus, auf diesen wichtigen Aspekt werde ich gleich zurückkommen.

Die bisher beschriebenen Funktionalismusbegriffe betrafen verschiedene Momente der Architekturentwicklung, wobei ihre Relevanz für die Darlegung sozialistischer Ansprüche vom ersten zum letztgenannten Aspekt hin zunimmt. Es sind theoretische Begriffe. Ein historischer Begriff ist Funktionalismus dann, wenn er die Neuerungsbewegung in Architektur und Produktgestaltung eines konkreten Zeitabschnittes – des ersten Drittels unseren Jahrjunderts, besonders der 20er Jahre – bezeichnet. Der Inhalt eines solchen Funktionalismusbegriffes ist eine Mischung der oben aufgeführten Aspekte, wobei auch Formalistisches, Subjektivistisches, Profitwirtschaftliches und andere Momente, die im Gegensatz zu funktionalistischen Bestrebungen stehen, eine Rolle spielten. Die Neuerer waren historisch gesehen einerseits nur eine Gegenbewegung zu ihren Vorläufern, andererseits aber eine große avantgardistische Bewegung in Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie wirkten insgesamt fortschrittlich, weil sie nicht nur auf die gesellschaftlichen Entwicklungsfaktoren zu Beginn der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus positiv reagierten, sondern ihnen zugleich durch Innovationen eigener Art bedeutsame Impulse zuführten. Trotz des teilweise leidenschaftlichen subjektiven Engagements zur Überwindung der kapitalistischen Form der Vergesellschaftung, der Entfremdung und der Arbeitsteilung war das Neue Bauen aber insgesamt deren Ausdruck und schuf in den Konzeptionen zur Funktionstrennung in der Stadt (siehe Charta von Athen), in der Wohnung und allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die verräumlichte Form der spätbürgerlichen Verhältnisse.

Die gesellschaftlichen Veränderungen im Umfeld der Architektur – teils stattgefunden, teils erwartet – führten zu einer radikalen Veränderung in der Architekturkonzeption, vor allem unter vier Aspekten:
1. Die Industrialisierung, der Bauproduktion als Voraussetzung für massenhaftes Bauen. Die fortschrittlichste Technologie war damals erst beim unflexiblen Typ der Serienfertigung angekommen.
2. Die Bestrebungen zur Überwindung der sozialen Notlage der Werktätigen durch den sozialen Wohnungsbau, sie mussten sich auf Grund der herrschenden materiellen und ideologischen gesellschaftlichen auf partielle und zur Minimierung tendierende Lösungen beschränken.
3.Ein neuer Typ der visuellen Kultur, der die Gestaltungs- und Aneignungsweisen im Interesse einer neuen Funktionalisierung der Form revolutioniert. Seine Avantgarde war allerdings erst bis zum künstlerischen Abstraktionismus vorgedrungen.
4. Das Eindringen wissenschaftlicher Analyse und Erkenntnismethoden in den architektonischen Schaffensprozess. Allerdings standen moderene Wissenschaften wie System- und Informationstheorie, marxistische Psychologie, soziologie oder Semiotik noch nicht anwendungsbereit zur Verfügung.

Alle diese Faktoren führten in den 20-er Jahren zu einer Formensprache, die durch Rationalität, Klarheit und Sachlichkeit gekennzeichnet war und die bekannten elementaren Formenmerkmale und die antihistorischen Attitüden hervorbrachte. Rationalität und Nüchternheit waren den Neuerern damals so wichtig, dass sie ihre Bewegung selbst als „Neue Sachlichkeit“ bezeichneten, wenn es ihnen nicht genügte, vom „Neuen Bauen“ oder „Neuen Gestalten“ zu sprechen. Sachlich war man damals in dem Sinne eines vorurteilsfreien Realitätsbezuges zur technischen und sozialen Entwicklung, aber auch kapitalistisches Rentabilitätsdenken und die Rationalität eines elementaren geometrischen Formenvokabulars, also ein Stil, standen für „Sachlichkeit“./7/ Als historischer Begriff ist der Funktionalismus also außerordentlich widersprüchlich.

Natürlich haben die hervorragenden Vertreter des Neuen Bauens, namentlich Gropius, Hannes Meyer, Häring oder Le Corbusier die Beschränktheiten der Anfangsphase, in der sie ihren Avantgardismus noch vom Zwang des Gegensatzes der alten Gestaltungsweise bestimmen ließen, wesentlich breitere funktionelle Dimensionen entwickelt, doch blieb das ohnehin reduzierte funktionale Gesamtkonzept vor allem aus gesellschaftlichen Gründen hinter den Möglichkeiten zurück. „Das Konzept der Zweckmäßigkeit wurde schnell in das der Rentabilität umgewandelt. Die anti-akademischen Formen wurden zum Dekor der herrschenden Klasse. Die rationelle Wohnung verwandelte sich in die Kleinstwohnung, die Cite` radieuse in die Großsiedlung, die plastische Strenge in Armseligkeit.“ /8/

Trotz fortschrittlicher Programme verkümmerten die begrenzten funktionalen Ansätze bald wieder; selbst der Utilitarismus wurde nur eingeschränkt verwirklicht. Die einschneidenden politischen Veränderungen der 30er Jahre begünstigten demagogische Formensprachen und bildeten eine zusätzliche Schwelle für die organische Weiterentwicklung der Moderne, die dazu hätte führen können, dass sich die Dynamik und Offenheit der Formensprache innerhalb der funktionalen Gestaltung offenbart. /9/ Auch der nach dem 2. Weltkrieg einsetzende „Wirtschaftsfunktionalismus“ und Pragmatismus stand nur unter einigen oberflächlichen Aspekten in der Traditionslinie des Neuen Bauens.

Es ist deshalb angebracht, das Neue Bauen der 20er und beginnenden 30er Jahre als eine relativ selbständige und abgeschlossene historische Entwicklungsphase zu betrachten, die zwar in den späteren Architekturströmungen große Nachwirkungen hinterlassen, doch keine ungebrochene Fortsetzung erfahren hat. Auch in der sozialistischen Gestaltungekonzeption vollstreckt sich nicht lediglich die Programmatik der Moderne. Die Differenz zwischen beiden resultiert aus der gesellschaftlichen Entwicklung einen halben Jahrhunderts, dem gewaltigen Entwicklungsprozess der Produktivkräfte, aus den neuen Produktionsverhältnissen des Sozialismus und den Veränderungen in der Kultur und Lebensweise der Menschen. Während die technologische Entwicklung des Bauwesens der 20er Jahre dahin ging, die Voraussetzungen für eine Serienfertigung der Bauhauptmasse nach dem klassischen Typ der Industrialisierung zu schaffen, geht es heute mehr und mehr um die flexible Produktion mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung. Während es damals naheliegendes Ziel war, Wohnraum für das Existenzminimum zu schaffen, geht es im Sozialismus zunehmend um die qualitative Erhöhung der räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten Bevölkerung, deren persönliche Entfaltung und solidarische Haltung. Während es damals darum ging, den Ballast der nur noch den materiellen Reichtum darstellenden (oder vorspiegelnden) Schnörkel Verzierungen abzuwerfen und die Schönheit der Sachlichkeit pathetisch zu demonstrieren, geht es heute um die Neuformulierung einer architektonischen Formensprache, die in der Lage ist, den Reichtum der gesellschaftlichen Beziehungen mit Hilfe eines umfassenden Gestaltungsrepertoires auszudrücken.

Die Architektur des entwickelten Sozialismus wird sich sowohl in der Komplexität ihren theoretischen Modells, ihrer Zielrichtung, wie auch in ihren konkreten Ergebnissen von der Architektur der 20er Jahre in wichtigen Momenten unterscheiden, aber auf keinen Fall hinter sie zurückgehen. Sie muss sich genügend weit vom Avantgardismus der Neuen Sachlichkeit entfernen /10/, ohne allerdings dessen mutige Denkansätze und humane Lösungsversuche zu desavouieren; dort waren die Vorgänger, die dialektisch aufzuheben sind.

Die vor uns liegende Phase der Architekturgestaltung ist vom modernen Bauen der 20er Jahre durch einen Entwicklungssprung getrennt. Wer diesen Sprung nicht anerkennt, wird,die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben mit einer antiquierten Elle messen. An der gegenwärtigen Diskussion um eine Gestaltungskonzeption der sozialistischen Architektur ist zu kritisieren, dass sich ihr Inhalt entweder zu stark an den Konzeptionen der 20er Jahre orientiert oder aber ihn aus der polemischen Auseinandersetzung mit dem Postmodernismus bezieht. Beide Ausgangspunkte – als ungebrochene Traditionslinie der bürgerlichen Avantgarde wie auch als Kontrapunkt zum Postmodernismus – müssen die Züge dessen verzerren, was wir programmatisch als Leitvorstellung der sozialistischen Architektur entwickeln wollen. Eine solche Leitlinie sollten wir stärker von seinen Vorläufern und Gegenspielern lösen und aus unserer eigenen Entwicklung, von der Programmatik der sozialistischen Gesellschaft her definieren. Sie wird uns dann auch in die Lage versetzen, die historischen und die weltweiten Erscheinungen verschiedener Ismen klarer beurteilen zukönnen – die Avantgarde der 20er Jahre ebenso wie den sogenannten Postmodernismus, der auf den Entwicklungssprung der Produktivkräfte auf kapitalistische Weise architektonisch reagiert.

Zur Bereinigung der Begriffe um den „Funktionalismus“ schlage ich vor, für den historischen Prozess der avantgardistischen Phase der 20er Jahre die selbstgewählten Bezeichnungen „Neues Bauen“, „Neues Gestalten“ oder „Neue Sachlichkeit“ beizubehalten, das darin enthaltene theoretische Konzept von der Überdominanz der Komponente „Funktion und Gebrauch“ über die Komponente „Gestaltung und Wahrmehmung“ als den „komparativen Funktionalismus“ oder „Utilitarismus“ und das Verfahren, das im Entwurfsprozess zweckgerichtet die geeigneten Mittel auswählt, als „funktionale Methode“ zu bezeichnen.

In der sozialistischen Gestaltungskonzeption geht nur der letztere, methodisch-orientierte Begriff auf. Der Funktionalismus als großes gedankliches Gefäß, in das entweder die positiven oder die negativen Eigenschaften der Architektur eingefüllt werden, ist eklektisch, abstrakt und impotent. Der Funktionalismus als Stil ist formalistisch und entwicklungshemmend. Der Funktionalismus als komparativer Begriff, der Gebrauch über Anschauung stellt, ist nur zur Hälfte akzeptabel. Funktionalismus aber als die programmatische Gestaltungskonzeption der Umwelt im Sozialismus müsste die alten Inhalte dialektisch aufheben, das Experiment der 20er Jahre stünde zu ihm wie der Anstoß zu einem entwickelten Prozess, der seine ersten Resultate als Spezialfälle aufbewahrt. Ein solcher Funktionalismus ist nur als eine große Leitlinie zu verstehen, die die Beziehungen zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Architektur charakterisiert und dabei ihre Aussagen zur Funktion, Struktur und Gestalt der baulichen Umwelt ständig revidiert.

Der Funktionalismus wird in der folgenden Programmatik als Methode behandelt. Der Wert des Methodenbegriffes liegt in der in ihm veranlagten Möglichkeit, die Beziehung zwischen Gestaltungszielen und Gestaltungsmitteln als Problemfeld zu fassen und die Ambivalenz dieser Beziehungen und Wege aufzuzeigen. Produktiv ist der Methodenbegriff aber nur dann, wenn er die Zwecke und Mittel ständig entwickelt, konkretisiert und ausweitet. Auf keinen Fall darf die mit einer Linie nur ungenau beschriebene programmatische Konzeption der sozialistischen Architektur die Entwicklung der ästhetischen Kultur behindern. Im Hinblick auf den methodischen Charakter ist die Diskussion um den Funktionalismus mit der um den Realismus identisch.

Die Grenzenlosigkeit der Mittel und Wege ist der eine Pol der funktionalen und realistischen Methode. Der andere ist die konkrete Orientierung der Praxis, die die geltenden Konventionen, die gebräuchlichen Bilder und die herrschende Formensprache akzeptiert und überwindet. Ein Leitbild der Gestaltung muss Gestaltungegesetze, Normative, Werte, Kriterien usw. zu Aussagen zusammenfügen, in denen gesellschaftliche Orientierungen bis weit in die Zukunft vorgedacht, den Wegen und Mitteln breite Entfaltungsmöglichkeiten gegeben und zugleich die konkreten Bedingungen und nächsten Schritte der ästhetischen Kultur markiert werden.

Die Offenheit der Methode allein führt von der Programmatik weg zu einem „uferlosen Funktionaliamus“ (Mukarovsky), der bestrebt ist, auch für die unsinnigsten Lösungen eine Erklärung zu finden, ohne sie zu werten. /11/ Der Funktionalismus wird erst durch die Konkretheit der gesellschaftlichen Bedingungen und Ziele praktikabel. Eine Leitlinie ist weder ein offener Ausblick nach allen Seiten noch das strenge, lineare Normativ eines Regelkanons. In der Dialektik von Allgemeinem und Einzelnem, von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft liegt die schöpferische Potenz dieser Leitlinie „Funktionalismus“. Sie ist auch ein Instrument zur Durchsetzung einer historisch konkreten sozial-kulturellen Raumauffassung und deshalb mit konkreten Formvorstellungen durchsetzt. Doch diese Formen hängen ihr nur an, ohne programmatisch zu werden und damit entwicklungshemmend zu wirken. Funktionalismus als Programm muss das kreative Feld beschreiben, das zwischen den Gestaltungsnormen der Entwurfspraxis und der Offenheit eines weitreichenden Ideals liegt. Eine Architekturprogrammatik enthält in denjenigen Momenten, in denen sie historisch begrenzt ist, auch Elemente eines Stils. Das gilt auch für die folgende Leitlinie, doch orientiert sie nicht auf die Festschreibung von
formalen Merkmalen, sondern auf die Beschreibung von Zielen und Verfahren, denen lediglich methodisch stilistische Orientierung innewohnen.

Im folgenden soll eine Leitlinie sozialistischer Gestaltung der Architektur thesenhaft diskutiert werden, die trotz aller Probleme mit diesem Begriff „Funktionglismus“ genannt wird. Doch mit diesem Begriff soll eine Bewegung zur Überwindung zweckrationalistischer wie auch ästhetizistischer Konzeptionen bezeichnet werden, deshalb sollte jeder, der in seinem Denken das Wort „Funktionalismus“ nicht endeutig genug von seinem historischen, stilistischen oder komparativen Gehalt trennen kann, bei der Beschreibung der folgenden Leitlinie für „Funktionalismus“ besser „sozialistische Gestaltung“ lesen. In der Abgrenzung gegenüber den o. g. Doktrinen und in der Orientierung auf eine gebrauchsfähige, langlebige, veränderliche, lebendige, ausdrucksvolle und schöne bauliche Umwelt liegt der instrumentelle Wert der folgenden Programmatik. Jede Entwurfslösung kann an ihr gemessen, doch nicht aus ihr abgeleitet werden.

1. Der Funktionalismus ist ein Optimierungsverfahren, bei dem Mittel und Zwecke in Beziehung gesetzt werden. Die Funktion ist die wichtigste Kategorie, sie ist das Bindeglied zwischen Anforderung und Wirkung; sie ist das eigenschaftliche Verhalten eines Gegenstandes innerhalb einer konkreten raumzeitlichen Situation seiner aktiven Aneignung durch die Nutzer, die Bewohner, Touristen durch alle Menschen. Die Eigenschaften werden im Entwurfsprozess nach Zwecken der Aneignung aus einem Repertoire von Mitteln ausgewählt; wichtig ist dabei, dass sich die Zwecke und die Mittel durch die Entwicklungebedingungen der Gesellschaft ständig verändern, ihr Verhältnis zueinander prinzipiell mehrdeutig ist und die Mittel auf die Zwecke zurückwirken. Als ein allgemeines Verfahren zur Bewältigung von Problemen, die sich nur durch Veränderungen der Wirklichkeit, durch ihre Gestaltung, lösen lassen, ist der Funktionalismus nicht auf Architektur und Produktgestaltung begrenzt, er durchdringt die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen. Der Funktionalismus in der Architektur steht deshalb in engem Zusammenhang mit der Funktionalität der gesellschaftlichen Beziehungen. Als ein Verfahren zur realen Problemlösung ist der Funktionalismus das wirklichkeitsbildende Pendant zur Abbildungsthematik des Realismus, dessen Wirksamkeit in der Kunst in ähnlich universeller Weise den Realismus im Leben voraussetzt (wie Brecht immer wieder betonte).

Die spezifischen Anforderungen an Stadt-, Bau- und Produktgestaltung liegen vor allem in den besonderen komplizierten, dialektischen Beziehungen von materiellen und ideellen Monmenten, die den Nutzern gegenüber den Charakter von Funktionen annehmen. Der Funktionsbegriff soll nicht deshalb zur zentralen Kategorie erhoben werden, um die Dominanz der Zwecke über den Ausdruck zu postulieren, sondern die der Zwecke über die Mittel.

Funktionalismus optimiert die gesellschaftlichen Funktionen der Architektur in einem entwurfsmethodischen Verfahren, das auf dem Wechselspiel von Analyse- und Synthesephasen basiert. Die gestalterische Lösung entsteht unter Beihilfe von Funktionsuntersuchungen, doch legen diese nicht die Gesamtmenge aller realen und potentiellen Wirkungsbeziehungen und Aneignungsweisen fest.Funktionalismus gibt Auskunft über (historisch und lokal veränderliche) Mittel-Zweck-Implikationen und bietet Strategien zur Lösung von Zielkonflikten bei komplexen Aufgaben. Er betrachtet Mittel und Zwecke als hierarchisch geschichtet. Funktionalistisch vorgehen heißt, von gesellschaftlichen Zielstellungen ausgehend, möglichst alles andere zu verfügbaren Mitteln zu machen, auch das technisch und ästhetisch Vorgefundene.

Im Gegensatz zur sozialistischen Gestaltungskonzeption,stehen sowohl subjektivistische wie auch deterministische Auffassungen, nach den ersteren werden die Mittel scheinbar zwecklos gewählt und sollten planlos ihre Verwendung (bzw. ihre Interpretation) finden. Sie erwachsen einer subjektiven Disposition ihres Schöpfers und entsprechen den l’art pour l’art-Konzeptionen in der Kunst. Funktionalismus ist aber auch kein Determinismus, der von eindeutigen Zweck-Mittel-Beziehungen ausgeht und mit der baulichen Struktur die vermeintlich zugehörigen Verhaltens-, Denk- und Empfindungsweisen gleich mitproduziert. Die strukturellen Beziehungen zwischen Mitteln, Zwecken und Wirkungen sind nicht eindeutig, doch auch nicht zufällig, es sind Wahrscheinlichkeitsvariable, die gesellschaftlich determiniert sind. Die funktionale Methode der Architekturgestaltung schafft nicht nur Räume als umhüllte Leere, sondern auch Freiräume der sozialen Aneignung, die die Potenz einer Neubewertung, Neuinterpretation und Neunutzung der gebauten Umwelt enthalten.

2. Funktionalismus orientiert auf die Interessen und Bedürfnisse der Nutzer, Die oberste Ebene der Zweckbestimmung wird durch die sich entwickelnden Ansprüche der Menschen an ihre bauliche Umwelt und die gesellschaftlichen Ziele des Sozialismus bestimmt. Die gesellschaftliche Funktion der Architektur besteht in ihrer allgemeinsten und wesentlichsten Bestimmung darin, mit baulichen Mitteln den sozialen und kulturellen Emanzipationsprozess aller Werktätigen zu fördern. Indem Funktionalismus als eine Gestaltungskonzeption verstanden wird „die einen auf die Menschheit bezogenen emanzipatorischen Gehalt objektiviert“/12/, ist er ein sozialistisches Modell dafür, wie Dinge zu menschlichen Diensten gestaltet werden. Der Funktionalismus orientiert auf eine gesellschaftliche Funktion der gebauten Umwelt, die die soziale Effizienz des Raumes erhöht, die den solidarischen Beziehungen und der Ausbildung entwickelter Persönlichkeiten dienlich ist, den „Reichtum der geistigen Beziehungen in Raum und Zeit“ und die „entwickelte Produktivkraft der Individuen“ fördert. /13/ Funktionale Gestaltung trägt zur räumlichen Zusamenführung der durch kapitalistische Arbeitsteilung getrennten Lebenstunktionen bei.

Gestaltungsziel ist immer eine Gebrauchswerterhöhung, im Dienst des durch den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand konkretisierten emanzipatorischen Ideals. Der Gebrauchswert ist in seinem eingeschränkten Sinne ein Maß der Eignung zur Befriedigung materieller Bedürfnisse /14/ und steht im Wechselverhältnis zum Kulturwert, zum historischen Wert, Kunstwert usw. Im weiteren Sinne schließt er diese ein und ist das Pendant zum Tausch- oder Marktwert. Eine Eigenart des Funktionalismus ist es, dass er selbst wie seine erklärenden Kategorien (Funktion, Gebrauchswert u. a.) jeweils doppelte Inhalte hat, der Engere wird im Weiteren aufgehoben. Aber nur der jeweils umfassende Gehalt des Gebrauchswertes, der ideelle und ästhetische Anforderungen einschließt, kann Orientierungsgrundlage für die Gestaltung sein.

Im Gegensatz zur sozialistischen Richtung der Gebrauchswerterhöhung stehen all diejenigen Bestrebungen, die auf den Marktwert fixiert sind, die auf Exklusivität, auf Gewinn- oder Repräsentationssucht, auf soziale und kulturelle Segregation ausgerichtet sind, die Entfremdung, Abhängigkeit, Täuschung, Illusion und Zukunftspessimismus fördern oder auch nur die ganzheitliche Aneignung von Architektur behindern. Im politisch-sozialem Bereich zieht der Funktionalismus die wesentlichen Scheidelinien zu anderen Konzeptionen. Er orientiert auf das Solidarprinzip sozialer Bedürfnisbefriedigung, das erfordert ganzheitliche Ergebnisse. Die Gestaltung im Einflussbereich kapitalistischer Verwertungsprinzipien ist dagegen dem Drang zu modischem, schnellen Verschleiß, zu Styling, zu Effekthascherei und oberflächlicher, leerer Dekoration ausgesetzt. Sie tendiert deshalb zu gespaltenen, dualistischen Lösungen.

3. Funktionalismus entspringt und zielt auf eine dialektische Einheit. Das Aufspüren von Widersprüchlichkeit und Komplexität der Anforderungsstruktur ist sein erstes Ergebnis. Kultur und Umwelt sind die der architektonischen Komplexität adäquaten Begriffe. Die Form folgt, in der funktionalen Gestaltung nicht dem praktischen Zweck, dem Material oder der Herstellung – das auch, sondern einer den Interessen der Nutzer entsprechenden Gesamtvorstellung von Kultur und Umwelt. Nicht einzelne Funktionen werden optimiert, sondern die Gesamtheit der Anforderungen und Beziehungen wird in der Totalität der Widersprüche funktionalisiert. An die Stelle von Funktion, Konstruktion und Schönheilt tritt die komplexe räumliche Funktionalität. Gestaltung muss zuerst die Höhe eines so allgemeinen Funktionsbegriffes aufsuchen, um danach umso genauer die verschiedenen Charaktere der Wirkungsbeziehungen zu unterscheiden. An einer komplexen Funktionalität gemessen treten konzeptionelle Mängel nicht als Verabsolutierung der Funktion, sondern als deren relative Begrenzung /15/ oder falsche Rangigkeit auf. Eine Überbewertung der Funktionalität kann es nicht geben /16/, wenn sie als eine komplexe Subjekt-Objekt-Beziehung behandelt wird, die keinen deterministischen und zweckrationalistischen Inhalt hat, sondern Raum lässt für die Entwicklung neuer Bedürfnisse, für Spontanität und Emotionalität. Funktionalismus bezieht sich auf diese Funktionalität der Architektur, nicht auf „Funktion“ im Sinne praktischer Gebrauchsfähigkeit.

Wie die Anforderungsstruktur und das Ergebnis ist auch der Entwurfsprozess eine komplexe Einheit, in der objektive und subjektive Momente, rationale und emotionale, wissenschaftliche und künstlerische … Aspekte in einem Spannungsverhältnis stehen. Funktionalismus ist eine Gestaltungeweise, deren innere Dialektik von den konkreten Bedingungen diktiert wird. Diese müssen darüber entscheiden, „in welchem gestaltreich der einzelne bau steht“ (Häring)./17/

Widersprüche sind die Quellen der Gestaltung. Die einander unverträglichen Anforderungen fordern die Kreativität des Architekten heraus. Er ist für die Einheit der Architektur verantwortlich, doch keine formale Einheitlichkeit ist das Ziel, sondern eine Einheit der Widersprüche, die die produktive Aneignung der baulichen Umwelt unterstützt und auch sinnlich vermittelt werden kann.

Im Gegensatz zur Ganzheitlichkeit diesen funktionalen Konzeptes steht die reduzierte Architektur des Utilitarismus, des Ästhetizismus, Formalismus, Technizismus usw., in die Komplexität entweder bereits in der Anforderungsstruktur oder im Ergebnis einer fehlerhaften Entwurfsprozedur verkümmert ist.

4. Funktionalismus zielt auf Aneignung der gebauten Umwelt, während der Utilitarismus auf Tätigsein und der Ästhetizismus lediglich auf Anschauung orientiert. Die materiellen wie die ideellen Momente der Aneignung bilden ein dialektisches Verhältnis /18/, das in der Architektur besonders komplex ist. Funktionalismus entwickelt diese Komplexität, neben dem analytischen Denken durch architektonische Phantasie – beim Entwerfen wie beim Nutzen. Architektonische Phantasie ist „das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als arme Zweckmäßigkeit, wo Phantasie sich in die Zweckmäßigkeit versenkt.“ /19/ Im Nutzungsprozess verschmelzen Tätigkeit und Anschauung durch das jeweils Andere zu einer architekturspezifischen Verhaltenseinheit. Auf diese Weise wird die Nützlichkeit der Architektur zur komplexen Verfügbarkeit der Menschen über ihre bauliche Umwelt ausgeweitet und der ästhetische Genuss entwickelt sich aus dem gesamten räumlichen Verhalten in gebauter Umwelt. /20/

Voraussetzung für die Aneignung von Architektur ist ein Komplex von physikalischen Eigenschaften, die das statische Gefüge des Baues sichern und durch Umhüllung und konstruktive Maßnahmen die Schutzfunktion der Architektur gewährleisten. Auf der Basis dieser voraussetzenden Schutz-, Trag- und Hüllfunktion entwickelt sich die Dialektik von materiell-praktischen und ideell-ästhetischen Ansprüchen und Einflüssen der Architektur von Bauaufgabe zu Bauaufgabe unterschiedlich. Architektur wirkt auf das äußere (praktische) und auf das innere (ideell-ästhetische) Verhalten der Nutzer. Die Proportionen zwischen beiden Seiten, ihre Gewichte und Aufwendungen legt der Funktionalismus nicht als ein vorgefasstes Axiom fest, sie werden vom Typ der Bauaufgabe und der konkreten räumlichen und kulturellen Situation gesetzt. /21/

Funktionalismus akzeptiert das dynamische Gefüge verschiedener Anforderungsebenen, auf denen die Wertigkeit der beiden dialektischen Pole ständig wechselt. Der Funktionalismus setzt die Wertordnung immer sozial: Nicht die materiell-praktischen dominieren über die ideell-ästhetischen, wohl aber die Grundbedürfnisee (die sich immer auf Gebrauch und Wahrnehmung beziehen) über die Luxusbedürfnisse (über weiterreichende Anforderungen).

5. Der Funktionalismus will durch Gestaltung informieren, orientieren und unterhalten. Das Ziel der Gestaltung ist es, wichtige strukturelle, funktionelle und historische Bezüge, die die Menschen kennen (oder empfinden) müssen, um sich in ihrer Umwelt einzurichten, genauer: sich emanzipatorisch einzurichten, auf ästhetisch genußvolle Weise zu vermitteln. Die Form stellt einerseits eine Hilfe bei der Organisation von Lebensprozessen dar, indem sie nutzertechnologische und räumliche Zusammenhänge artikuliert. In diesem Sinne dient sie dem aktuellen Gebrauch. Zweitens gibt sie langzeitliche Orientierungen im Wertesystem der herrschenden Kultur, dabei vereint sie ihre kulturelle Potenz mit anderen Bereichen der gegenständlichen Umwelt, mit den Medien und der Kunst. Letztlich dient sie auch dem ästetischen Genuss, indem ihre ästhetischen Merkmale sowohl untereinander als auch zum Menschen, besonders seinem Wahrnehmungssystem und seinen konkreten ästhetischen Bedürfnissen zur Übereinstimmung kommen. Das Schöne ist aber nicht das formale Gleichmaß einer oberflächlichen Harmonie, sondern ein Urteil über die Angemessenheit der komplexen widersprüchlichen Umwelt, mit unserer Befindlichkeit in der Wahrnehmung, beim Gebrauch, in der Aneignung.

Die Architekturform umfasst die Gesamtheit der sinnlich erfahrbaren Eigenschaften der baulichen Umwelt, alles Ausdrucks- und Bedeutungsvolle der Architektur. Indem sie sich präsentiert, repräsentiert sie zugleich Eigenschaften der Architektur oder ihrer Umgebung, Beziehungen, Prozesse usw., die nicht direkt wahrnehmbar sind. Sie vermittelt diese durch Bilder, Anzeichen und Symbole, einiges wird logisch, anderes assoziativ in Erinnerung gebracht.

Die Träger der Aussagen sind in widersprüchlicher Einheit zugleich materielle Funktionsträger. Der Inhalt der Ausagen bezieht sich in engerem Sinne auf Eigenschaften des Ausdrucksträgers, im weitesten Sinne stellt er die Gesamtheit der Ideen und Emotionen dar, die mit der betreffenden Architektur in Zusammenhang gebracht werden. Die Form ist nicht lediglich Ausdruck des praktischen Gebrauchs, sondern mehr und zugleich weniger. In der Form widerspiegeln sich nicht lediglich die materiellen Faktoren, sie ist auch eine weitgefächerte Deutung des Lebens der Gesellschaft. Funktionale Gestaltung bemüht sich, den engeren und den weiteren Gehalt, die Bedeutung und den Sinn der Form in einen Zusammenhang zu bringen. Wie der zentrale Kern der architektonischen Funktionen darauf orientiert ist, die konkrete Nutzungsweise zu modulieren, so besteht auch der Kern der architektonischen Aussagen aus praktischen Informationen, die alle anderen ästhetischen Aussagen durchdringen. In der Tranzendenz der Gebrauchsanweisungen in die Kunstwerte der Architektur liegt ein wesentlicher Inhalt des Funktionalismus.

Funktionale Gestaltung lehnt auch hierbei dualistische Lösungen ab, z.B. solche, die den Formen einen der praktischen Bedeutung unverträglichen Sinn geben. Die angestrebte Einheit entwickelt sich aus dem Zusammenhang der Inhalte und der Kodesysteme, während die Hüllform von der Bauhauptstruktur konstruktiv durchaus losgelöst sein kann. Dekorationen sind dann abzulehnen, wenn sie nur oberflächlich und verschleiernd Bedürfnisse nach Vielfalt abdecken, ohne den semantischen Bezug zur sozialräumlichen Wirklichkeit zu entwickeln. Architektonische Aussagen sollen wahr sein, doch nicht nur im Sinne der mechanischen Widerspiegelung, sondern nach dem Charakter künstlerischer Aussagen.

6. Funktionale Gestaltung formt Inhalte, sie zielt auf die Formulierung architektonischer Aussagen. Da der Funktionalismus zuerst an Zielen und Funktionen orientiert ist, legt er dort auch die klarsten und wesentlichsten Kriterien fest. Auf den unteren Ebenen der Gestaltungsmittel indessen gibt er nur Orientierungen oder ist völlig offen. Deshalb ist die Formenwahl aber nicht zufällig oder subjektiv. Die Gestaltungsmittel werden aus dem (immer offenen) Repertoire einen raumzeitlich konkreten Kulturkreises und in dialektischer Einheit zu den praktischen und technischen Konditionen entsprechend ihrer Eignung dafür ausgewählt, in der konkreten Gestaltungssituation den erstrebten Inhalt auszudrücken bzw. eine Wirkungsabsicht realisieren zu können. Sie gewinnen ihren Wert nur in ihrer inhaltlichen Beziehung, die sich meist erst in der Kombination und Konkretisierung zu baulichen Gebilden entwickelt. Formen oder Formenmerkmale „an sich“ sind dem Funktionalismus wertfrei, er beurteilt Formen nach ihrer ästhetischen Funktion. Ein „Funktionalismus“, der auch nur ein einziges derjenigen künstlerischen Mittel nicht zu integrieren weiss, die einen relevanten Wirklichkeitsbezug an eine Gruppe von Menschen zu vermitteln vermögen, ist reduziert, ist formalistisch. Funktionalismus schließt in seine ästhetischen Mittel auch Symbole, Motive, bildhafte Zeichen, Metaphern, Zitate, Verfremdungen usw. ein. Nicht ihre Zugehörigkeit zum Repertoire der Gestaltung ist Gegenstand der funktionalen Bewertung, sondern ihre konkrete gesellschaftliche Verwendung.
Funktionales Gestalten zielt nicht lediglich auf eine formale Harmonisierung des Erscheinungsbildes, sondern auf Formen, Inhalte (Aussagen) und ästhetische Wirkungen. Deshalb untersucht Funktionalismus die Beziehungen von Formen und Inhalten, sie sind teils festgelegt – z.B. bei Anzeichen, die den Fakt, aus dem sie ursächlich hervorgingen, durch logisches Denken erschließen lassen; Symbole hingegen haben ihre Bedeutung durch einen bewussten Akt der Sinngebung erhalten, sie kann u.U. auch ausgewechselt werden. Funktionales Gestalten überprüft die Sinngehalte der Formen, verwendet aussagekräftige Gestalten, versucht die Neuinterpretation wichtiger Formen, Formenmerkmale oder Gestaltungsprinzipien, wenn ihr Sinngehalt den sozialistischen Orientientierungen nicht entspricht und erfindet neue Träger architektonischer Aussagen.

Die genannten Mittel sind geeignet, künstlerische Wirkungen zu fördern. Das Künstlerische ist als ein konzentrierter, ausdruckstiefer Modus des Ästhetischen ein Moment funktionaler Gestaltung, dabei bleibt gültig, dass die Architektur und die Gebrauchsgegenstände dem Umweltbegriff viel näher stehen als dem Kunstbegriff. Doch erst auf diese Totalität des Künstlerischen geweitet, erfüllt Funktionalismus die Anforderungen einer sozialistischen Gestaltungskonzeption und ist nicht nur eine Hauptlinie, die durch irgendwelche „Nebenlinien“ ergänzt werden muss. /22/

7. Der Funktionalismus entwickelt die Vermittlungsfähigkeit der Form. Sein Bestreben, alles zu funktionalisieren, bindet die Form in kommunikative Zusammenhänge. Die Menschen nutzen die baulichen Formen zur Speicherung und zur Weitergabe von sozialen Erfahrungen. Mit den Formen werden ihre Inhalte, Assoziationen, Emotionen, Werte usw. die ihnen auf Grund einer sozial-kulturellen
Übereinkunft zukommen, ins Bild gesetzt, so dass das Leben in gebauter Umwelt auch eine Existenz inmitten gebauter Aussagen und bewusst vergegenständlichter Ideen ist. Im Prozess der Vermittlung findet teilweise rhetorische Kommunikation statt, d.h. die Nutzer werden zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert, teilweise werden praktische und ästhetische Impulse geliefert, die umgedeutet und interpretiert werden, letztlich gibt es auch Formaspekte, denen erst im Gebrauch ein Inhalt zugesprochen wird.

Auffällligkeit und Ausdruckskraft der baulichen Umwelt richten sich nach ihrer konkreten Funktion; gegenüber dem Leben der Menschen sollte Architektur immer Hintergrund bleiben. Sie spricht selten laut, doch sollte sie alles aussagen können, was die Rezipienten im Interesse einens entwickelten Verhältnisses zur Architektur erfahren wollen. Die kommnikative Funktion der Form macht es notwendig, dass sich funktionale Gestaltung an den Möglichkeiten und Gewohnheiten zur Wahrnehmung und Interpretation der baulichen Formen orientiert. Die Fähigkeit der Formen, soziale Erfahrungen zwischen denen zu vermitteln, die mit Architektur umgehen, ist an ihre Fasslichkeit gebunden. Die Verständlichkeit ist deshalb eine Grundfunktion der baulichen Form. Sie ist die Eignung, in einer bestimmten historischen und lokalen Situation einen geistigen Impuls an eine Gruppe von Menschen zu vemitteln. Funktionale Verständlichkeit zu Zwecken der Kommunikation steht im Widerspruch zu elitären Haltung, denen der Publikumsgeschmack unwichtig ist, sie ist aber auch nicht zu verwechseln mit seichter Eingängigkeit, aus der dem Kitsch seine zweifelhaften Reize erwachsen.

8, Der Funktionalismus verhält sich zur Form wie zu einer sprachlichen Äußerung. Entwurfsmethodische Voraussetzung dafür ist, dass die vielfältigen Anforderungen an die Form nicht lediglich in einem Kompromiss vereint, sondern einem außerhalb der Kompetenz des einzelnen Architekten befindlichen nomativen System – einer Formensprache zugeführt werden. Dabei wird diese durch den Gebrauch selbst verändert. Sie besteht aus kombinierfähigen Formelementen und Regelsystemen, die extreme Kreativität zulassen und zugleich eine Verständlichkeit des Ergebnisses sichern. Formgebung ist Formulierung, also Produktion von sprachlichem Ausdruck. Architektonisches Gestalten ist der schöpferische Prozess der ästhetischen Formulierung von architektonischen Aussagen, die durch Figurieren, Modifizieren, Selektieren oder Kombinieren von bedeutungstragenden und materiellen Zwecken dienlichen Formen gebildet werden.

Funktionalismus zielt auf das Einfache. Doch nicht auf geometrisch einfache Formen, sondern auf die Einfachheit sprachlicher Ausdrücke, die zugleich komplex und vielfältig sind. Er akkumuliert die Formen mit derjenigen Menge an technischen, praktischen, sozialen, kulturellen, lokalen … Faktoren, die genau dem System der Anforderungen entsprechen. Die objektiven Anlässe bilden die Grundlage für eine differenzierte Formensprache, deren lokale und sozial-kulturelle Differenzierung ebenso der Bedingungsstruktur wie auch der Organisation des menschlichen Bewusstseins entsprechen sollten. Eine verständliche und ausdrucksvolle Sprache der Architektur muss funktions-, kontext- und adressatenbezogen sein.

Im Gegensatz zum Systemcharakter der Sprache stehen einerseits alle formalen Regelkanons – z.B. die „Diktatur“ des rechten Winkels – oder andere, den Fassaden angefügten Stilüberzüge, die eine formale, doch fremde Einheitlichkeit herstellen, aber auch alle eklektischen Tendenzen, die heterogene Ausdrücke, unabhängig von ihrer Verträglichkeit sammeln. Beide Tendenzen vermindern die Aussagefähigkeit der Architektur.

9. Der Funktionalismus schließt den Wandel ästhetischer Ausdrucksweisen (Stile) ein. Ihm sind die sich historisch ziehenden Veränderungen in der Geschmackskultur der Gesellschaft nicht fremd. Stile sind Ausdruck materieller und ideologischer gesellschaftlicher Verhältnisse die sich in geschichtlichen Etappen zu charakteristischen Formenausprägungen verfestigt haben. Die gesellschaftliche Psyche, dieses stilistische Normativ trägt, ist einer der Fakten, die im Gestaltungsakt als objektive Bedingungen anerkannt werden. Funktionale Gestaltung reagiert auf neue technische und ökonomische Bedingungen, auf veränderte Seh- und Interpretationsweisen und übersetzt sie in ein System variabler Ausdrucksträger. Funktionalismus ist kein Stil, anerkennt aber Stile innerhalb seiner Grundsätze. Er lehnt subjektive Manieren, formale Dogmen, „styling“ und Modisches ab, er kritisiert eine Gestaltungsweise, die den moralischen Verschleiß außerhalb der Produktivkraftentwicklung erhöhen will, und er fördert langlebige Produkte. Er lehnt die aus wirtschaftlichen Gründen initiierten Pendelbewegungen der Mode ab, doch er akzeptiert den sich gesellschaftlich verändernden Duktus innerhalb eines ausdrucksfähigen und offenen Sprachsystems. Sachliche, expressionistische, symbolische, ikonographische, metaphorische, verfremdende und andere Wendungen verschiedener Coleurs (wie sie auch der Postmodernismus verwendet) können, sofern sich diese Merkmale von ihren gesellschaftlichen Wurzeln lösen und sich als Elemente einer instrumentellen Formensprache in unseren Dienst stellen lassen, auch den zeitlichen, regionalen oder personalen Ausdrucksweisen der sozialistischen Architektur zugehören und stilprägend wirken.

10. Funktionalismus ist ein synthetisches Verfahren. Die sich ergänzenden und widersprechenden objektiven Anlässe bilden die Grundlage für eine synthetische Lösung, die durch einen kreativen Akt gefunden wird. Dabei spielen Grundmuster der Erfahrung, die sich in typologischen Modellen verdichtet haben, eine wichtige Rolle. Der Typus bezeichnet im Verhältnis zum „Standard“, der ein technischer Terminus ist, ein Kulturprodukt. Er ist ein prinzipiell gleichwertiges, im konkreten Falle aber in den Anforderungsproportionen gewichtetes Gebilde zwischen Praktischem, Technischem und Ästhetischem. Der architektonische Typus ist gegenüber dem Standard flexibel; er enthält eine positive Unschärfe in der Formulierung der konkreten Lösung, zugleich verfestigt der Typus die Breite möglicher Lösungen in bewährten Gestalten. Er vereinigt das Allgemeine einer massenhaften Erfahrung mit dem Einzelnen der raumzeitlichen Situation, das Typische der baulichen Kategorie
mit dem Typischen des Ortes.

Funktionalismus achtet die gültigen Erfahrungen und bewährten Lösungen, er ist nicht neuerungssüchtig. Die Änderung der Lösung setzt bei ihm eine Änderung der Anforderung voraus. Typologisches Denken hilft, das Wesen einer Bauaufgabe und das Charakteristische einer lokalen Situation zu erkennen. Vor allem bei komplexen Anforderungen dient typologisches Entwerfen dazu, den Geist der Zeit mit den Anforderungen und Eigenheiten des Ortes, dem „genius loci“ zu verbinden.

Typen sind sowohl herstellungs- und nutzertechnologisch als auch ästhetisch sehr ökonomische Gebilde. Die typologischenl Figuren sind Grundbausteine der architektonischen Formensprache. Durch ihre synthetische Natur erhalten sie jenes Maß an Dauerhaftigkeit, an Logik und Prägnanz, dass sie verständlich macht und Orientierungen gibt. Zugleich gewinnen sie durch ihre Elastizität jene Momente der Innovation und der Anpassungsfähigkeit, die sie interessant und reizvoll machen. Architektonische Typen sind baulich definierte Gestaltungsvarianten für die Erfüllung von Raumbedürfnissen. Funktionalismus entwickelt und gebraucht typologische Modelle.

11. Funktionalismus ist geschichtsbewusst. Bauen ist sowoh Mittel zur Befriedigung von Raumbedürtnissen als auch ein Beitrag zur (erweiterten) Reproduktion der Städte bzw. der Siedlungen. Die Städte und Siedlungen, die meist Produkte jahrhundertlanger Kulturentwicklung sind und diese Geschichte in ihren Mauern aufbewahren, bilden Traditionslinien, in die auch das Neue einzubinden ist. Die funktionale Gestaltungsmethode entwickelt eine Dialektik von Kontinuität und Innovationen, die im Ergebnis der Produktivkraftentwicklung entstehen und aus den neuen sozial-kulturellen und technischen Anforderungen erwachsen.
Funktionalismus verhält sich als Gestaltungsmodell auch zu historischen Bauformen funktional, er fragt nach Sinn und Zweck der Verwendung historisch entstandener Formen im zeitgenössischen Bauen. Dabei unterscheidet er: Das Anliegen der Denkmalpflege, deren Aufgabe es ist, die wertvollen Sachzeugen der Geschichte zu erhalten und in das soziale Leben zu integrieren. Das typologische Entwerfen verwendet bewährte Baukörper- und Raumformen auf Grund ihres ungebrochenen Gebrauchswertes. Den Kontextualismus motiviert ein grosses Harmoniebedürfnis, er versucht, den Neubau an die bauliche Umgebung (den Kontext) anzugleichen. Der Historismus ist bestrebt, mit der Verwendung historischer Formen ideologische Werte der Vergangenheit zu reaktivieren. Die Nostalgie setzt auf ein ästhetisiertes Vergangenheitsweh des Publikums, dem sie bei Verachtung der historischen Wahrheit vordergründig gefallen will. Historische Zitate sind überlieferte Aussagenträger, die in mehr oder weniger verfremdetem Kontext auftreten. Sie können nostalgisch-kitschig wirken, doch mitunter auch relevante Aussagen vermitteln.

Funktionalismus bewertet die überlieferten Formen im zeitgenössischen Bauen nach ihrer Anwendung, d.h. nach ihrer konkreten materiell-praktischen und ideell-ästhetischen Funktion. Geschichtsbewusstsein ist am besten dadurch zu fördern, dass das wertvolle Alte respektiert wird und das Neue seine eigene Sprache spricht – eine solche aber, die dialogfähig ist mit dem geschichtlichen Kontext.

12. Funktionalismus setzt eine flexible Produktion voraus. Die sozial-kulturellen Anforderungen und die natürlichen und historischen Bedingungen individualisieren den lokalen Standort derart, dass ihnen kein universeller Standard entsprechen kann. Ist auch die nötige Varianzbreite von Bauaufgabe zu Bauaufgabe unterschiedlich, so ist doch die Unterordnung der Mittel unter die Zwecke ein so
grundlegendes funktionalistisches Prinzip, dass die verfügbare Bautechnik zwar einen anerkannten Faktor für die Formgebung darstellt, doch bezüglich der konkreten Bedingungen variable Lösung gestatten muss. Die „klassische“ Form der Industrialisierung, die standardisierte Massenproduktion auf der Ebene von grossen Einheiten wie Blöcken und Segmenten, ist für die Stadt- und Siedlungsentwicklung mit weitreichenden Anforderungen an geographische, soziale, kulturelle und historische Differenzierungen untypisch und nur als historische begrenzt eingesetzte
Technologie zur Überwindung des Wohnungsdefizits zu verstehen. Im Interesse des flexiblen Typus und einer hohen Ökonomie der Massenproduktion setzt der Funktionalismus auf den technischen Fortschritt. Er strebt ökonomische Lösungen auf der Basis frei programmierbarer (EDV-gestützter) Fertigung an. Darüber hinaus besteht aber das Spezifische der baulichen Produktionsweise darin, alle technologischen Niveaus – von der einfachsten Handarbeit bis zur Computersteuerung – als mögliche Techniklösungen bereitzuhalten. Handwerkliche und hochtechnologische Lösungen treffen sich in der, der Bauproduktion eigenen Flexibilität und der entsprechenden hohen Organisations- und Entscheidungsdichte während serielle Produkte der reproduktiven Art Ausnahmen, Zwischenlösungen oder Größenordnungen unterhalb architektonischer Einheiten darstellen. Funktionalismus behandelt Elemente und Halbfertigteile als Erzeugnisse, doch Gebäude als originäre Orte.

13. Funktionale Gestaltung kommt von den Nutzern. Sie dient nicht nur dem Leben der Bewohner, sondern wird auch zunehmend mit ihnen und durch sie vollzogen. Die Nutzer sind die souveränen Subjekte des Funktionalismus, die Architektenschaft ist ihr Anwalt und fachkompetenter Partner, der die führende Rolle in der Entwicklung der Architektur und ihrer Formensprache übernehmen muss. Funktionalismus setzt den Dialog mit den Nutzern voraus, er erfordert und fördert deren zunehmende intellektuelle und praktische Potenz, auch ihr polytechnisches und musisches Bedürfnis nach Bauen. Funktionales Gestalten respektiert und qualifiziert die Ansprüche und Möglichkeiten der Nutzer, betrachtet sie als Mündige und macht sie zugleich mündig. Funktionalismus orientiert auf Entwurfs- und Produktionsverfahren, die diesen Dialog mit den Nutzern ermöglichen und die gesellschaftlichen und individuellen Potenzen zur Umweltgestaltung vereinigen.

Funktionalismus organisiert den Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens gebauter Umwelt als demokratischen Entscheidungsprozess. Die Entwicklung der sozialistischen Demokratie ist eine Prämisse für die Ausformung der funktionalen Methode. Funktionalismus ist Teil des allgemeinen sozialen und kulturellen Emanzipationsprozesses, in dessen Verlauf das bauliche Ergebnis immer deutlicher und direkter durch die Interessen der Finalisten (der Nutzer) bestimmt wird. Die Form folgt den praktischen und ästhetischen Bedürfnissen und Interessen der Nutzer, die der Architekt aufspürt und nach der Art der Baustoffe und der Bautechnologien und nach dem Geist des Ortes und der Zeit in die räumliche Artikulation der gebauten Umwelt übersetzt.

Anmerkungen
/l/ Hirdina, K.: Pathos der Sachlichkeit – Berlin, 1980. – S. 209
/2/ Die Problematik des Be griffes „Punktionalismus“ hatte Fritz Wichert, einer der Anhänger den
Neuen Bauene, schon 1926 angesprochen. Mit Blick auf das funktionelle Bauen“ klagte er: „Wieviel müßte man schreiben, um die Verwirrung, die ein Schlagwort angerichtet hat, wieder zu beseitigen!“ Wichert, F.: – Architektonische Universalgestaltung und Heimatkunst. – Nachdruck In: Hirdina, H.; Neues Bauen, Neues Gestalten. – Dresden, 1984. S. 253 – 256.
Zitat S. 253
3/ Ähnlich geht es dem Begriff „Sozialistischer Realimus“ in der Architektur. „Sozialistischer Realismus – das umfaßt alles Progressive, was die Entwicklungstendenz bestimmt und die Sowjetarchitektur weiterbringt.“ Nowikow versteht unter dem sozialistischen Realismus in der Architektur eine „neuartige soziale Ausrichtung – Ideengehalt plus realistische Form auf hohem künstlerischem Niveau“. (Vgl., Nowikow, F.: Vyssij kriterij (das oberste Kriterium).
– in: Architektura, Noakva (1980) 2. – S. 2)
/4/ Hüter, K.-H.: Architektursprache. Semiotik des modernen Bauens.
– In: Form und Zweck 13 (1981) 3. – S. 21 – 32
/5/ Die Begriffe lassen sich in ihrem Inhalt mehrmals umkehren. „Technizismus“ steht z. B. in „Ästhetik heute“ für „eine ästhetisch positive Haltung zur Technik, die erst durch ihre Kritiker mit einem Begriff negativer Bedeutung belegt wurde“; Technizismus nicht, nur seine Hypertrophierung sei negativ und gefährde den Gebrauch. (Vgl. Ästhetik heute. – Berlin, 1978. – S. 446)
/6/ Kulturpolitisches Wörterbuch. – Berlin, 1970. – S. 160
/7/ Die widersprüchlichen Seiten der Sachlichkeit beschreibt Karin Hirdina: Pathos der Sachlichkeit… -S. 28 ff
/8/ Schnaidt, C.: Architektur und politisches Engagement.
-In: Deutsche Architektur 17 (1968) 7. – S. 388
/9/ Allerdings konnten abseits der großen weltpolitischen Entwicklungen einige funktionalistische
Nischen fortbestehen, sich sogar konzeptionell weiterentwickeln, wie der „poetische Funktionalismus“ in der Tschechoslovakei. Vgl. Hain, S.: Verteidigung der Poesie.
1986, Berlin. Diss. A.
/10/ Hüter fordert ebenso, den Funktionalismus „aus der Fixierung auf die zwanziger Jahre zu lösen“.
-Vgl. Hüter, K.-H.: Gesichter des Funktionalismus. – In: Form und Zweck 14 (1982) 4, S: 41-45
/11/ Mukarovsky`s „uferloser Funktionalismus“ „ trug dazu bei, den spezifischen, architektonischen
Funktionalismus der 20er Jahre seiner Praktikabilität zu entledigen“. Heute enthält die Ausweitung der funktionalen Methode – einen eindeutig progressiven Impuls für die Baupraxis. Zu den theoretischen Positionen Mukarovokys siehe Hein, S. Verteidigung der Poesie. – S.110.f
/12/ Kühne L.: über Postmodernismus. – In: Form und Zweck 14 (1982) 6. – S. 29 – 32. -Zitat S. 29
/13/ Hegewald, H.: Gedanken zur sozialistischen Lebensweise, Persönlichkeitsentwicklung und Stadtgestaltung.In: Sohrittenreihe der Sektion Architektur der TU Dresden, 1985. AID/Heft 23. -S. 24 – 27
/14/ In diesem Sinne, auf materielle Bedürfnisse beschränkt, verwendet ihn beispielsweise Flierl, B.:
Architektur und Kunst. – Dresden 1984. – S. 310/311
/15/ Ästhetik heute. – Berlin 1978. –S. 420
/16/ Rogge, F.; Weber, 0.; Zimmermann, G.: Architektur als Kommunikationsmittel. – Schriften der
Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. – 1973, Heft 13/14. S. 33 f.
/17/ Joedicke, J.: Geometrie und Organik als Prinzip des Bauens.
Zum 100. Geburtstag von Hugo Häring. – In: Pantheon XI. (1982) Heft III. – S. 195 – 200
18/ Karin Hirdina sieht diese Beziehung in der von Gebrauchswert und Ausdruckswert – in Anlehnung an die Terminologie von „Ästhetik heute“. Hirdina, K.: Pathos der Sachlichkeit…-S. 207
/19/ Adorno, T.: Funktionalismus heute. – In: Neue Rundschau 77 (1966) 4. – S. 594
/20/ In „Ästhetik heute“ wurde dazu treffend gesagt: Funktionalismus reduziert … nicht ästhetischen
Genuß, sondern integriert ihn der Tätigkeit und nicht lediglich der Anschauung.“, Ästhetik heute… -S. 451
/21/ Karl-Heinz Hüter so schreibt dazu: „Der Grad der Determiniertheit durch Gebrauchswert und Leistungsanforderung einerseits sowie durch den Ausdruckswert andererseits verändert sich nach der Art des Objektes.“ Hüter, K.-H.: Gesichter des Funktionalismus.
In: Form und Zweck 14 (1982) 4. -S. 44
Dagegen sieht Kühne diese Beziehung festgelegter: Die funktionalistische Gestaltung „organisiert die materiellen Lebensbedingungen unter dem absoluten Vorrang der praktischen Erfordernisse“, doch dieser „absolute Vorrang“ ist genau so ungenau und abstrakt, wie der „dominante Charakter“ des Gegenstandes. Natürlich folgt die Gestaltung nicht einem belanglosen Faktor, sondern den wesentlichen Bedingungen. Doch diese sind in jeder Bauaufgabe unterschiedlich gewichtet, so daß Architektur nicht einfach eine praktische Gestalt ist, sondern eine solche, die technisches und künstlerisches Gestalten, was Kühne ausdrücklich ablehnt.
Kühne L.: Gegenstand und Raum. – Dresden 1981. -S. 74 und 268
/22/ Die Hoffnung, der Funktionalismus fülle nur eine ergänzungsbedürftige Hauptlinie aus, die durch andere Gestaltungeweisen angereichert werden kann, verrät nur dei dogmatischen Reste dieses Begriffes. Der sympathische Versuch (z.B. bei B. Flierl), diese zu überwinden, ist aber besser durch die Ausweitung als durch die Ergänzung des Funktionalismus durch eine andere Gestaltungskonzeption zu erreichen. Vgl. Flierl, B.: Architektur und Kunst…- S. 292


(Dieser Beitrag entspricht dem Kapitel 9 der Dissertation B „Die Funktion der Form in der Architektur – zu Grundfragen und aktuellen Problemen der.Gestaltung“, eingereicht im April 1987 an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar)

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