Eklektizismus und Formensprache (1987)

Im Spannungsfeld zwischen einem radikalen Eklektizismus und einem kanonischen Formalismus entwickelt sich eine neue Formensprache der Architektur. Sprache, Stil und Kolorit bilden die Vermittlungsebenen der Form, die zugleich dem Menschen und dem Bausystem zugehören sollten.

Olaf Weber
Eklektizismus und Formensprache

1. Historische Einordnung des Problems

Die große Einheitlichkeit der Kultur, wie sie uns für bedeutende Kunstepochen selbstverständlich erschien und exemplarisch in der antiken oder in der aztekischen Kunst ihren Ausdruck fand, scheint heute unwiederbringlich verloren zu sein und dieser Verlust wird vielfach bedauert. Beschränken wir unseren Blick auf die gegenständliche Welt, die uns umgibt, so erkennen wir, dass sie im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre ein immer heterogeneres, ja chaotisches Bild angenommen hat – trotz der vielen Wiederholungen, die aber nur der direktere Ausdruck von Monotonie sind, während die Langeweile, die von der verwirrenden Vielfalt ausgeht, erst auf den zweiten Blick erkennbar ist. Die Dinge streben nicht nur in ihrem Erscheinungsbild auseinander, auch ihre funktionale Potenz entwickelt sich heterogen, die Weise ihrer Aneignung, ihre Strukturprinzipien, ihr stofflicher Aufbau usw. Aus gewissen objektiven Tendenzen zum Pluralismus machen einige Theoretiker (die „Postmodernisten“) ein ästhetisches Programm: der „radikale Eklektizismus“ wird zum Gestaltungsideal erhoben.1) Ich will in meinem Beitrag diesen Neo-Eklektizismus kritisieren, d. h. ihn nach seinen funktionalen Möglichkeiten hin befragen und Tendenzen möglicher Alternativen aufzeigen.

Ein kurzer Blick in die Vergangenheit soll uns die Entwicklungsgeschichte unseres Problems aufzeigen. In den letzten Jahrhunderten prägte das Gesicht unserer gegenständlichen Umwelt immer ein Stil, wenn wir darunter das Gemeinsame in den ästhetischen Ausdrucksweisen einer historisch konkreten Gesellschaft verstehen. Romanik, Gotik oder Renaissance sind Namen für solche Stile, die zwar durch die neuere Kunstwissenschaft gründlich verunsichert wurden, indem die tatsächliche Vielfalt innerhalb des jeweiligen Zeitausdruckes untersucht wurde, doch letztlich als übergreifende kulturelle Phänomene anerkannt blieben.2) Stile waren die großen Klammern, unter denen die verschiedenen Arten ästhetischen Verhaltens einer Zeit und einer Region zusammengefasst wurden.

Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war auch der Klassizismus ein Monostil, dessen Hinwendung zur Antike eine große ideologische Geste des Bürgertums darstellte, doch der Rückgriff auf historische Formen war nicht als Hilfe bei der Vermittlung sozial-räumlicher Informationen gedacht. Die Klassizistischen Gestaltungselemente waren nur in geringem Maße Sprachmittel, also zum Ausdruck verschiedener architektonischer Sachverhalte geeignet, sie verkörperten nur in summa, als Prinzip, ein Ideal und sollten vor allem ein Inbegriff von natürlicher Schönheit sein. Erst im Laufe der Industrialisierung entwickelten sich Kräfte, die die Auflösung dieser Homogenität des Stils betrieben. Die Industrie tendierte immer mehr zu den heterogenen Erscheinungen der verschiedensten Serien, deren Exemplare wiederum eine uniforme Masse darstellten. Außerdem wollte sich das Bürgertum nicht mehr mit dem Ausdruck eines ohnehin mehr und mehr befremdlichen gesellschaftlichen Ideals begnügen und strebte nach einen Ausdruckssystem für das Individuelle, vor allem für die Repräsentation von Reichtum, Einfluss und Macht oder deren Surrogate. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung architektonischen Ausdrucks war der Übergang zum Eklektizismus des 19. Jahrhunderts positiv, da er die Überwindung des alten Stildogmas betrieb und auf einen zwar bornierten, doch funktionalen Gebrauch der Gestaltungsmittel hinarbeitete. Doch der Sinn der Gestaltung blieb unerfüllt und das System der Ausdrucksmittel blieb unfrei und schematisch. Der einsetzende Pluralismus der Gestaltung musste zaghaft und unerfüllt bleiben, dabei auch dogmatisch und mysthisch-chaotisch, eben eklektisch. Die Architektur hatte zwar wieder distingtive Einheiten, doch kein sprachliches Ausdruckssystem gewonnen.

Um 1900 entwickelte sich eine neue Qualität in der Ausprägung der Wirkungsbeziehung von Architektur und Mensch. Der klassische Formenkanon, der seit dem 16. Jahrhundert die Architekturästhetik beherrschte, wurde durch neue formale Mittel abgelöst, die zunehmend nach dem Kriterium ihrer Wirksamkeit erfunden und verwendet wurden. Die damals einsetzende Psychologisierung der Kunst revolutionierte auch das Ausdruckssystem der Architektur. Das war eine sehr viel bedeutendere Orientierung auf den Gestaltungspluralismus, als es die Stilvielfalt des Eklektizismus gewesen war und markierte einen bedeutsamen Entwicklungssprung. Es begann sich das gestalterische Grundprinzip durchzusetzen, dass alle Mittel recht seien, die eine bestimmte Wirkung versprechen. Wirksamkeit wurde wichtiger als Darstellung oder Abbildung, die Pragmatik begann, über Semantik und Syntaktik zu dominieren.

Die Tendenz zur natürlichen Ausweitung des Gestaltungsmittelrepertoires und damit zur Vielfalt wurde allerdings in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts durch zwei Faktoren abgeschwächt, die zu jeweils spezifischen Ausdruckssystemen führten – zum Jugendstil und dem Stil der Neuen Sachlichkeit. Der Jugendstil musste vor allem das große Harmoniebedürfnis des Bürgertums respektieren und sollte die allerdings schon verblichenen Ideale von einer einheitlichen Kultur beleben. Die alles umspannende und vereinigende fließende Linie war auch Ausdruck der Angst vor einem wirklichen Pluralismus, der möglicherweise Kräfte geweckt hätte, die die Dominanz der Herrschaftssymbole und der aufkommenden Warenästhetik gefährden konnte.

Diese Begründungen für die ästhetische Einheitlichkeit trafen auch für die „Moderne“ zu, doch wurde sie vor allem durch die Industrialisierung, hinter der mindestens bei der Avantgarde positive soziale Motive standen, forciert. Die Entwicklung der Produktionstechnik und der Produktionsorganisation, die in der Mitte unseres Jahrhunderts dem Höhepunkt der klassischen Industrialisierung zustrebten, nämlich der Herstellung uniformer Serien und Sets, begünstigten das additive Denken und die harmonisierende Beschränkung der Gestaltungsmittel. Die Maschinensprache der seriellen Produkte entsprach den sozialen Vermassungstendenzen, zu denen die objektiven Vergesellschaftungsprozesse degenerierten. Die Kluft zwischen der Uniformität der Serienprodukte und der Unverträglichkeit der Serien konnte nur durch großindustrielle Herstellung übergreifender Produktlinien kaschiert werden.

Die objektiven Voraussetzungen waren so disparat, dass eine auch sinnlich wirkende Einheitlichkeit oft nur durch grobe Elementarisierung erreicht werden konnte, die ebenso wenig aus einer intakten Kultur erwuchs wie die „Vereinheitlichung“ durch die getünchte Unität einer folienhaften Ornamentik. Die verlorengegangene Dialektik von Einheit und Vielfalt wurde durch eine ästhetisch doktrinierte Einheitlichkeit ersetzt.

Die sich zunehmend modernistisch gebende Moderne bediente in ihrem formalistischen Flügel die äußerliche Homogenisierung durch geometrische Figuren und in ihren zweckrationalistischen und konstruktivistischen Flügel vereinfachte sie die Anforderungsstruktur an die Produkte auf solche Weise, dass geschlossene Erscheinungsbilder entstanden. Der Stil, das einst flexible Ausdruckssystem, wurde im Laufe der Industrialisierung immer mehr entweder zu einer ästhetischen Bandage oder zu einer Nullstelle im Anforderungssystem. In der Architektur der großen leeren Kästen konnten beide Orientierungen ihre allerdings infertile Vereinigung finden.

Gegen die formalistischen, technokratischen und zweckrationalistischen Tendenzen, die jede aus einem anderen Grunde die große Einheitlichkeit suchten (und sie im äußerlichen Erscheinungsbild erreichten, indem sie den inneren Zusammenhang der Architektur zerstörten), trat nur langsam und zögernd eine Architekturauffassung an, die die Wirkungsästhetik auf der neuen technologischen und sozialen Basis fortsetzen wollte. Die Formensprache Le Corbusiers und der tschechischen „poetischen Funktionalisten“ zielten zum Beispiel in diese Richtung. Die Reduktion der architektonischen Vielfalt auf elementare Formen war einerseits bloße geometrische Gewalt gegen die Architektur gewesen, andererseits schuf sie die Startposition für die Entwicklung einer neuen vielfältigen Formensprache. Diese Entwicklung wurde aufgehalten, weil kein ausreichendes gesellschaftliches Interesse oder Vermögen an einem lebendigen architektonischen Ausdruck vorhanden war. Erst im letzten Viertel unseres Jahrhunderts belebt sich dieses Interesse aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gründen wieder, doch die zur Ausdrucksfähigkeit gehörende Vielfalt der Gestaltungsmittel droht, in einem neuen Eklektizismus zu verkommen.

2. Das eklektische und das kanonische Prinzip

Der Eklektizismus ist durch einen spezifischen Ordnungszustand oder besser, durch einen besonderen Zustand der Unordnung geprägt. Sein Gegenpol ist der Kanon, der das Gleichmaß einer gesetzmäßigen Wiederholung verkörpert. Im Verhältnis von eklektischem und kanonischem Prinzip liegen die Erklärungsmuster für viele Erscheinungen der zeitgenössischen Architektur und in der konkreten Dialektik von Ordnung und Unordnung sind Qualitätsmerkmale festgelegt, die wichtige Eigenschaften ästhetischer Gebilde betreffen, z. B. ihre Fähigkeit zur ideellen Vermittlung.

Im nebenstehenden Schema ist waagerecht die Skala der Ordnungszustände aufgetragen. Auf der linken Seite dominiert die Vielfalt (die Unordnung), auf der rechten Seite die Ordnung (die Einfalt). Die Begriffe Vielfalt und Ordnung bezeichnen unterschiedliche Zustände des Zusammenhanges und der Individualität der Teile eines ästhetischen Gebildes. Sie haben eine subjektive Komponente, d. h., das Erkennen von Ordnungszuständen ist von den kulturellen Mustern und der subjektiven Befindlichkeit (z. B. Sensibilität) der Wahrnehmenden abhängig.

Vielfalt und Ordnung können in den äußeren Schichten der Gestalt zu erkennen sein (Proportionen der Baukörper, Gliederungen, Rhythmen, Symmetrien usw.), aber auch in tiefer liegenden, semantischen Bereichen (Beziehungen der Assoziationen, Zusammenhang der Bedeutungen, Logik der künstlerischen Aussagen usw.). Ordnungszustände treten in vielfältiger Form auf, sind oft schwer auszumachen, wirken oft unbewusst. Ordnung ist für den Akt der Wahrnehmung etwas Vorhersehbares, das nachfolgend Wahrgenommene geht dabei aus dem vorher Gesehenen mit hoher Wahrscheinlichkeit hervor, es folgt einer Regel.

Die große Vorhersehbarkeit eines geordneten Gebildes begrenzt seine Vermittlungsfähigkeit. Sobald die Regel (die Norm) bekannt ist, vergrößert jedes Element, das die Regel bestätigt, die vermittelte Information nicht mehr, doch kann es die Regel festigen oder konkretisieren. Solche Wiederholungen sind weitschweifig (redundant). Ein bestimmtes Maß an Weitschweifigkeit ist für die Übermittlung einer Nachricht notwendig. Information und Redundanz sind demnach widersprüchliche Pole der Gestaltung, sie bilden die informationstheoretische Entsprechung zu den begriffen Vielfalt und Ordnung.

Aus dieser Erkenntnis entwickelte die „Informationsästhetik“, die sich Ende der 60er Jahre formierte, eine spekulative Theorie. Sie verwandelte die Dialektik von Vielfalt und Ordnung in eine sozial-kulturelle Kategorie.3)
Die Informationsästhetik geht von der Grundidee aus, dass diejenigen (künstlerischen) Nachrichten die beste menschliche Effizienz aufweisen, die ein Gleichgewicht von Banalität und Originalität enthalten. Diese Polarität, die bei Moles, Bense, Gunzenhäuser usw. immer noch ein zusammenhangendes Gefüge bildete, vereinnahmten die Postmodernisten in der Theorie der Doppelkodierung, die von einem gespaltenen Publikum – der banalen Masse und einer originellen Elite – ausgeht.

Doch bleiben wir beim Ordnungszustand. Die extremsten Ausprägungen des eklektischen und des kanonischen Prinzips sind das Chaos und die Monotonie. Im chaotischen Zustand fehlen die Ordnungselemente, im monotonen Zustand fehlt Vielfalt. Obwohl Chaos und Monotonie unter dem hier behandelten Aspekt auseinanderstrebende polare Grenzwerte darstellen, sind sie doch in ihrer ästhetischen Wirkung aus den Rezipienten ähnlich: Der Wahrnehmende wird nicht angesprochen, die Aussage ist simpel. Überhaupt sind die Außenbereiche der Skala durch eine eingeschränkte Ausdrucksfähigkeit der Gestalt gekennzeichnet. Das eklektische Prinzip führt zur Unverständlichkeit durch regellose Zustände, das kanonische Prinzip führt zur Ausdruckslosigkeit durch geringe Differenziertheit.

Unsere ästhetische Orientierung kann deshalb nur auf die Belebung des mittleren Bereiches des Ordnungs- und Vielfaltniveaus gerichtet sein. Dort haben die Formen die größten Potenzen zur Vermittlung und ideellen Wirkung. Das höchste Maß an Kommunikativität einer Gestalt und auch das an Wohlgefälligkeit und Schönheit erwächst aus dem zu Ende geführten Kampf um den inhaltserfüllten Widerspruch von Vielfalt und Ordnung. Er führt bei jeder Gestaltungsaufgabe zu anderen, jeweils spezifischen Proportionen zwischen diesen Polen doch liegen die gelungenen Lösungen stets in einem Bereich, der von beiden Prinzipien durchdrungen ist. Man kann ihn als den Systembereich bezeichnen, weil er diejenigen Ordnungszustände markiert, in denen sich die Gestaltungselemente nicht verselbständigt haben, sondern einen Systemzusammenhang bilden; sie sind nicht isolierte Formen und Symbole, sondern Elemente in dem Ordnungszustand einer Formensprache. In diesem Sektor der Skala sind die gegenständlichen Reize so strukturiert wie dasjenige, auf das sie wirken sollen – das menschliche Bewusstsein, sie haben sprachlichen Charakter.

In diesem Bereich herrscht das semiotische Prinzip. Es orientiert auf die Ausprägung von bedeutungstragenden Elementen, die nach den Regeln und Normen einer Formensprache zu vielfältigen Aussagen kombiniert werden können. Das semiotische Prinzip ist dem eklektischen und dem kanonischen Prinzip vor allem durch seine Ausdrucksfähigkeit überlegen. Dort, wo das kanonische Prinzip wirkt, herrscht die Sprachlosigkeit durch die Abwesenheit einer ausreichenden Zahl bedeutungstragender Elemente. Sie sind dem strengen und simplen Kanon geopfert worden, der sich ästhetischen Doktrinen oder serieller Unbeweglichkeit unterordnet. In den Fällen, in denen das vereinheitlichende Schema nicht die Grundstruktur der Gegenstände bestimmt, sondern sie nur oberflächlich „harmonisiert“, haben wir es mit einer Abart des Styling zu tun. Dabei kann die dekorative Zutat selbst vielfältig und interessant sein, sie dient letztlich immer der Glättung der Dingwelt im Sinne ihrer äußerlichen Vereinheitlichung. Styling ist das dekorative Gleichmachen der Gegenstände nach einem modischen Modus, dem die objektive gesellschaftliche Legitimation fehlt, weil er moralischen Verschleiß beschleunigt.

Zur anderen, zur eklektischen Seite des Spektrums muss noch etwas mehr gesagt werden. Die semiotische Interpretation der Architektur und die Forderung nach dem „radikalen Eklektizismus“ der Postmodernen (Charles Jencks) sind einander unvereinbar. Der Eklektizismus hat eben nicht den Charakter einer Sprache – schon deshalb nicht, weil der Vielfalt seiner Elemente der Systemzusammenhang fehlt. Sie enthalten nicht die Potenz, durch wechselnde Kombinationen eine Vielfalt originärer Aussagen zu bilden, die wesentlich über die Vielfalt der Elemente hinausgeht. Das aber wäre die funktionale Grundlage für Sprache. Hier zeigt sich, dass Jencks Theorie der postmodernen Architektur, die beiden Begriffe – Sprache und Eklektizismus – beansprucht, selbst eklektisch ist.

Der Eklektizismus deformiert das pluralistische Prinzip, in dem er Vielfalt durch die mechanische Zusammenfügung sich widersprechender Gestaltungsweisen produziert. Zu diesem Zweck löst er nicht nur die Formelemente aus ihrer syntaktischen Verankerung heraus, sondern auch aus ihrer semantischen. Sie erhalten Bedeutungen, die ihrer Genese widersprechen oder marginalen Charakter haben. Stilmittel sind im Eklektizismus nicht mehr verbindlicher Ausdruck einer abgrenzbaren Zeit, Region oder anderer definierbarer Entitäten. Auch ihr Bedeutungswandel ist nicht mehr nachvollziehbar, aus dem historisch gewachsenen Bedeutungsfeld gewisser Bau- oder Schmuckformen werden einzelne, dem neuen Zweck entsprechende Sinngehalte selektiert und bilden den Inhalt der eklektischen Aussage. Dabei ist nicht der Bedeutungswandel, den alle Formen im Laufe der Zeit mehrmals durchlaufen, das Problem, sondern der rudimentäre, vom materiellen Zweck losgelöste Charakter dieses Bedeutungswandels. Die Etymologie der bedeutungstragenden Einheiten wird im Eklektizismus verfälscht, oder besser: sie interessiert nicht.

Eklektizismus wählt nicht nur die Formelemente aus einem bodenlosen Fundus aus, sondern auch die genehme Bedeutung aus der Menge aller Bedeutungen, die diese Formen im Laufe ihrer Geschichte trugen. Dabei geht er pragmatisch vor, ohne dass er die Bauformen „aus ihren Keimen und Wurzeln, ihren Übergängen und Verzweigungen“ erklärt, wie es noch Semper anstrebte, der die vergleichende Sprachforschung auf die Baukunst angewandt wissen wollte, um die Sinngehalte heutiger Bauformen in Beziehungen zu setzen zu den „ältesten Symbole(n) … in ihrer ursprünglichen Bedeutung“. 4) Semper, der (seiner Zeit weit vorauseilend) für die Architektur viele Erkenntnisfortschritte durch die Sprachforschung erhoffte, ging davon aus, dass auch im baulichen Milieu „die Sprachwurzeln ihre Geltung immer behaupten und bei allen späteren Umgestaltungen der Grundform nach wieder hervortreten“. 5) Seine eklektischen und neoeklektischen Nachfolger respektieren nicht mehr die etymologischen Beziehungen zur Herkunft und Geschichte der Formen, sie haben zu ihnen nur noch ein benutzendes Verhältnis. Überhaupt ist Eklektizismus durch Beziehungslosigkeit gekennzeichnet – ihm fehlt die Grammatik seiner Zeichen ebenso wie die historische Verwurzelung seiner Sinngehalte, vor allem fehlt ihm aber die kommunikative Beziehung zum Rezipienten, die Fähigkeit zu differenzierter Mitteilung.

Eine eklektische Gestaltung besitzt „keine feste ideologische und kompositionelle Grundlage“ 6), ihm fehlt vor allem die sozial-kulturelle Verbindlichkeit eines Regelwerkes. In seiner neoeklektischen (postmodernen) Form wiederholt der Eklektizismus das Schema seines „originalen“ Vorbildes aus dem 19. Jahrhundert: Er ersetzt die Komposition durch eine Sammlung (Kompilation), wobei die zusammengelesenen Formen gegenüber den historisch jeweils vorgeordnetem Stil zwar immer den kompositorischen Zusammenhang verloren, möglicherweise aber auch eine assoziative Kraft gewonnen haben. Auf jeden Fall verlagert sich beim Übergang zum Eklektizismus die Wertorientierung von der Struktur auf die Elemente – ohne damit zur Qualität einer Formensprache vorzudringen.

Das Inventar der Gestaltungsmittel übernimmt der Eklektizismus vor allem den Vorzeiten, den historischen Stilen. Doch neben der Rückschau auf die Stilmittel der Vergangenheit übernimmt er auch fremde Formenmerkmale und Gestaltungsprinzipien der Gegenwart. Neben den diachronischen Eklektizismus tritt sein synchronischer Zwilling. Zu dieser zweiten Form des Eklektizismus gehört die mechanische Übernahme von Formen anderer Regionen (z. B. die Translozierung asiatischer Stilmerkmale in die europäische Kultur) oder das unkritische Entlehnen von Merkmalen anderer Bereiche der ästhetischen Kultur (z. B. die Übertragung von Designmerkmalen technischer Kleinmöbel auf Architektur). Jencks setzt den Eklektizismus in diesem Sinne programmatisch, er ist seine Vorhersage für die Gestaltungspraxis der Zukunft. Er wirft dem Eklektizismus des 19. Jahrhunderts vor, er wäre schwach gewesen, da er kaum über die Wahl des richtigen Stils für eine Bauaufgabe hinausging. 7) Er will ihn radikalisieren, d. h., ihn zum Grundprinzip der Gestaltung machen, alle Zeiten und Orte, alle Kulturen, Medien und Künste ausbeutend. Jencks begründet seinen Ruf nach dem neuen Eklektizismus in einer Frage: „Warum soll man sich auf die Gegenwart, auf das Lokale beschränken, wenn man es sich leisten kann, in verschiedenen Zeitaltern und Kulturen zu leben? Eklektizismus ist das natürlich entwickelte Ergebnis einer Kultur der Wahlmöglichkeiten.“ 8) Hier wird der Pluralismus auf das Gleis der Willkür geschoben, wo die Fonds bereitstehen, um für einige Illusionen den Geist des Ortes völlig aufzugeben und die Geschichtsklitterung baulich festzuschreiben. Der internationale Stil – von den Postmodernisten heftig kritisiert – hatte das Lokale und das Historische wenigstens nicht verfälscht, nur ignoriert.

Die Kritik am Eklektizismus richtet sich gegen dessen Negation des Systemaspektes, nicht aber gegen das Prinzip des Pluralismus oder das der Montage. 9) Eklektizismus zerstört als ästhetisches Prinzip die vorhandenen Zusammenhänge. Die dabei entstehenden formalen Konflikte werden aber nicht als Erkenntnismittel eingesetzt (wie es Brecht mit seiner Verfremdungstheorie wollte), sondern lediglich, um Aufmerksamkeit und entsprechenden kommerziellen Erfolg zu erringen. Nur zu diesem Zweck – seine Basis sind die amerikanischen Hotels und Geschäftshäuser – entwickelt er die Lust an Disharmonien und ergötzt sich an der Züchtung ästhetischer Widersprüche.

Die Vielfalt des Lebens, der regionalen und örtlichen Bedingungen, der sozialen und individuellen Bedürfnisse usw. strebt nach einer Vielfalt der architektonischen Äußerungen, besonders im entwickelten Sozialismus. Es ist wichtig, dass die objektiven Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich „der ganze sozialistische Pluralismus“ (Gorbatschow) 10) nicht nur gesellschaftlich, sondern auch baulich entfalten kann. Eine solche Entwicklung führt zu einem pluralistischen Ausdruckssystem, einer visuellen Sprachkultur, doch nicht zum Eklektizismus. Hat schon das gewachsene Wissen um die früheren Stilepochen gezeigt, dass der „Stilpluralismus“ keine Erscheinung der Neuzeit ist, sondern in differenzierenden und heterogenisierenden Momenten mehr oder weniger alle Kunstperioden durchzog 11), wird er für die Zukunft der sozialistischen Gestaltungspraxis erst recht zum programmatischen Entwurf – doch nicht in seiner eklektischen Verunstaltung oder kanonischen Verneinung, sondern als funktionales Prinzip, in dem die traditionelle Verbindlichkeit des Stils zu einem semiotischen Prinzip gewandelt ist.

Der beschriebene Entwicklungsweg ist der Weg der wissenschaftlichen Sicht auf eine objektive Entwicklung, in deren Verlauf sich die architektonische Form herauslöst aus der Bestimmung durch „naturwüchsige“ Kräfte in Art unbeherrschter Stoffe und Technologien, aus spiritueller oder absolutistisch-dogmatischer Bevormundung und kapitalistischem Profitstreben. Er ist vor allem für die sozialistische Architektur der Weg, um Monotonie und Eklektizismus durch ein System architektonischer Ausdrucksträger abzulösen. In dieses Ausdruckssystem passen auch formale Sprünge, Verfremdungen, Collagen heterogener Motive usw., sofern die Widersprüche dialektischer Natur sind und die widersprechenden Formelemente einem übergreifenden Systemzusammenhang angehören. Die genannten Ausdrucksmittel können innerhalb einer solchen Formensprache wichtige Zusammenhänge vermitteln, außerhalb aber sind sie oft nur aufgesetzte Dekorationen einer exklusiven Gestaltung. Die Grenzlinie zwischen Gestaltungspluralismus und Eklektizismus wird theoretisch durch den Sprachbegriff markiert, der nur mit dem erstgenannten vereinbar ist, praktisch ergibt sich diese Grenzziehung durch die soziale Verständlichkeit der Form, die freilich eine historisch veränderliche Größe ist.

Das Prinzip des Eklektizismus besteht in der permanenten Verfügbarkeit über die Menge aller denkbaren Gestaltungsmittel und ihre unbedenkliche Anwendung in Zusammenhängen, die ungewöhnlich sind und ihre Herkunft vernebeln. In der strukturellen Umformung liegt auch eine Potenz zur Innovation, zur Entwicklung der Sprache, doch ist der Eklektizismus nicht an einer Vermittlung der seine Formelemente hintergründenden Fakten interessiert. Die gesellschaftlichen Kräfte, in deren Umfeld sich der Eklektizismus entfaltet, sind an einer eingängigen Gestaltung interessiert, an der Oberfläche, an der Show. Die baulichen Formen sollen im Sinne der Repräsentation wirken, doch eigentlich nichts vermitteln. Deshalb ist ihnen die kontrollierende Systematik einer Formensprache zuwider.

3. Formensprache, Stil und Kolorit

Die Mischung von eklektischem und kanonischem Prinzip, etwa in dem Sinne, dass ein Schema durch überlagernde Strukturen aufgelockert oder dass eine eklektische Vorgabe stärker geordnet wird, schafft noch keine Sprache. Sprache ist nur dasjenige dialektische Verhältnis von Einheit und Vielfalt der Reize, das der Kommunikation angehört.

Im semiotischen Prinzip wird der formale Zusammenhang der Dinge qualifiziert. Der Ort der Einheitlichkeit ist nicht mehr die Geometrie der Formen, sondern der Code, der Formen mit Formen und Formen mit Bedeutungen in Beziehung setzt.

Was eine Sprache vor allem von anderen Informationsmitteln unterscheidet, ist ihre Vielseitigkeit und ihre Verbindlichkeit. Ein Lichtsignal oder der berühmte Knoten im Taschentuch sind auch Informationsträger, aber sie besitzen nicht diejenige soziale Universalität, die eine Sprache auszeichnet. Sprache ist nur dort vorhanden, wo ein System von Zeichen in vielfältigen Situationen zum Ausdruck wechselnder Sachverhalte verwendbar ist. Die Menge des mit einer Sprache Ausdrückbaren ist wesentlich größer als die Menge der Elemente dieser Sprache, d. h. Sprache lebt von der Kombinationsfähigkeit ihrer Elemente zu Textstrukturen. Die eigentliche Ausdrucksebene einer Sprache liegt also nicht im Ausdruck ihrer Elemente, sondern in den Aussagen der Elementekombinationen. Syntaktische Beweglichkeit und die semantische Fixierung der Elemente sind Bedingungen dafür, dass Sprache vorliegt.

Wenn ein System von Zeichen in der Lage ist, einen geistigen Bezug zwischen mehreren Personen herzustellen, wenn seine Elemente relativ stabile Bedeutungen haben, auf verschiedene Weise kombinierbar sind und in ihren Kombinationen jeweils unterschiedliche, sinnvolle Aussagen erlauben, wenn diese Aussagen außerdem von einer hinreichend großen Anzahl von Teilnehmern an einem Kommunikationsprozess gebildet und verstanden werden können, dann kann man diese Struktur als Text und als Artikulation von Sprache bezeichnen.

Der Stil hat als kunstwissenschaftlicher Begriff eine sehr wechselhafte Geschichte hinter sich, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Stil, meinte Semper, bedeutet nichts anderes, „als das zu künstlerischer Bedeutung erhobene Hervortreten des Grundthemas und aller inneren und äußeren Koeffizienten, die bei der Verkörperung desselben in einem Kunstwerke modifizierend einwirkten“. 12) Semper betont die Verwandtschaft des Stilbegriffes zu sprachwissenschaftlichen Termini und verwendet ihn wie die Kunstwissenschaft des 19. Jahrhunderts positiv, sogar als Synonym für Ausdruck und künstlerische Qualität.

Die Moderne hatte eine sehr gespaltete Haltung zum Stilbegriff. Einerseits wurden Stile als das Alte, Schnörkelhafte, Äußerliche verspottet – Hugo Häring wollte die Architektur „ohne Stilregeln und ohne irgendwelchen Zwang“ 13) entwickeln. Doch die Sehnsucht nach einem verbindlichen neuen Ausdruckssystem war ebenso stark. Bei Le Corbusier wird die Umkehrung in der Bewertung des Stilbegriffes besonders deutlich: „Die Architektur erstickt am alten Zopf. Stile sind Lüge.
Der Stil ist eine Wesens-Einheit, die alle Werke einer Epoche durchdringt und aus einer fast umrissenen Geisteshaltung hervorgeht. Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil. Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen.“ 14) Doch da war man zuversichtlich. Das Manifest der de-Stijl-Bewegung erklärt: „In enger Zusammenarbeit haben wir die Architektur als eine aus allen Künsten, aus Industrie und Technik gebildete plastische Einheit geprüft und festgestellt, dass sich als Resultat ein neuer Stil ergeben wird“. 15)

De Stijl forderte die „Entwicklung eines universalen Gestaltungsmittels für alle Künste“ 16) und Schlemmer meinte „nie war der Wille zum Stil mächtiger als eben heute“ 17) und er meinte damit den Wille zu einer objektiven Ausdrucksweise der Kunst.

Ein wichtiger vereinheitlichender Impuls war der Architekturzentrismus der Neuen Sachlichkeit. Der Bau war das „Endziel“, wie Gropius das Gründungsmanifest des Bauhauses einleitete. 18) Der Bau sollte der Ort sein, wo alle formdivergierenden Momente zu einer neuen Einheit verschmelzen können. „Der Baugedanke soll die verlorene Einheit wiederbringen“, sagte Schlemmer. 19) Der zweite Ansatzpunkt für eine „objektive Methode“ war das Handwerk. „Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine, Kunst vom Beruf! Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkes.“ 20) In diese Worte von Gropius wird oft eine antiindustrielle Haltung der frühen Bauhauszeit gedeutet, doch warum sollten Bildhauer und Maler zu einer handwerklichen Produktion zurückkehren, die sie niemals aufgegeben hatten? Bedeutet „Handwerk“ nicht vielmehr das Grundlegende, das Elementare, die objektive Basis? Für den Künstler heißt „zum Handwerk zurück“, sich auf die Grundgesetze der Gestaltung und der Wahrnehmung zu besinnen – so, wie ein Schriftsteller die Lexik und Grammatik der Umgangssprache zum Ausgangspunkt nimmt, auf deren Basis er poetische Metamorphosen entwickeln kann. Gropius lenkte die Objektivierungstendenzen, die sich in der Sehnsucht nach einem neuen Stil manifestierten, direkt auf ihre semiotischen Potenzen: „Diese Grammatik und ihre theoretische Grundlage… ist nicht Rezept für das Kunstwerk, sondern sie ist das wichtigste objektive Mittel zur kollektiven Gestaltungsarbeit, sie bereitet die gemeinsame Grundlage, auf der eine Vielzahl von Individualitäten eine höhere Werkeinheit zusammen zu schaffen vermag“. 21)

Sprache und Stil sind im Gegensatz zu Modischem und Styling historisch legitimiert, weil sie aus der Tiefe der gesellschaftlichen Prozesse und dem Wesen der Dinge erwachsen. Während das Modische dem Einzelnen gegenüber auferlegter Zwang darstellt – selbst wenn er die Moden bereitwillig mitmacht, ist Sprache ein gesellschaftliches Angebot, das der Einzelne seinen Ausdrucksbedürfnissen entsprechend anwendet. Das Modische herrscht über das Individuum, während Sprache ihm die Kompetenz zur Aussage stiftet.

Ein großes Ausdrucksbedürfnis verweist immer auf sprachlich Strukturiertes. Sprache und Stil bilden sich nur dort, wo ein starkes Verlangen nach künstlerischen Aussagen vorhanden ist. Ein solches Bedürfnis entwickelt sich im letzten Viertel unseres Jahrhunderts in allen Bereichen der Umweltgestaltung neu – als zwar vielerorts modisch degenerierter, doch prinzipiell berechtigter künstlerischer Gestaltungsdrang. Alois Riegl hatte um die Jahrhundertwende den als Ausdruck eines „Kunstwollens“ bezeichnet. 22) Das ist nur innerhalb der idealistischen Ästhetik falsch, in der die Abhängigkeiten dieses „Kunstwollens“ von den objektiven gesellschaftlichen Prozessen ignoriert wird. Das Kunstwollen als individuelles und gesellschaftliches Interesse an der sensibilisierten Aussage der Dinge entspricht den Tendenzen der ästhetischen Kultur im Sozialismus.

Ich habe bisher Sprache und Stil als weitgehend identische Begriffe behandelt. In der Tat sind diese Termini sehr ähnlich – jedenfalls in den visuellen und akustischen Medien außerhalb der Verbalsprache – beispielsweise in der Malerei, der Architektur oder im Design. In diesen Breichen gibt es bekanntlich keine klare Trennung von Lexik und Grammatik der Formsprache. Die nonverbalen Formensprachen sind im Gegensatz zur meist digital organisierten Verbalsprache vorwiegend analog codiert, ihre bedeutungstragenden Elemente entwickeln sich wesentlich aus den Variationen der Grundmuster, der Themen, Symbole und Figuren. In der Verbalsprache lässt sich dagegen das lexikalische und grammatische Grundsystem sehr viel leichter von dem zeit- und regional bestimmten Modus unterscheiden.

Dieser Modus ist der Stil. Trotz der genannten Schwierigkeiten lassen sich Sprache und Stil auch in der Architektur unterscheiden. Der Stil ist die konkrete Verwendungsweise der Sprache, er ist die Art der Aussage innerhalb eines sprachlich normierten Ausdruckssystems. Er verkörpert auch in der Architektur und anderen nonverbalen Sprachen eine eigene Bedeutungsschicht über der lexikalischen und grammatischen Grundstruktur. Diese Grundstruktur ist in der Architektur durch die typologischen Muster gegeben. Das sind historisch relativ gefestigte, doch auch anpassungsfähige und veränderbare Modelle für architektonische Räume und Körper. Die stilistischen Variationen über diesen Grundmustern sind von diesen Mustern aber nicht streng zu unterscheiden. In den nonverbalen Sprachen sind in den Abarten der Grundformen oftmals mehr Aussage als in der Grundform selbst, die Nuancen fungieren als Bedeutungsträger, die stilistischen Codes tragen oftmals selbst konstituierende Informationen.

Der Stil ist das System ästhetisch funktionaler Selektionen aus dem Fundus der Elemente, Strukturen und Prozeduren der Formensprache zu einer charakteristischen Artikulation. Die Auswahl wird nach den konnotativen Eigenschaften hin getroffen, d. h. innerhalb des Spektrums bedeutungsgleicher Vorlagen werden diejenigen ausgewählt, deren mitschwingende Sinngehalte der Aufgabe am besten entsprechen. Der Begriff der Formensprache meint als das übergreifende Regelwerk deutlicher die Grundlegenden rationalen Aspekte der Form, also die Denotation. Der Stil ist die konnotative Präzisierung der architektonischen Aussage und ihrer formalen Struktur.

Nach dem allgemeinen Regelwerk der Sprache und dem besonderen des Stils wird der architektonische Ausdruck durch spezielle Stilfärbungen geprägt. Das Kolorit fügt der Sprache eine weitere ästhetische Schicht hinzu: Sprache, Stil und Kolorit bilden ein System, von Gesetzen und Regeln der Gestaltung, die für eine konkrete Kultur typisch sind. Durch den Stil und seine Färbung wird das Gerüst der Sprache in der Art der zeitgenössischen Kultur, der Sozietät, der Region oder des gestaltenden Individuums ausgefüllt, erst mit ihrer Hilfe wird der komplexe emotionale Ausdruck realisiert. Diese Bedeutsamkeit des Stils macht es erklärbar, dass den Entwürfen der sogenannten „Rationalisten“, die die westeuropäische Architekturlandschaft in Konkurrenz zu den Eklektikern wesentlich mitbestimmen, wichtige ästhetische Aussagen fehlen. Die Rationalisten zielen mit ihren archetypischen Visionen auf die Grundmuster: sie wollen zwar Sprache, aber nicht Stil. Der Rationalismus ist eine auf wenige Hauptwörter reduzierte Formensprache, deren Texte maschinenlesbar sind.

Sprache, Stil und Kolorit der architektonischen Gestaltung werden durch unterschiedliche Einflüsse gesteuert. Das sind Einflüsse, die teils aus den kulturästhetischen Strömungen der Zeit erwachsen, teils aus den sozial-räumlichen Anforderungen, aus den materiellkonstruktiven und technologischen Bedingungen, aus den Besonderheiten der Region oder des Ortes, der Subjektivität des Architekten usw. Die Bedeutsamkeit dieser Faktoren ist für die sprachliche Struktur, für Stil und Kolorit unterschiedlich und nicht für alle Fälle festzulegen. Trotzdem lässt sich sagen, dass die sprachlichen Muster vor allem durch räumlich-konstruktive Typen geprägt werden, die stilistischen Modifikationen vor allem durch historisch veränderliche ästhetische Codes und die Stilfärbungen durch regionale Besonderheiten und durch persönliche Intentionen der Architekten und Auftraggeber. Stile sind deshalb vor allem Zeitstile, d. h., sie drücken das für die Kultur und die gesellschaftliche Psyche einer historisch konkreten Gesellschaft Typische aus. Stile sind also nicht nur Modifikationen von Formensprachen, sondern auch übergreifende ästhetische Ausdrucksweisen einer Kultur, die so unterschiedliche Sprachsysteme wie die der Malerei, der Plastik, der industriellen Formgestaltung oder der Architektur durch ähnliche ästhetische Prinzipien zusammenfasst. Das entspricht dem Inhalt des traditionellen kunstwissenschaftlichen Stilbegriffes, der zur historischen Periodisierung der Kunst dient (Gotik usw.). Doch in der Gegenwart grenzen sich die ästhetischen Ausdrucksweisen nicht nur historisch voneinander ab – sie koexistieren in gegenseitiger Ergänzung.

Die Stile kreuzen als übergreifende konnotative Codes die Sprachsysteme der Medien, Gattungen und Gegenstandsklassen, denen gegenüber sie einen modifizierenden Status haben. So produzieren die Stile die ästhetischen Konnotationen, die Formensprachen bringen die verständlichen Strukturen hervor und das Kolorit sorgt für die sozialkulturelle und regionale Spezifik oder für subjektive Facetten des architektonischen Habitus. Es sei darauf hingewiesen, dass der Terminus „Stil“ in einer umgangssprachlichen Version die Ebene der Sprache und die der Stilfärbung einschließt und in einer hierarchischen Schichtung alle Ausdruckweisen umfasst: Stil einer Epoche, Stil einer Zeit, Stil einer Schule/Architektengruppe, Personalstil eines Architekten oder Stil eines einzelnen Bauwerkes.

In seinem ambivalenten Verhältnis zur Sprache ist der Stil sowohl ein Ausdrucksystem als auch ein Element der Formsprache; er ist Aussage und ein Mittel zur Konstituierung der Aussage; er ist Mittel zur Kommunikation und emotionaler Einstieg in den sozialen Austausch. Bei der Untersuchung des „Stils“ als Phänomen der Kommunikation stehen wir noch weit am Anfang, doch ist schon deutlich geworden, dass wir auf diesen Begriff nicht verzichten können.

4. Schluss

Zur Zeit überwiegen in unserer und in der internationalen Architekturszene noch immer die kanonischen und die eklektischen Gestaltungen. Das semiotische Prinzip beginnt sich erst zaghaft und in Anfängen auszubilden und in reale Architektur umzusetzen. Eine neue Formensprache der Architektur mit ihrem zeitgemäßen stilistischen Modus und ihren stilistischen Färbungen kann nicht erfunden oder verordnet werden, sie kann sich nur in einem Prozess herausbilden, in dem Architektur eine gesellschaftliche Funktion als Medium sozialkultureller Erfahrungen wiedergewinnt. In diesem Prozess entwickelt sich die Dialektik von Einheit und Vielfalt als Basis der kommunikativen Potenz der Architektur durch Vorgänge, die zunächst außerästhetisch sind und Grundlagen des Hervorbringens von Architektur betreffen. Ich nenne hier nur die ökologischen Erneuerung des Bauens und die partizipatorischen Bestrebungen, also die Einbeziehung der künftigen Nutzer in die planerische Vorbereitung und praktische Durchführung des Bauens. Die Flexibilisierung der Bauproduktion durch die Mischung verschiedener Bausysteme und technologischer Niveaus sowie durch die Verwendung der elektronischen Datenverarbeitung sind dafür selbstverständlich Grundlagen. Von solchen wichtigen Veränderungen im Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens von Architektur, nicht aber von eklektischen Dekorationen und Styling, werden die Impulse für eine ausdruckvolle Architektur und für die Formierung einer neuen Architektursprache ausgehen. Wir können ihnen von der ästhetischen Seite her nur einige, aber wichtige Schritte entgegengehen.

Anmerkungen
1) Jencks, Charles: Die Sprache der postmodernen Architektur. Stuttgart, 1978. – S. 129
2) Möbius, Friedrich (Hrsg.): Stil und Gesellschaft. Dresden, 1984.
3) Vgl. Moles, Abraham A.: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln, 1971.
Pfeiffer, Günter: Kunst und Kommunikation. Köln, 1972. Rogge, Friedrich; Weber, Olaf; Zimmermann, Gerd: Architektur als Kommunikationsmittel. – Diss. A. – Schriftreihe der HAB Weimar, 1973.
4) Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. 2 Bde. – München 1978. – Bd. 1, S. 1 f.
5) Ebenda
6) Brunow, Nikolai: Entwicklungsetappen der Architektur. – Dresden 1972. – S. 330/331
7) Jencks, Charles. a. a. O., S. 128
8) Ebenda, S. 127
9) Wenn sich Teige im Jahre 1924 dem Begriff Eklektizismus positiv nähert, so unterlegt er ihm aber den Inhalt, den wir dem „Pluralismus“ geben. Er meint, der Poetismus „könnte sich etwa zu einem dilettantischen, praktischen, kräftigen und geschmackvollen Eklektizismus bekennen. Er ist keine Weltanschauung – die ist uns der Marxismus – sondern eine Lebensatmosphäre“. (Zitiert nach Hain, Simone: Verteidigung der Poesie. – Diss. A. – Berlin 1986. – S. 33)
Ebenso beschreibt der sowjetische Komponist Alfred Schnittke sein Kompositionsprinzip als eine ‚Polystilistik’, die es erlaubt, durch Stilkontraste und -verbindungen (unter denen die Collage das gröbste Mittel ist) alle verwendeten Stilmittel in gegenseitiger Wirkung zu verfremden. Es ist eine ‚harmonische Eklektik’, in der es keine Stilhierarchie gibt … Und die Bedeutung dieser Werke liegt nicht ‚in den Noten’, sondern in der Spannung der Stildivergenzen und folglich ‚zwischen den Noten’. (Zitiert nach: Gerlach, Hannelore: Die Spannung liegt zwischen den Noten. Der Moskauer Komponist Alfred Schnittke, In: Sonntag 45, 07.11.1976)
10) Gorbatschow, Michail S.: Unser Volk hat den Sozialismus gewählt. Die Partei steht im Dienste des Volkes. In: Neues Deutschland vom 16.07.1987, S. 4.
11) Möbius, F.: Stil und Gesellschaft. a. a. O. S. 60
12) Semper, Gottfried: Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol. In: Kleine Schriften, Hrsg. von Manfred und Hans Semper. – Berlin und Stuttgart 1884. – S. 341/342.
13) Häring, Hugo: Formulierungen zur Neuorientierung im Kunstgewerbe. In: Conrads, Ulrich (Hrsg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. – Gütersloh, Berlin, München 1971. – S. 99
14) Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur. Leitsätze. – In: Conrads, Ulrich, a. a. O. – S. 57
15) De Stijl, Manifest V. – In: Conrads, a. a. O. – S. 62
16) De Stijl, Schöpferische Forderungen. – In: Conrads, a. a. O. – S. 61 Hanns Eisler wollte für die Musik ähnliches: „Es wird erst dann eine moderne Musik geben können, wenn es einen modernen Stil gibt, der allgemeine Verbindlichkeit hat und nützlich für die Gesellschaft ist.“ Eisler, Hanns: Reden und Aufsätze. – Leipzig 1971. – S. 54
17) Schlemmer, Oskar: Manifest zur ersten Bauhausausstellung. – In: Conrads, a. a. O. – S. 64
18) Gropius, Walter: Programm des staatlichen Bauhauses in Weimar. – In: Conrads, a. a. O. – S. 47
19) Schlemmer, Oskar: Manifest …, a. a. O. – S. 64
20) Gropius, Walter: Programm …, a. a. O. – S. 47
21) Bayer, Herbert u. Gropius, Walter: Bauhaus 1919-28. – Stuttgart 1955. – S. 26
22) Riegl, Alois: Stilfragen. Grundlegung zu einer Geschichte der Ornamentik. – Berlin 1893

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