Thesen zur Dissertation B (Habilitationsschrift) (1987)

Die 25 Thesen der Habilitationsschrift enthalten die Grundstruktur einer modernen Architekturästhetik und sind zugleich Ausdruck des Suchens nach einem Ideal und der diesem Suchen innewohnenden konkreten Konflikte in der DDR-Gesellschaft der 80er Jahre.

Thesen zur Dissertation B (Habilitationsschrift)
Die Funktion der Form in der Architektur
– Zu Grundfragen und aktuellen Problemen der Gestaltung
vorgelegt von Dr.-Ing. Olaf Weber, geboren am 05.10.1943 in Dresden
eingereicht beim wissenschaftlichen Rat der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. sc. techn.
Tag der Einreichung: 22. April 1987

1. Mit der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes und besonders im Zusammenhang mit der Erfüllung unseres Wohnungsbauprogramms entwickeln sich auch die Ansprüche an die ästhetische Qualität der baulichen Umwelt. Die qualitativ steigenden Bedürfnisse der Werktätigen, die auf der Basis sozialer Sicherheit zunehmend ihre kulturellen Potenzen ausbilden, richten sich in nicht unbedeutendem Maße auf die Gestaltqualität der Architektur.
Im Zusammenhang mit der Erhöhung des Gebrauchswertes der baulichen
Umwelt, vor allem der Verbesserung der Raumorganisation, der Beziehung zum
natürlichen Freiraum, der Organisation sozialer Aktivitäten im Wohnungs-, Wohngebiets-, Stadtmilieu usw., werden Fragen der Form, ihrer Struktur, ihres Ausdrucks und ihrer ideellen Wirkung immer wichtiger. Der Übergang vom Bau extensiver Neubauwohngebiete zur intensiven Reproduktion der historisch gewachsenen Städte mit Wohnungs- und Gesellschaftsbau und einer neuen Art der Integration von Produktionsstätten schafft aus der Perspektive der Stadtgestaltung zusätzlichen Anlass, die Rolle der Form in der Architektur zu untersuchen.

2. In der internationalen Architekturentwicklung ist seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten eine Wandlung der ästhetischen Orientierung zu beobachten.
In den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern wird die Ausdruckslosigkeit des so genannten „Unternehmerfunktionalismus“ der 50er und 60er Jahren durch einen neuen Ästhetizismus ersetzt; das enge Rentabilitätsdenken in der Strukturen steriler KistenArchitektur wird in der Phase der kapitalistischen Überproduktion und Arbeitslosigkeit in eine irrationale Welt des Scheins und der Imagesucht
umgewandelt. Es ist Aufgabe der sozialistischen Architekturtheorie, die in diesem Prozess erfolgende Vermarktung der sich neu herausbildenden architektonischen Gestaltungsmittel zu analysieren und zu kritisieren und zugleich die sich verbreiternde Skala architektonischer Ausdrucksmöglichkeiten für die Entwicklung einer schönen, lebendigen, vielfältigen und bedeutsamen baulichen Umwelt im Sozialismus nutzbar zu machen.

3. Über die verwirrende Vielfalt der architektonischen Erscheinungsbilder, aber auch über die Vielzahl von theoretischen Modellen, Konzeptionen und programmatischen Manifesten, die die weltweiten Entwicklungsprozesse der Architektur begleiten, können wir nur dann ordnende Kraft gewinnen, wenn wir sie an wissenschaftlichen Aussagen überprüfen, an unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit reflektieren und daran messen, wie sie der sozialen und kulturellen Orientierung des Sozialismus entsprechen. Das sich ständig verändernde Repertoire der Gestaltungsmittel muss auf seine historische konkrete Eignung zur Realisierung sozialistischer Inhalte wissenschaftlich untersucht und praktisch erprobt werden. Ziel’der Untersuchung zur Rolle der Form in der Architektur ist es, gestaltungstheoretische Grundlagen für die Entwicklung, Systematisierung, Anwendung und Bewertung der architektonischen
Gestaltungsmittel im entwickelten Sozialismus zu schaffen. Die sozialistische Gestaltungstheorie ist der Inhalt dieser Arbeit. Die kritische Auseinandersetzung mit einigen anderen Gestaltungskonzeptionen (zum Beispiel mit den Auffassungen von Ch. Jencks und R. Venturi) ist unerlässlich, wird aber nur zum Zwecke der Entwicklung eigener Positionen unternommen. Viele Themen des so genannten “
Postmodernismus“ werden auch hier behandeltdoch wird dieser Begriff seines unklaren Inhalts wegen selten verwendet. Da der Postmodernismus seine ästhetischen Impulse nicht aus der Produktivkraftentwicklung schöpft, ist er eine modische Erscheinung, die das legitime Bedürfnis nach einer ausdrucksvollen Formensprache der gegenständlichen Umwelt auf kapitalistische Weise abdeckt.

4. Die architektonische Form ist sowohl der Strukturaspekt des Gebauten als auch die sinnlich wahrnehmbare Oberfläche, doch vor allem ist sie das dialektische Pendant zum Inhalt. Inhalt und Form unterhalten eine filigrane, zerbrechliche Beziehung, sie verändert sich unter dem Druck der Geschichte ständig. Formen sind immer nur innerhalb der gegenständlichräumlichen und sozial-kulturellen Situation, in der sie wirken, also innerhalb ihres Funktionszusammenhanges, zu beurteilen. Die Ambivalenz der Formen zwingt dazu, nicht sie selbst, sondern ihre gesellschaftliche Anwendung zu bewerten. Deshalb ist die Funktion der Form in dieser Arbeit thematisiert worden. Die Form wird als Kommunikationsmittel betrachtet, d. h.
als der sinnlich erfahrbare Träger einer ideell-ästhetischen Funktion, der im Entwurfsprozess aus einer komplexen Anforderungsstruktur hervorgegangen ist.

5. Allgemeine Gesetze von Natur und Gesellschaft bestimmen die Wirkungsweise der Form, doch ihre Funktion ist immer historisch konkret. Die Architekturgestaltung im Sozialismus verfolgt andere Ziele als der kapitalistische Architekturbetrieb. Sie ist auf die Befriedigung sozialer Bedürfnisse statt auf Profit aus; sie orientiert auf die Offenlegung statt auf ‚ Verschleierung sozial-räumlicher Verhältnisse, sie zielt auf die
Komplexität des Bauens statt lediglich auf seine Oberfläche, auf solidarische statt exklusive Aneignung, auf historische Entwicklungslinien statt auf Historismus usw. Eine sozialistische Gestaltungstheorie orientiert sich an all dem, was der „menschlichen Emanzipation“ (Marx) und ihrer baulich-räumlichen Voraussetzung dient, was die soziale Effizienz des Raumes und die Potenzen zur Entfaltung der Individuen erhöht und was dem kulturellen Fortschritt dient. Die sozialistische Gestaltungstheorie und -praxis sind dann ihren Aufgaben gewachsen, wenn sie
die aus der Produktivkraftentwicklung hervorgehendenGestaltungsmittel mit sozialistischem Inhalt erfüllen, neue Ausdrucksmöglichkeiten für den humanistischen Charakter unserer Architektur suchen und die schon verwerteten Formen auf die Möglichkeit einer sozialistischen Umfunktionierung hin überprüfen.

6. Die soziale Funktion der Architektur hat immer eine ästhetische Komponente. Die Form übernimmt einen Teil der sozialen Funktion, indem sie Impulse für ein Verhalten liefert, dessen Kern solidarischer Natur ist. Die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem orientiert im Sozialismus nicht nur auf Raumbedürfnisse, die später ästhetisch ergänzt werden, sondern auf die Erfüllung baulicher
Grundbedürfnisse, die, ebenso wie später abzudeckende weiterreichende Ansprüche, immer auf die Einheit von Gebrauch und Wahrnehmung zielen.

7. Die Einheit der Architektur wird in der Architekturtheorie durch den Zusammenhang von Funktion, Konstruktion und Form (in Ablehnung an
Vitruv’s Begriffe utilitas, firmitas, venustas) hergestellt. Dabei ist wichtig, dass die Komponente „Konstruktion“ (Technik, Festigkeit, Technologie) in der Zweck-Mittel-Hierarchie nicht die oberste Ebene besetzt. Sie ist aus den baulichen Zwecken abgeleitet – ein Mittel allerdings, das als conditio sine qua non in bedeutsamer Weise auf die Zwecke zurückwirkt und formwirksam ist. Zum anderen ist „venustas“
(Schönheit) nicht zweckfrei und außerhalb der Funktion zu definieren; die ideelle Komponente der Architektur ist vielmehr Bestandteil der Funktionsmenge, so dass nicht nur eine Tür, eine Treppe usw. Funktionsträger sind, sondern auch eine Kontur oder eine Farbe. Materielles und Ideelles, Praktisches und Ästhetisches, Gebrauch und Wahrnehmung sind’in der Architektur auf spezifische und unzertrennliche Weise miteinander verbunden. Sie ergänzen und erfüllen sich wechselseitig, während sie im Utilitarismus und im Ästhetizismus – jeweils anders gewichtet – getrennt sind. Das konkrete Verhältnis, das zwischen technischen, utilitären und ästhetischen Anforderungen herrscht, ist vom Typ der Bauaufgabe und der konkreten städtebaulichen Situation abhängig.

8. Der Funktionsbegriff bezieht sich in engerem Sinne auf die raumorganisierenden Aspekte der Architektur, auf dieNutzertechnologie, in weiterem Sinne auf die Gesamtheit der potentiellen oder aktuellen Wirkungsbeziehungen zur Gesellschaft, zu den Individuen der Nutzer, Bewohner oder Touristen. Der Kern der
architektonischen Funktionalität ist darauf gerichtet, die Nutzer für den Gebrauch ihrer baulichen Umwelt zu disponieren, d. h. ihnen ihre Umwelt verfügbar zu machen. Der Begriff des Gebrauches hat ebenso einen engeren und einen erweiterten Inhalt. Er umfasst – besonders in der urbanistischen Ebene – die komplexe Lebenstätigkeit
der Menschen, keineswegs nur ihre Raumbewegungen oder Handhabung, so dass der Gebrauch in einem erweiterten Sinne die ästhetischen, sozialen und kulturellen
Aspekte des Verhaltens einschließt.

9. Die Architektur ist derjenige Teil der gegenständlichen Umwelt der Menschen, der Raum durch Umhüllung und Abgrenzung schafft. Sie ist die dritte Haut des
Menschen, doch ums’chließt sie nicht seinen organischen Leib, sondern sein soziales Leben. Sie bietet ihm Raum und nimmt dabei Einfluss. Doch dieser Einfluss stellt sich der aktiven Aneignung durch die Nutzer, die die Vorlage umdeuten und umnutzen können. Architektur ist eine sanfte, aber hartnäckige Realität, sie wirkt wie ein homöopathisches Mittel, sie ist der räumliche Katalysator der sozial-kulturellen Entwicklung.

10. Die weitgefächerte ästhetische Wirksamkeit der Architekturform lässt sich in drei Grundtypen kanalisieren. Erstens sind die Impulse, die von der Form kommen, Hilfen bei der räumlichen Organisation von Lebensprozessen. Sie helfen dem Nutzer, sich in seiner baulichen Umwelt zu orientieren, die Nutzungspotenzen der Architektur zu erkennen usw. In diesem Sinne’dienen sie dem aktuellen Gebrauch.
Zweitens gibt die Form längerfristige Orientierungen im Wertesystem der
herrschenden Kultur, indem sie Positionen zur Lebensweise, zur ästhetischen Aneignungsweise usw. bestätigt oder korrigiert.
Drittens dient sie dem ästhetischen Genuss, sie soll interessant, unterhaltsam,
schön sein. Das Schöne ist ein komplexes, positives Urteil über die widersprüchliche Einheit der Architektur, ausgebildet am sinnlichen Material der Form.

11. Die gesellschaftliche Funktion der Form wird immer wieder auf unterschiedliche Weisen fehlbewertet. DerFormalismus stülpt den Bauten einen vereinheitlichenden Formenkanon über, sie werden stilistische Markenzeichen, die darüber hinaus
ausdruckslos sind. Im Ästhetizismus erhält die hypertrophierte Form Ausdruck, wird aber gegenüber den praktischen und technischen Aspekten isoliert. Die Fassaden werden zu künstlerischen Krusten eines fremden Inhalts. In scheinbarem Gegensatz zu solcher idealistischen Überschätzung der Form und ihres Ausdrucks will ein mechanischer Materialismus nahe legen, dass zusammen mit den praktischen und technischen Entscheidungen die ästhetisch befriedigende Gestalt automatisch mitproduziert würde. Eine Variante dieser Unterbewertung der Form ist die Auffassung von der Gestaltung als Reparatur von ästhetischen Defekten, die dann notwendig wird, wenn die gestaltwirksamen materiellen Faktoren infolge ihrer Disproportionen selbst unharmonische Lösungen hervorbringen. Die genannten
Konzepte sind allesamt für die Formulierung einer dem Sozialismus gemäßen Gestaltungsweise unbrauchbar.

12. Im Gestaltungsprozess wird dem Beschauer nicht lediglich das Objekt zurechtgerückt, es werden nicht nur Korrekturen von Proportionen oder von Gliederungen vorgenommen oder Schmuck hinzugefügt. Gestaltung ist als die ästhetische Komponente des Entwerfens vielmehr der Prozess des Durchdringens der gesamten antizipatorischen Tätigkeit des Architekten mit ästhetischer Kultur.
In diesem Prozess wird die (potentielle) Funktion der Form herausgebildet, indem die Struktur (Form), die gedanklichen Inhalte der Form (Bedeutungen, Aussagen)
und die konkreten Wirkungen programmiert werden. Die entsprechenden Gestaltungsebenen sind die syntaktische, die semantische und die pragmatische Ebene.Architektonisches Gestalten ist das Formulieren von architektonischen Aussagen mit baulichen Mitteln in Hinblick auf ästhetische Wirkungen, die die ganzheitliche Aneignung der gebauten Umwelt fördern, praktische und kulturelle Orientierungen geben und ästhetischen Genuss fördern.

13. Widersprüche sind die Quellen der Gestaltung. Im Gestaltungsprozess werden die objektiven Faktoren, die auf die Gestalt der Architektur einwirken, vom „kurzen“ Weg zur Form abgedrängt, wobei sie ästhetische Kultur akkumulieren. Neben diesem „kurzen“ Weg, bei dem dieBedingungsstruktur des Entwurfs nach Maßgaben zur Erscheinung kommt, die nicht ästhetischer Natur sind, gibt es zwei
Gestaltungsstrategien zur Herausbildung der baulichen Form: Die eine führt die widersprüchlichen Faktoren in einer ausbalancierenden Mitte zusammen, sie ist auf einen inneren Ausgleich aus und sucht den Kompromiss. Das andere Verfahren führt die widersprüchliche Bedingungsstruktur einem Formierungsmodell zu, das außerhalb des konkreten Entwurfs und unabhängig von der Kompetenz des Architekten existiert. Das ist die gültige Formensprache. Dieses zweite Verfahren ist deshalb effektiver, weil es die Form nach Kriterien ihrer ideellen Aneignung
organisiert. Voraussetzung dafür ist, dass das Formierungssystem kein kanonisiertes Formendogma, sondern die Grammatik einer Formensprache ist, d. h. ein
Regelsystem, das eine entwickelte Kreativität ermöglicht und zugleich die Gewähr bietet, so verstanden zu werden, dass die Form ihre ästhetische Funktion erfüllen
kann.

14. Das objektive System von Faktoren bildet die Grundlage für Vielfalt und Ausdruck der Architektur. Anzustreben ist keine schwache Bedingungsstruktur, in deren Lücken der Architekt seine ästhetischen Motive zwingt, sondern starke Impulse, die vom Orte, vom Material, der Technik, den Interessen der Nutzer usw. ausgehen, aber mit einer kräftigen Gestaltidee konfrontiert werden, in deren Hintergrund das Gerüst einer Formensprache für die Objektivität (Verständlichkeit) der Aussage sorgt.

15. Die Form wirkt sowohl als Anzeichen (Index) wie als Symbol. Als Anzeichen widerspiegelt sie denentsprechenden Fakt unmittelbar. In diesem Falle gehen Merkmale der Form aus dem verursachenden Fakt hervor und die zu Grunde liegende Kausalität kann durch einen logischen Akt des Schließens subjektiv nachvollzogen werden. Im Falle des Symbols ist die Bedeutung der Form gesellschaftlich, auch gruppenbezogen oder individuell festgelegt, aber auch veränderbar, wenn sich die Konvention wandelt. Die architektonische Formensprache besteht aus einer Kombination von indexikalischen und
symbolischen Formen, von logischen und assoziativ gebundenen Bedeutungen.
Die direkte Einsicht (durch Glasfassaden) kann rationale Erkenntnisse fördern; dasBauwerk erschließt sich aber in einem umfassenderen Sinne erst durch symbolische Formen, die mehr als das Dahinterliegende vermitteln.
Durchsichtig wird die Fassade durch Glas, durchschaubar wird die Architektur vor allem durch ihre bedeutungstragenden Formen.

16. Architektur ist ein vielschichtiger Bedeutungsträger, der seinen ideellen Gehalt in einem permanenten gesellschaftlichen Austauschprozess erhält und wandelt. Der Architekt (als Repräsentant des Architektur produzierenden Teils der Gesellschaft) teilt sich die Kompetenz zur Sinngebung der baulichen Formen mit den Nutzern, die dem Inhalt ihren subjektiven Teil hinzugeben. So kommt es, dass die baulichen Formen sehr unterschiedliche kommunikative Energien haben: Einerseits enthalten sie Impulse, die dem Nutzer eine Orientierung oder ein Verhalten vorschreiben. In rhetorischen Botschaften versucht dabei der Architekt (als „Sender“), eine Nachricht unversehrt zu übermitteln und dabei seinen Einfluss zu maximieren. Beim zweiten Typ der Kommunikation wird der Rezipient angeregt, die Vorlage in deren Grenzen mit seiner Phantasie auszudeuten. Er ist dem Sender gegenüber gleichberechtigt. Die dritte Sinngebung bestimmt der Nutzer, der seine Umwelt mit Bedeutungen auffüllt, wobei er seine Gedanken, Gefühle oder Erlebnisse an der baulichen Umwelt lokalisiert.
Beim ersten Typ dominiert die pragmatische, beim zweiten die semantische, beim dritten die syntaktische Dimension der Form.

17. Die Architektur ist eine der realen Erscheinungen, über die sich die Menschen jeweils spezifische Momente ihrer sozialen Erfahrung austauschen. Sie ist ein wichtiger Faktor im System der sozialen Kommunikation, das den persönlichen Austausch, die Massenmedien, das Design, die Kunst usw. einschließt. In der Architektur sind umwelt- und bewußtseinsbildende Momente vereint, sie ist Milieu und Medium zugleich, Form des Lebens und zugleich Metastufe zu ihr, Umhüllung und künstlerische Interpretation des Umhüllens. Architektur soll gegenüber dem Menschen Hintergrund bleiben, so gewichtig auch die Informationen sind, die sie aussendet. Architektur soll reden oder singen, doch nicht schreien. Vordergründige Affekte, aufdringliche Reize (Werbung) oder ästhetische Provokationen können nur singuläre, untergeordneteErscheinungen sein. Dasjenige Verhältnis zwischen Bauwerk und Mensch hat emanzipatorische Potenzen, in dem die vom Objekt und seinem Pathos geschaffene Distanz zum Publikum zurückgenommen und die vom Publikum selbst erzeugte Distanz zum Gegenstand entwickelt wird. Einfühlung steht dieser Orientierung nicht entgegen.

18. Die Architektur ist ihrem begrifflichen Wesen nach nicht Baukunst, sondern bauliche Umwelt der Menschen. Vom Umweltbegriff her ist die Totalität der gesellschaftlichen Funktionen von Architektur zu erfassen. Das schließt aber nicht die enge Beziehung von Architektur und Kunst aus, vor allem nicht die Aspekte der Kreativität, der Emotionalität, des Symbolischen usw. Das Künstlerische ist ein
entwickelter Zustand der Rolle der Form als Kommunikationsmittel. In ihm kommt eine besondere Komplexität, Tiefe und Sinnlichkeit der ideellen Aneignung der Wirklichkeit zum Ausdruck. In diesem Sinne ist das Künstlerische ein Wertbegriff und im architektonischen Schaffen bei allen Bauaufgaben zu fördern. In der dialektischen Beziehung zur materiellpraktischen Seite entwickelt der künstlerische Aspekt seine architekturspezifische Ausprägung, ohne gegenüber der Kunst eingeschränkt oder unvollständig zu sein.

19. Die Architekturform vermag über mehr Auskunft zu geben als über das konstruktive Gerüst oder die Nutzertechnologie, doch ist sie auch kein universeller Informationsträger wie das Zeitungspapier. Der Inhalt der architektonischen Aussagen besteht aus mehreren Bedeutungsschichten, die sich widersprechen, doch auch eine Einheit bilden sollten. Um einen Bedeutungskern (Denotation) gruppieren sich erweiterte Sinngehalte (Konnotation). Auf der ersten Bedeutungsebene wird die Eigenschaftsstruktur des materiellen Bedeutungsträgers denotiert. Auf der zweiten ist die Bedeutung der Form das Abbild der kulturellen Verhaltensmuster, die mit der baulichen Einheit verbunden sind (Denotation und Konnotation) und auf der dritten
Ebene werden ideologische gesellschaftliche Verhältnisse konnotiert, die von allen Funktionen unabhängig wirken. So ist der Inhalt der Form in engerem Sinne mit der materiellpraktischen Funktion des Bedeutungsträgers identisch, im weitesten Sinne vermag Architektur alle möglichen Sinngehalte zu assoziieren, doch ihr spezifischer Inhalt ist das Hindurchscheinen des Zweckes durch ihre bedeutungsvollen Formen. In der (auch ausschweifenden) Interpretation des Zweckes konnotiert die Form ihre kulturelle Herkunft.

20. Die Fähigkeit, architektonische Formen verstehen und deuten zu können, wird in einem gesellschaftlichen Lernprozess erworben, der muttersprachlichen Charakter hat, d. h. beiläufig und praktisch organisiert ist. Die architektonischen Kodes werden nicht verabredet, sondern in der wirklichen Aneignung von Architektur erlebt. Dabei gibt es zwei Zugänge zur Form. Einerseits wird aus dem anschaulichen Kontext
gelernt, in dem die Formen mit hohen Wahrscheinlichkeiten auftreten. Visuelle Kodes aus anderen Bereichen der ästhetischen Kultur werden dabei adaptiert. Andererseits wird der Sinngehalt durch den Gebrauch erworben – der Sinn der Form erschließt sich dabei im praktischen Umgang mit Architektur. Die Menschen eignen sich die Sprache der Architektur in einem persönlichen Verhältnis zu ihr an, doch ist Sprache
zugleich ein gesellschaftliches Verhältnis und das Erlernen der architektonischen Kodes, ihr Gebrauch und die ästhetische Sensibilisierung sind individuelle Akte sozialen Handelns.

21. Die Verständlichkeit ist ein sozialer Grundwert der architektonischen Form. Sie ist die Eignung eines gebauten „Textes“ zur Verbreitung gesellschaftlicher Erfahrungen, die mit der Architektur verbunden sind. Verständlichkeit ist vom Produzenten her gedacht die Eigenschaft der Form, eine Nachricht unversehrt zu transportieren, vom Empfänger her ist sie eine Entsprechung der Mittel und Kodes gegenüber einer
ästhetischen Erfahrung. Die Forderung nach Verständlichkeit zielt keineswegs auf ein rasches und simples Erfassen, sondern auf einen Prozess der permanenten Annäherung und des Entdeckens, der auch Momente des Überraschenden, des Poetischen oder des zunächst Unentwirrbaren freilegt. Der Verständlichkeit der Formen und dem Bestreben, die Formerfahrungen der Nutzer aufzugreifen, sie aber in dialektischem Sinne zugleich zu qualifizieren, stehen elitäre ästhetische Haltungen entgegen, die die ästhetischen Erwartungen der Nutzer negieren, aber auch populistische Konzepte, die den allgemeinen Geschmack pragmatisch zu befriedigen suchen.

22. Der Versuch, die elitäre und die populistische Vereinseitigung durch eine „Doppelkodierung“ der Architektur zu überwinden (Ch. Jencks), festigt nur den klassengestützten Dualismus von Elite und Masse, ohne eine wirklich verständliche Architektur hervorzubringen. Statt ein gespaltenes Publikum zu bedienen (und die Spaltung ständig zu reproduzieren), zielt die sozialistische Gestaltungskonzeption darauf, eine beziehungsreiche und vielschichtige Architektur zu fördern, die mehrfach kodiert ist. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit auf die Beziehung der
Kodestrukturen gelegt, so dass ein konditionelles Lernen über allen
Kodierungsebenen möglich wird. Auf diese Weise wird angestrebt, dass sich die Nutzer allmählich alle Bedeutungsebenen und Sprachstrukturen der Architektur erschließen und sich eine einheitliche, doch zugleich differenzierte ästhetische
Kultur herausbildet.

23. Die Verständlichkeit hat eine kommunikative Zielstellung, dagegen will eingängige Gestaltung nur durch unkritische und einschmeichelnde Gebärden gefallen. Die Auffälligkeit des Kitsches kaschiert seine Belanglosigkeit, er ist ein zu sich selbst zurückkehrender oberflächlicher Reiz. Im Kitsch sind viele positive Gestaltungsgrundsätze fast verwirklicht, er verfehlt sie nur knapp, doch absichtsvoll. Im Markt-, nicht im Gebrauchswert, in der Exklusivität, nicht im solidarischen Verhalten sucht er seine Orientierung. Das Vulgäre, die Architekturklischees, das Aufgesetzte, das Nostalgische, die Imitation, der Eklektizismüs, die gebauten Phrasen sind Attitüden der eingängigen Gestaltung. Kitsch hat ein rein benutzendes Verhältnis zur Sprache, er ist an der Entwicklung ihrer Vermittlungsfähigkeit nicht interessiert. Die Prinzipien der sozialistischen Architektur sind mit der populistischen Effekthascherei der aufgesetzten, unverbindlichen Dekorationen unvereinbar. Alles was hilft, die ganzheitliche Aneignung der gebauten Umwelt zu fördern, muss
ästhetisch entwickelt werden, alles was dazu dient, diese Aneignung zu behindern und die Nutzer ihrer Umwelt durch Surrogate zu entfremden, muss dagegen vermieden werden.

24. Die Gestaltungskonzeption der sozialistischen Architektur entwickelt sich aus dem Avantgardismus der 20er Jahre, gibt ihm aber einen neuen sozialen und kulturellen Inhalt. Vor uns steht die Aufgabe, die Traditionslinien fortschrittlicher
Architektur in Richtung eines ganzheitlichen Architekturkonzeptes schöpferisch weiterzuentwickeln – doch weder in Wiederholung der Formensprache der „Neuen Sachlichkeit“, noch in Form ihrer einfachen Negation durch den Postmodernismus, der nur alte Einseitigkeiten durch neue modisch ersetzt und dabei hinter die Avantgarde zurückgeht. Die sozialistische Gestaltungskonzeption muss von der bürgerlichen Avantgarde der 20er Jahre aber auch durch einen deutlichen Bruch, durch eine qualitative Schwelle abgesetzt werden, in der sich der gewaltige Entwicklungsprozess der Produktivkräfte und die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse des Sozialismus markieren.
Während die technologische Entwicklung des Bauwesens der 20er Jahre dahin ging, die Voraussetzungen für eine Serienfertigung der Bauhauptmasse nach dem klassischen Typ der Industrialisierung zu schaffen, geht es heute mehr und mehr um die flexible Produktion mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung. Während es damals nahe liegendes Ziel war, Wohnraum für das Existenzminimum zu schaffen,
geht es im Sozialismus zunehmend um die qualitative Verbesserung der räumlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten Bevölkerung, um deren persönliche Entfaltung, solidarische Beziehung und emanzipatorisches Interesse. Während es damals darum ging, den Ballast der nur noch den materiellen Reichtum darstellenden (oder vorspiegelnden) Schnörkel und Verzierungen abzustreifen und die Schönheit der Sachlichkeit pathetisch zu demonstrieren, geht es heute um die Neuformulierung einer architektonischen Formensprache, die in der Lage ist, den Reichtum der gesellschaftlichen Beziehungen mit Hilfe eines umfassenden Repertoires an Gestaltungsmitteln auszudrücken. Und während die Neuerer der 20er Jahre für ihre soziale Programmatik die gesellschaftlichen Auftraggeber suchten, muss es
im Sozialismus darum gehen, ein neues gesellschaftliches Hervorbringen von Architektur zu initiieren, in dem das Verhältnis von Architekt und Bewohner als gesellschaftlicher Dialog organisiert ist. In diesem Dialog entwickeln sich dieNutzer zu qualifizierten Auftraggebern, der Architekt betrachtet sie als in Gestaltungsfragen Mündige und macht sie – in dialektischem Widerspruch – durch die Vermittlung seiner Erfahrung mündig. Die Entwicklung der sozialistischen Demokratie ist auch ein Garant für die Herausbildung einer verständlichen und ausdrucksvollen
architektonischen Formensprache.

25. Für Lehre und Forschung ergeben sich aus den Resultaten der Arbeit mehrere Aspekte. Die weitere Forschung auf dem Gebiet der Gestaltungstheorie hat einen zunehmend komplexen Charakter. Deshalb erweist sich die Untersuchung der strukturellen Eigenarten und der gesellschaftlichen Verwurzelung der architektonischen Formensprache durch die weitere Integration von
kulturtheoretischen, semiotischen, soziologischen und psychologischen Forschungen als unerlässlich. Die Ziele, Kriterien und Methoden sozialistischer Gestaltungsweise können nur durch das Zusammenwirken der systematisierenden Theorie mit Architekturanalyse und Architekturkritik weiter konkretisiert werden. Für die Praktikabilität der Gestaltungstheorie wird es immer wichtiger, Biographien einzelner
Gestaltungsmittel zu erarbeiten, um ihre Bedeutung, ihre Wirkung und ihre Anwendungsmöglichkeiten zu erkennen. Die Gestaltungslehre steht vor der Aufgabe,
ihre Beschränkung auf abstrakte, elementare Gestaltungsmittel zu überwinden und die ganze Fülle möglicher Ausdrucksweisen – Symbole, rhetorische Figuren, Bilder, Motive usw. eingeschlossen – zu vermitteln. In diesem Zusammenhang wird es notwendig werden, Fragen der inhaltlichen Struktur und der Abfolge der
Gestaltungslehre, aber auch Probleme der Integration von Gestaltungstheorie in das Gesamtsystem der Ausbildung zu klären.

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