Überall Widersprüche: Die Fassade (1986)

Am Beispiel der Fassade, besonders des ihr innewohnenden Widerspruches zwischen innen und außen, wird eine Dialektik der Gestaltung entwickelt und an ihr die unterschiedlichen Entwurfsverfahren zelebriert. Das Ideal liegt in der Nähe von Lebendigkeit und Aufklärung.

Olaf Weber
Überall Widersprüche: Die Fassade

Widersprüche sind die Quellen der Gestaltung, je einfacher und widerspruchsfreier die Anforderungen an den zu gestaltenden Gegenstand sind, um so weniger benötigt die Anschauung vorher der sinngebenden Tätigkeit des Gestalters. Einer der wesentlichen Widersprüche in der Architektur ist der von Davor und Dahinter, besonders von Innen und Außen. Die Wand bzw. die Fassade ist der Ort, wo dieser Widerspruch ausgetragen wird. Jede Wand definiert auf beiden Seiten einen Raum, und so ist die architektonische Gestaltung die Kunst „doppelter Raumgestaltung durch Körpergestaltung“.(1) Räume werden durch körperliche Gebilde getrennt, aber auch aufeinander bezogen, vermittelt und ausgedrückt. Die Fassade ist eine besondere Wand. In ihr treffen sich die Ansprüche an den Innenraum mit den anders gearteten an den Außenraum. Dieser Konflikt ist nicht immer als das verstanden worden, was er seiner Natur nach ist: als ein dialektisches Verhältnis, dessen Widersprüchlichkeit nicht eliminiert, sondern entwickelt und zur Form gebracht werden muss. In dieser Frage sind in den zwanziger Jahren neue Antworten gesucht worden. Gegen die „Fassadenarchitektur“ der Vorgänger, die oftmals nicht den praktischen Erfordernissen im Inneren entsprach, wurde eine Konzeption gesetzt, die die Gestalt des Gebäudes von innen nach außen entwickelte. „Der Grundriss wirkt vom Innen auf das Außen; das Äußere ist Resultat des Inneren“ (2) hatte Le Corbusier gesagt.

Dieser Grundsatz wurde vor allem von den Konstruktivisten unter den modernen Architekten befolgt. Damit aber war die „Fassadenarchitektur“ nicht wirklich aufgehoben, ihre Prinzipien waren nur ins Gegenteil verkehrt – abgesehen davon, dass die Prunkfassaden des späten 19. Jahrhunderts weniger die Anforderungen des Außenraumes, sondern vor allem das äußerliche Repräsentationsbedürfnis der Besitzer zu erfüllen hatten. Der Konflikt „innen – außen“ ist nur scheinbar der Widerspruch zwischen Funktion und Gestaltung; denn die Ansprüche an den Baukörper und seine Öffnungen sind vom Innenraum her nicht nur praktisch begründet; die Raumfolgen und -formen wie auch die Lage und Größe der Fenster- und Türöffnungen entwickelt der Architekt auch nach ästhetischen Gesichtspunkten des Innenraumes. So gesehen war die Forderung, die Gebäude von innen nach außen zu entwickeln, nicht nur auf den praktischen Gebrauch orientiert, sondern auch ein Schritt dahin, der Fassade überhaupt wieder eine ästhetische Funktion zu geben, die über den Geltungsdrang des Besitzers nach einem stattlichen Erscheinungsbild hinausging. Sie hatte die Aufgabe erhalten, den Innenraum auf eine sinnvolle (praktische und ästhetische) Weise nach außen hin abzugrenzen und dabei die Volumina der Innenräume, die Konstruktion usw., äußerlich anzuzeigen. Auch die Anforderungen des Außenraumes sind – gleich denen des Innenraumes – durchaus nicht nur ästhetischer, sondern ebenso praktischer Art: sie organisieren zum Beispiel die Bewegungsabläufe im Umfeld des Gebäudes. Von außen ist die Fassade vor allem Anschauungsobjekt, ja für die meisten Menschen sind Bauwerke im allgemeinen nur Anschauungsobjekte, die sie niemals betreten haben noch betreten werden. (3)

Der Bewohner oder Besucher einer Stadt hat nur zu wenigen der Gebäude, die er visuell wahrnimmt, eine tätig-praktische Beziehung; der weitaus größte Teil ist für ihn nur Fassade, eine Fassade allerdings, die nicht nur Bild ist und Form, sondern die Räume verbirgt, Tätigkeiten verdeckt, die das ganze städtische Leben, seine Kultur sinnbildlich veranschaulicht. Die Fassade soll an den Stadtbewohner (Touristen usw.) diejenigen Anregungen und Informationen vermitteln, die er braucht, um sich seine bauliche Umwelt ganzheitlich anzueignen. Die Fassade hat einerseits die ästhetische Funktion, die Volumina, die Konstruktion, Struktur, Gebrauchsweisen, Herstellungsweisen und andere Parameter des Bauwerkes, dem sie angehört, nach außen hin kenntlich zu machen – und zwar nach einer vom Charakter des Baues bestimmten Maßgabe. Andererseits hat sie ideelle Funktionen, die aus außenräumlichen Bedingungen erwachsen, zu erfüllen, zum Beispiel als Orientierungshilfe im städtischen Raumgefüge. Aber die Fassade soll auch eine dialektische Einheit mit ihrer Umgebung bilden, einen Dialog mit den Gebäuden der Nachbarschaft entwickeln, mit dem „Geist des Ortes“, den lokalen, historischen und kulturellen Besonderheiten usw. Angesichts der vielfältigen Funktionen und der großen Bedeutung der Fassade ist es eigentlich schade, dass ihrer Durchgestaltung das Pejorativ der „Fassadenarchitektur“ – mindestens sprachlich – anhängt. Wenn die Fassaden für den städtebaulichen Raum eine Funktion der Ausstrahlung haben und die Räume, die das Bauwerk umgeben, nicht gleichwertig sind, so können auch seine Fassaden nicht bedeutungsgleich sein. Jede Seite hat vielmehr auf den spezifischen Raum, auf den sie wirkt, zu reagieren, ohne deshalb die Ausdruckswerte des Ganzen zu verleugnen und in dem Charakter des jeweiligen Kontextes aufzugehen. (4)

Die Fassade zum öffentlichen Raum hin hat nicht einen anderen Stellenwert als die zum Hofe, aber eine andere Funktion und dementsprechend einen anderen Ausdrucksgehalt und eine andere Ausdrucksintensität. Der Wechsel der Anforderungen, die an unterschiedliche Fassadenteile (zum Beispiel vorn – – hinten, unten – oben) gestellt werden, führt natürlich auch zu wechselnden Aufwendungen für diese Teile, so dass die lapidare und uralte Feststellung gilt, die „ästhetische Ökonomie ist diejenige Weisheit, welche am rechten Ort reichlich ausgibt, um an anderen sparen zu können“ (5) Bedeutet das eine Rechtfertigung der „Fassadenarchitektur“ und der Prunkbauten? Das wäre dann der Fall, wenn diese Methodik nicht von jener Funktion der Fassade gelöst werden könnte, die darin besteht, auf der „Schokoladenseite“ etwas vorzutäuschen, was nicht ist und Surrogate anzubieten – also eine Zeichenwelt für die Wirklichkeit zu setzen. Formen stehen in dieser Tradition nicht für die Realität, sondern ersetzen diese, Vielfalt und Differenziertheit werden gemalt statt gelebt, und leere Ornamente ersetzen die ästhetische Kommunikation. Wird hingegen die Fassade verstanden als doppelte Vermittlung des Widerspruchs zwischen Innen und Außen, nämlich als Auflösung des Widerspruchs in der Form und als Vermittlung dieses Widerspruchs an den Rezipienten, dann kann auch die Fassade wieder positiv empfundener Ort einer Gestaltung werden, die über den Ausdruck materieller und praktischer Faktoren hinausgeht. Die Kollektion der äußeren und der inneren Anforderungen kann unterschiedlich stark ausfallen und auf unterschiedliche Weise bewältigt werden. Ob in diesem Widerstreit die äußeren oder die inneren Faktoren dominieren, hängt vom Typ und dem konkreten Inhalt der Bauaufgabe ab, doch nicht von vorgefaßten ästhetischen Doktrinen. Das Prinzip, von Innen nach Außen zu entwerfen, ist nicht weniger unsinnig wie das entgegengesetzte Vorhaben. Die Stadt ist gegenüber dem Haus das Dominierende, wie das Ganze gegenüber dem Einzelnen, doch benötigt gerade die Stadt nicht lediglich die ständige Reproduktion ihrer Eigentümlichkeiten in den Fassaden der Häuser, sondern zugleich den originären Beitrag der Einzelgebäude zum Stadtbild. Die Dominanz der Siedlung über das Haus bedeutet also nicht die Vorherrschaft der außenräumlichen gegenüber den innenräumlichen Anforderungen, sondern lediglich die mehr oder weniger starke Einwirkung eines urbanen Modus und einer gesellschaftlichen Raumkonzeption auf die Ausformung jedes einzelnen Gliedes.

Zu einer Typologie der Fassaden
Aus den oben dargestellten Zusammenhängen ergibt sich, dass die Art, wie der Widerspruch zwischen Innen und Außen gelöst wird, für den Charakter der Fassade wesentlich ist. Die Fragen, die uns heute bei der Gestaltung von Fassaden bewegen, werden durch einen Blick in die neuere Architekturgeschichte deutlicher. Wir erkennen dort in der Menge der Resultate vier Prinziplösungen für den Widerspruch von Innen und Außen. Wenngleich diese Prinzipe in der gebauten Wirklichkeit nie in „reiner Form“ auftreten, bestimmen sie in unterschiedlichen historischen Entwicklungsphasen jedoch wesentlich den Charakter der Fassaden. Die Veränderungen sind dabei immer das Ergebnis veränderter gesellschaftlicher Anforderungen an Funktion und Ausdruck der Fassade. Die Prinziplösungen haben aber auch Methodencharakter, können verschiedenen Zielstellungen dienen und in der Baugeschichte wiederholt auftreten.

1. Fassade von Außen.
Sie ist eine der beiden Verfahren, die auf einer prinzipiellen Parteinahme für die eine oder die andere Richtung beruhen. Von außen her wurde die Fassade zum Beispiel in der Prunkarchitektur des späten 19. Jahrhunderts entwickelt, sie hatte vor allem repräsentativen Charakter gegenüber der Außenwelt. Eine andere Funktion, aber eine ähnliche außenräumliche Bestimmung des Baukörpers, finden wir in der neueren Architektur bei den als ikonographische Zeichen entworfenen Universitätshochhäusern, wie sie in Leipzig und Jena gebaut wurden. Es sind Architekturplastiken, deren Hüllen als weithin sichtbare Symbole für die Außenwirkung geschaffen wurden, um Unverwechselbarkeit zu demonstrieren.(6) Der Gebrauch aber ist in das Streckbett der Gestalt gepreßt, worin er sich dem übermächtig gewordenen, von außen her gerichteten Formwillen fügt.

2. Fassade von Innen.
Bei dem entgegengesetzten Verfahren wird die Baugestalt von innenräumlichen Bedingungen geprägt. Für diese Konzeption steht in der Tendenz dasjenige Verständnis des frühen Funktionalismus und Konstruktivismus, wie es in den zwanziger Jahren üblich war und zum Beispiel das Schaffen Härings und Scharouns bestimmte. Bei ihnen sind es die Bewegungsfelder, in anderen Konzeptionen sind es andere funktionelle oder konstruktive Elemente, um die sich die Außenhaut legt. Allerdings sind das Maß und die Bewußtheit, mit der die Parameter des Inneren in der Hülle in Erscheinung treten, sehr unterschiedlich. Härings „Leistungsform“ ist nicht zu verwechseln mit Konzeptionen des Ingenieurbaues, die bis zu solchen mechanisch-materialistischen Auffassungen reichen, nach denen funktionelle und konstruktive Momente auf eine vom ästhetischen Standpunkt zufällige Weise zur Erscheinung kommen. „Fassade von Innen“ bezeichnet vielmehr ein Prinzip, das die Baugestalt den innenräumlichen Bedingungen nachzeichnet, sie auch vom Innenräumlichen her ästhetisch ausformt. Die äußeren Faktoren werden vernachlässigt oder gar ignoriert, wie beispielsweise die historischen Merkmale des Kontextes durch die Avantgarde der zwanziger Jahre.
Für die beiden erstgenannten Fassadentypen ist charakteristisch, dass – aus unterschiedlichen historischen Gründen – die Dialektik von Innen und Außen bereits in der Konzeptionsphase schwach entwickelt ist und deren Widerstreit nur durch die Überdominanz einer Seite aufgelöst wird.

3. Fassade gedoppelt.
Eine weitere Möglichkeit, für die die Architekturpraxis des Barock stehen soll, besteht darin, beide Anforderungen zugleich zu erfüllen. Dabei wird die innere Schale der Fassade vom Innenraum her, die äußere Schale aber vom Außenraum her definiert. Der Widerspruch zwischen beiden wird durch den komplizierten, oft mehrschaligen Aufbau der Fassade konstruktiv gelöst. So sind die mehrschaligen Kuppeln des Barock aus dem Bestreben heraus entwickelt worden, unterschiedliche Anforderungen an die Wirkung des Innenraumes und an die des Außenraumes durch eine komplizierte konstruktive Lösung zu realisieren, Voraussetzung ist also eine „zwischen der inneren Negativform des Raumes und der äußeren Positivform des Körpers eingelagerte Zwischenzone, jener mit Konstruktionsgliedern und Hohlräumen angefüllte Bereich, der es erlaubte, das Innere und das Äußere unterschiedlich durchzuformen“.(7) In diesem Verfahren wird der besprochene Widerspruch durch die körperlich-plastische Ausbildung der Fassadenglieder aufgelöst. Er wird auf den Baukörper hin verschoben, der beide Anforderungen bedient. Ihre technische Ausführung – als Mauerwerksbau – bot dafür die Voraussetzung. In der modernen Architektur hat beispielsweise Le Corbusier versucht, dieses Prinzip in eine neue Formensprache zu übersetzen (vgl. die doppelschalige Wand in der Kapelle Notre Dame de Haut, Ronchamp). Zugleich hat er die gewohnte Ausprägung dieses Gestaltungsprinzips verfremdet.

4. Fassade als Folie
Wiederum im Gegensatz zu dem Verfahren des „Sowohl-Als-auch“ stehen solche Konzeptionen, die eine positive Reaktion der Fassadengestaltung auf räumliche Anforderungen – kämen sie von innen oder außen – überhaupt ablehnen. Die Fassade steht für sich, sie trennt Räume, ohne auf sie zu antworten. Beispielhaft dafür sind die großen Bürogebäude von Mies von der Rohe, die nach innen als (fast) leere Hüllen, nach außen als autarke Gebilde wirken. Diese Gestaltungskonzeption entwickelte sich im Zusammenhang mit modernen technischen Konstruktionen. Mit dem zunehmenden Einsatz von Stahl und Glas magerte die Fassade immer mehr zu einer dünnen Folie ab, die ohne Spielraum für den Ausgleich von innen und außen war. Der bestehende Widerspruch von innen und außen wird bei diesem Verfahren ignoriert. Die aufgezählten Verfahren führen in der ihnen innewohnenden Tendenz zu einseitigen Haltungen gegenüber dem Konflikt von innen und außen oder zu aufwendigen Lösungen, wenn sie nicht in eine dialektische Behandlung dieses Widerspruchs einbezogen werden. Doch das heißt nicht, dass die Fassade in jedem Falle die Mitte der jeweiligen Anforderungen erfüllen sollte. Die Geschichte der Architektur kennt eine Fülle von Beispielen, in denen die Dialektik bei Dominanz der außerräumlichen oder der innerräumlichen Anforderungen – je nach der vorherrschenden Raumkonzeption und den lokalen Verhältnissen – gewahrt wurde.

In der sozialistischen Gestaltungspraxis, die dem Menschen und dessen Befähigung verpflichtet ist, sich seine bauliche Umwelt anzueignen, können diese beschriebenen Elemente erst recht nur innerhalb eines Verfahrens Gültigkeit haben, das sich ausdrücklich auf die Dialektik von innen und außen beruft und aus der Entfaltung der Widersprüche seine Lösungen ableitet. Es ist das Verfahren, die Widersprüche aufzuzeigen, sie mit künstlerischen Mitteln zu durchformen, ihre Genese abzubilden usw., also die Widerspruchsmomente der Architektur und insbesondere die Dialektik von innen und außen nicht nur strukturell zu lösen, sondern sie für den Rezipienten zum ästhetischen Erleben zu führen. Damit wird er befähigt, sich mit seiner baulichen Umwelt zugleich Momente seines gesellschaftlichen Seins ästhetisch anzueignen. Die Dialektik von Innen und Außen mit architektonischen Mitteln zu interpretieren, ist sicherlich das anspruchsvollste Verfahren, es ist aus der Zielstellung, Rezeptionshilfen für ein nicht entfremdetes Verhältnis zwischen Architektur und Mensch zu schaffen, unvergleichlich wirksamer als die Reduzierung des Ausdrucksproblems auf die eine oder andere Seite, und es ist auch effektiver als die einfache Bedienung beider unvermittelter Seiten. Die Darstellung, sinnliche Aufbereitung und ästhetische Bewältigung der Widersprüche komplexer Gebilde ist ein wesentlicher Inhalt der Gestaltungstätigkeit und nur vorstellbar als eine Gestaltung, die den betreffenden Widerspruch nicht nur strukturell bewältigt, sondern ihn vor allem semantisch an das Publikum vermittelt. Dieses Vorhaben ist nicht ohne die Verwendung von Formelementen möglich, die dem Entwurf zugegeben werden, die also der Fassade nicht aus dem inneren Zusammenhang heraus erwachsen. Es sind bedeutungstragende Elemente einer Architektursprache, mit denen der Architekt in die Lage versetzt wird, den Widerspruch und die Einheit in der Beziehung von innen und außen in architektonische Aussagen zu verwandeln.

Erfindung des Zufalls
Das Bekenntnis zum Widerspruch als einer Quelle der Gestaltung richtet sich gegen jede Art von Formalismus, gegen ein Verhalten, das darauf gerichtet ist, die realen Widersprüche ästhetisch auszulöschen, sie mit dem Gleichmaß eines formalen Kanons zu überziehen, der, sei er historisierender, geometrischer oder sonstiger Natur, nur dazu führen kann, eine ausdrucks- und wirkungslose Architektur hervorzubringen oder falsche Effekte hervorzurufen. Dagegen sollte eine solche Einheitlichkeit angestrebt werden, die durch die Einbindung in die sie tragende Kultur gesetzt wird, für eine Formensprache, die einheitlich ist und Individualität auszudrücken vermag. Ein Bekenntnis zu „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ besonderer Art hat einer der führenden zeitgenössischen Architekten in Amerika, Robert Venturi. abgelegt. In einem Buch, das eben diesen Titel trägt, entwickelt er sein ästhetisches Programm: „Ich ziehe eine Haltung, die sich auch vor dem Vermessenen nicht scheut, einem Kult des ‘Reinen’ vor; ich mag eine teilweise kompromisslerische Architektur mehr als eine ‘puristische’, eine verzerrte mehr als eine ‘stocksteife’, eine vieldeutige mehr als eine ‘artikulierte’ eine verrückte genauso wie eine unpersönliche, eine lästig-aufdringliche genauso wie eine ‘interessante’, eine konventionelle noch mehr als eine angestrengt ‘neue’, die angepasste mehr als die exklusiv abgegrenzte, eine redundante mehr als eine simple, die schon verkümmernde genauso wie die noch nie dagewesene, eine in sich widersprüchliche und zweideutige mehr als eine direkte und klare. Ich ziehe eine vermurkste Lebendigkeit einer langweiligen Einheitlichkeit vor. Dementsprechend befürworte ich den Widerspruch, vertrete den Vorrang des „Sowohl-Als-auch“.(8) Der erste Eindruck von diesem Zitat mag ein erfrischender Antidogmatismus sein, doch Venturis Programm ist formalistisch. Venturi ist in seinem Architekturschaffen einer der interessantesten Vertreter der neuen Architektengeneration in den USA, der keineswegs den prinzipienlosen Eklektizismus der oberflächlichen Dekorateure an der amerikanischen Westküste vertritt.(9) Doch seine Ästhetik entwickelt er außerhalb der sozialen Problemlage, sein pragmatisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Realitäten lässt ihn die Mechanismen der kommerziellen Warenästhetik mit allen sozialen und politischen Konsequenzen anerkennen. Sein Eintreten für Komplexität und Widerspruch orientiert auf den schönen und interessanten Schein. Dessen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Widersprüchen – als dessen Abbild – bleibt seiner Architekturprogrammatik verschlossen, obwohl er sehr genau weiß, dass die ästhetische Funktion der Form im Kapitalismus immer von der kommerziellen überformt ist. Zwischen die Form und ihre Wirkung auf den Menschen ist dort das Interesse des Marktes geschaltet und beeinflusst deren Inhalt wesentlich. Man könnte meinen, die „verzerrte“, „verrückte Lebendigkeit“, die Venturi liebt, entstünde durch die ungezügelten Baubedürfnisse von Nutzern, deren entwickelte architektonische Phantasie auf eine wenig reglementierte Weise Bauwirklichkeit würde. Doch Venturis Häuser sind ausgedacht, seine Entwürfe sind Kunstprodukte. Die Lebendigkeit und Vielfalt, die Überraschungen und Widersprüche hat er erfunden. Es sind architektonische Interpretationen der Wirklichkeit, wie er sie versteht. Ihre künstliche und künstlerische Natur an sich ist keineswegs ein Hinweis darauf, dass sie dem gesellschaftlichen Leben nicht entsprechen würde, obwohl die schöpferische Beteiligung der künftigen Nutzer der beste Garant für eine solche Entsprechung wäre. Doch bei Venturi und vor allem bei seinen Adepten erstarrte sehr bald das Spiel mit den Widersprüchen zu einem neuen Schematismus. Seine interessante theoretische Konzeption wurde in der Bauwirklichkeit dem gleichen Formalismus unterworfen, der auch den rechten Winkel beherrschte, dessen Dogma Venturi bekämpft. Viele Entwürfe der sogenannten „Postmodernen“ dokumentieren eine erschreckende Künstlichkeit im Umgang mit der „Lebendigkeit“. Die Liebe zum spitzen oder stumpfen Winkel und die Verachtung der Parallele erhalten dann quasi-religiöse Bedeutung in einer Ästhetik der gewollten und scheinbaren „Zufälligkeit“. Formale Widersprüchlichkeit ist neuerdings zu einem modischen Kunstmittel geworden, das außer Überraschungseffekten für die vom orthogonalen Prinzip ermüdeten Augen oftmals wenig enthält. Obschon die Erweiterung des Repertoires an Gestaltungsmitteln ein unbedingtes Erfordernis der zeitgenössischen Architektur ist, müssen die neuen oder neu entdeckten Ausdrucksträger in ihrer Anwendung immer danach befragt werden, ob sie in der Lage sind, die Dialektik des realen Lebens zu reflektieren und dazu beizutragen, relevante architektonische Aussagen zu formulieren. Wenn nicht das Bemühen erkennbar wird, die Einheit und die Widersprüche im Verhältnis der architektonischen Komponenten untereinander, zum gegenständlichen Kontext, zur historischen Entwicklung und zum realen gesellschaftlichen Sein der Menschen gestalterisch umzusetzen, wird die Ästhetik des Widerspruchs zum Selbstzweck, und deren Ergebnisse reihen sich ein in die zunehmende Menge inhaltloser Blendwerke.

„Ente“ oder „dekorierter Schuppen“?
In seinem zweiten Buch untersucht Venturi die architektonischen Träger des Ausdrucks. Er unterscheidet zwei Grundtypen, die er „Ente“ und „dekorierter Schuppen“ nennt. „Enten“ sind bauliche Gebilde, die als konstruktives Gehäuse selbst den Ausdrucksträger bilden und nach außen hin eine symbolische Figur darstellen, Das Haus ist eine Plastik geworden, in der „die architektonischen Dimensionen von Raum, Konstruktion und Nutzung durch eine alles zudeckende symbolische Gestalt in ihrer Eigenständigkeit aufgelöst und bis zur Unkenntlichkeit verändert“ wurden. (10) Er nennt diesen Gestalttyp „Ente“ – zu Ehren eines amerikanischen Autorestaurants, das die Form eines überdimensionalen Vogels hat. Wichtig ist hierbei, dass die Bildhaftigkeit der baulichen Gestalt relativ ist, sie reicht von sehr konkret bis sehr abstrakt. Das von Venturi gewählte Beispiel ist eigentlich kein Haus, sondern eine begehbare Skulptur, dagegen ist in den Betonschalen des Flughafenabfertigungsgebäudes in New York ein wesentlich abstrakteres Bild eines Vogels eingefangen. Mit noch geringeren ikonischen Merkmalen würden nach Venturis Definition diesem Gestalttyp solche Gebäude angehören, die in ihrer Form an Sprungschanze, Segel, Buch oder ähnliche Dinge erinnern und die bekanntlich eine kurze Periode der DDR-Architekturentwicklung prägten. Den anderen Gestaltungstyp sieht Venturi da, „wo Raum und Struktur direkt in den Dienst der Nutzung gestellt und Verzierungen ganz unabhängig davon nur noch äußerlich angefügt werden. In diesem Fall sprechen wir von einem dekorierten Schuppen“ (11) (Hervorhebung – 0. W.) Er ist „ein normales schützendes Gehäuse, das Symbole verwendet“, also ein praktisches Haus, dem zusätzlich einige Ausdrucksträger appliziert wurden, während die Ente „als Ganzes Symbol ist“, dafür aber nur rudimentär praktisch funktioniert. Nachdem er beide Typen als architekturtheoretische Begriffe erfunden hat, entscheidet er sich für den „dekorierten Schuppen“: „Die Architektur sollte das, was sie ausdrücken will, nicht mit Hilfe ihrer Formen ausdrücken, sondern mit Hilfe ihrer Zeichen. Die Zeichen und die Botschaften sollten ein ‘Appliqué’ sein. Sie konstituieren eine Umgebung, die aus Mitteilungen, und nicht aus ‘reiner’ Architektur besteht. Die verspätet heroischen Architektur-Monumente…sind nicht mehr als die letzten Züge der reinen Form, die überaus langweiligen letzten Atemzüge.“(12)
Was Venturi will, ist ein praktisches Gehäuse (eventuell im Sinn Mies von der Rohes „leeren Kästen“), das er mit auswechselbaren (dem wechselnden Besitzer und dem Zweck, dem veränderlichen Zeitgeschmack usw. angepassten) Kostümen behängt. Da die Tendenz zur Dekoration einer nicht explizit nach ästhetischen Gesichtspunkten entwickelten Bauhauptmasse sich auch in unserer Architektur verstärkt, soll die ästhetische Funktion eines solchen Verfahrens etwas genauer hinterfragt werden. Das geht nicht, ohne auf unseren Ausgangspunkt, die Dialektik von Innen und Außen, zurückzukommen.
Zunächst ergibt sich aus der Trennung von Bau und Fassade eine relative Unabhängigkeit beider voneinander. Venturi zieht daraus den Vorteil, dass er die ästhetischen Botschaften, die die Fassade ausstrahlt, schneller auswechseln kann, so, dass sie den galoppierenden Moden angepasst werden können und der Repräsentant des Gebäudes immer „up to date“ erscheint. Zeichen jedoch sind auswechselbar, es besteht die Gefahr, dass der Schein zum Wesentlichen wird. Dieses Verfahren dient oft dazu, eine unbefriedigende innere Lösung zu verstecken. Es könnte aber ebenso ein Mittel sein, eine progressive Lösung, die ganzheitlich nicht durchsetzbar war, ästhetisch anzuzeigen.

Doch die wesentliche Frage, die für jeden Entwurf konkret beantwortet werden muß, ist, ob solche Fassaden dazu beitragen, das Haus oder die Stadt begreiflich zu machen. Das Verfahren des „dekorierten Schuppens“ allerdings lässt hierfür Zweifel angebracht erscheinen. Während nämlich in der schon beschriebenen Dopplungsmethode des Barock, bei der die Wand durch Verdickungen, Verdünnungen und Hohlräume nach innen wie nach außen ausgerichtet wurde, für das Davor und Dahinter die gleichen Formierungsprinzipien galten, ist dieser Zusammenhang bei Venturi ausdrücklich aufgelöst. Das Innere ist den Bedingungen der Konstruktion und Nutzung verpflichtet, das Äußere der Anschauung. Die Fassade widerspiegelt nicht mehr das Innere. Sie symbolisiert nur eine allgemeine Idee über das Innere oder auch einen vorn Gebäude unabhängigen Inhalt. Ein Verständnis für die tatsächlichen sozialräumlichen Zusammenhänge, ein nicht-entfremdetes Verhältnis zur Architektur oder ein kulturvoller Umgang mit ihr wird durch diese Veräußerlichung nicht gefördert. Der ästhetischen Freizügigkeit des „dekorierten Schuppens“ muss mit Skepsis begegnet werden.

Die Einheit von Außen und Innen sowie die von Gebrauch und Wahrnehmung ist immer nur relativ, es ist eine dialektische Beziehung. In der Geschichte der Architektur hat diese Dialektik unterschiedliche Ausprägungen erhalten. Häring hatte in den zwanziger Jahren als „Kräfte, die die Gestalt der Gegenstände bestimmen“, zwei Seiten aufeinander bezogen, „Formen der Leistungserfüllung mit ihren eigenen Ausdruckswerten und (der) Formen, die eines besonderen Ausdrucks wegen gemacht werden“(13), wobei er sich letztere allerdings nicht als aufgesetzte Marken vorgestellt hatte, die die von ihm hervorgehobenen Formen der Leistungserfüllung“ verstecken. Eine ähnliche Unterscheidung hatten schon Bötticher und Semper ein halbes Jahrhundert früher getroffen.(14) Bötticher wollte die volle „Bildgestalt“ aus zwei Elementen zusammensetzen: einem rein materiell und einem rein bildlich wirkenden, der Werkform (Kernforrn) und der Kunstform.

In Frage stellt sich bei einer solchen gedanklichen Sondierung die Beziehung der beiden unterschiedlichen Teile. „Die Theorie Böttichers von der ‘Werkform’ und der ‘Kunstform’, schrieb K. Milde, „ist nicht deshalb zu kritisieren, weil sie zwischen materiell Notwendigem und ideell (künstlerisch) Erforderlichem im Architekturwerk unterscheidet, sondern weil sie diese Abstraktionen zu Strukturebenen des Architekturwerkes als bauliche Gebilde macht und es damit innerlich in zwei getrennte Strukturen spaltet, für die auch getrennte Formierungsgesetze gelten.“ (15)
Was Milde hier Bötticher vorwirft, gilt erst recht für Venturi, doch muss unterschieden werden, von welcher Art der Zusammenhang von Kern und Schale ist – er kann stofflicher, struktureller oder ideeller (semantischer) Natur sein. Die modernen Materialkombinationen und Technologien begünstigen Tendenzen zur stofflichen und strukturellen Trennung von Trag- und Hüllstrukturen, von „Innereien“ und Verkleidungen, die auch in der industriellen Formgestaltung zu beobachten sind. (16)

Doch das sind Entwicklungstendenzen technisch-ökonomischer Art. Hier interessiert das Problem, in
welchem funktionellen Zusammenhang die ästhetische Potenz der Form zu den materiellen Anforderungen steht. Sie kann, wenn sie keinen stofflichen und strukturellen Bezug hat, diese symbolisch repräsentieren. Auf diese Weise kann die Fassade eine konstruktiv völlig unabhängige Verblendung darstellen, deren ideelle Wirkungsbeziehung zum Menschen aber der materiellen Gebrauchsbeziehung kongruent ist.

Entscheidend ist also nicht, wie fest die bedeutungstragenden Formen mit der Bauhauptmasse konstruktiv verbunden sind, sondern welchen inhaltlichen Bezug die Verhüllung zum Verhüllten hat. Unter diesem Blickwinkel traten Bötticher und Semper für eine große Homogenität ein. Die Kunstformen, so meinte Bötticher, bekleiden die Werkformen „wie mit einer charakterisierenden Hülle…, immer versinnlich(en) sie bildlich nur deren Dienstleistung, ohne sie materiell zu theilen“, sie sind „von dem eigenschaftlichen oder begrifflichen Verhalten ihrer Werkform so vorbedingt und abhängig, dass in diesen allein die Richtschnur für ihre Wahl und Zusammensetzung gegeben lag“. (17) Semper betonte ebenfalls den Zusammenhang von sinnlicher Hülle und Kern: „ich gebe zu, dass die einzelnen dekorativen Symbole nicht statisch wirklich fungieren, aber es ist unrichtig, daraus zu folgern, dass sie angelegt und von außen hinzugefügt erscheinen…“ (18) Eine solche Beziehung zwischen den Opponenten stellt Venturi nicht her, ihm geht es gerade darum, durch die strukturelle Trennung von Behälter und Ornament auch eine ästhetische Unabhängigkeit, eine absolute inhaltliche Freizügigkeit der Gestaltung zu erreichen. Hier ist das eigentliche Problem angesiedelt. Die Einheit, die den Widerspruch ausdrücklich einschließt, ist ein Produkt faktischer (konstruktiver) und ideeller (semantischer) Beziehungen zwischen dem Kern und seiner Schale. Je loser der faktische Zusammenhang ist, um so subtiler muss ihn der semantische ersetzen, damit der Zustand eintritt, den Semper in der hellenischen Tektonik und der „schaffenden Natur“ so bewunderte, wo es Prinzip ist, „den Begriff jedes Gebildes in seiner Form auszusprechen… mit einer erklärenden Symbolik…“ (19). Was Semper im Unterschied zur griechischen Architektur als „barbarisch“ bezeichnet, nämlich den Charakter der ornamentalen Teile als wirkliche oder offensichtliche Applikationen, und was er bei seinem Amerikabesuch im Jahre 1851 staunend erfahren hatte, als er industriell errichtete standardisierte Häuser sah, deren Fassade nachträglich durch Gipser „individualisiert“ wurden (20), das strebt Venturi gerade an: eine Stadt, – „…mit zweckmäßigen Bauten, zweckmäßigen Räumen und symbolischen Applikationen“ (21). Solche „Applikationen“ können entweder Ornamente sein, die dem Baukörper äußerlich bleiben (und übrigens auch den Bewohnern), weil sie nicht aus einer verständlichen Formensprache hervorgegangen und semantisch leer sind, es können aber auch bedeutsame Formen sein, denen nur die inhaltliche Beziehung zur Architektur fehlt. In ersterem Falle entsteht der Formalismus durch fehlende, im zweiten Falle durch fehlgeleitete Inhalte.

Architektur darf auf Ausdruck und Aussagen, die in das Stadtbild passen, nicht verzichten. Zugleich muss sie eine komplexe innere Einheit bilden. Das sind schwer zu vermittelnde Ansprüche. Venturis Konzeption des „dekorierten Schuppens“ huldigt zwar dem Widerspruch, doch – entgegen seinem Programm – nicht der Komplexität, die immer auch Zusammenhang als ein dialektisches Verhältnis bedeutet. Da Venturi die ästhetische Unabhängigkeit der bedeutungstragenden Schicht anstrebt, muss ihre symbolische oder ikonische Form, wenn sie fest mit der Tragstruktur verbunden ist, zur komischen „Ente“ werden, das heißt, die tragende Bauhauptmasse muss selbst eine außer ihr liegende Idee ausdrücken. Dieses Problem wird beim „dekorierten Schuppen“ umgangen, indem die semantische Selbständigkeit der Hülle im konstruktiven Aufbau der Fassade wiederholt wird. Verloren geht dabei die Komplexität, die dialektische Einheit der Architektur. Die Widersprüche von Innen und Außen und auch die von materiellen und ideellen Anforderungen bleiben in dieser Konzeption unvermittelt, die beiden Seiten sind sich fremd.
Die Fassade kann sich nur aus der Dialektik von Innen und Außen entwickeln. Aus diesem Spannungsfeld werden auch ihre Bedeutungen und Aussagen erwachsen. Der Inhalt, den die Fassade an die Rezipienten vermittelt, kann nicht nur eine Information über das Innere des Gebäudes sein, doch sollte er dieses Innere auch nicht ignorieren oder verfälschen. Wenn die bedeutungstragenden Formen der Fassade dem Bauwerk fremde Applikationen sind, können sie dem Passanten wenig helfen, seine bauliche Umwelt zu verstehen. Die Alternative zur ausdruckslosen Architektur kann weder die „Ente“ noch der schmückende Zierrat des „dekorierten Schuppens“ sein. Es soll aber an dieser Stelle nochmals betont werden, dass der stoffliche oder konstruktive Zusammenhang zwischen der äußeren Hülle und dem Verhüllten vom Standpunkt der ästhetischen Funktion der Fassade her relativ unbedeutend, die inhaltliche Beziehung aber um so wichtiger ist. (22)

Die Architektur ist nur in ihrer subtilen Dialektik zu begreifen; die Widersprüchlichkeit löst sich erst in einem großen funktionellen Zusammenhang auf, in dem es um die Einheit von Gebrauchs- und
Kulturwert geht. Der Beziehungsreichtum zwischen Architektur und Mensch ist ästhetisch nur durch das Zusammenwirken von anzeigenden und symbolisierenden Formen möglich. Die tragende Bauhauptmasse kann nur in Ausnahmefällen Symbolträger werden, sie zeigt die Volumina, die nutzertechnologischen Grundprozesse und die konstruktiven Systeme an, während die symbolischen Formen, die sich ihnen gegenüber in einem Spannungszustand befinden, die konkrete Bestimmung des Gebäudes und seines räumlichen und kulturellen Kontextes genauer ausdeuten.

Bildbeschriftungen:

Fassade von Außen
Die Anforderungen des Außenraumes bestimmen die Durchbildung der Baukörperhülle. In der Prunkarchitektur des 19. Jahrhunderts diente die Fassade vor allem Repräsentationszwecken. Die innere Raumorganisation und die Gebrauchseigenschaften
ordnen sich bei diesem Konzept der angestrebten Außenwirkung unter.
1. Joseph Poelaert, Justizpalast, Brüssel/ Belgien
2. Juius Raschdorff, Berliner Dom

Fassade von Innen
Die Baugestalt erwächst aus innenräumlichen Anforderungen. Die nutzer- und bautechnologischen Faktoren widerspiegeln sich in der äußeren Hülle, die sich um die Konstruktions- und Raumglieder legt. Die sozialkulturellen und historischen Besonderheiten des Außenraumes spielen für die Raumgestalt eine untergeordnete Rolle.
3. Hugo Häring, Gut Garkau bei Lübeck/ BRD
4. Hans Scharoun, Wohnhaus im Weißenhof, Stuttgart/ BRD

Fassade gedoppelt
Die unterschiedlichen Anforderungen des Innen- und des Außenraumes werden durch die doppelte Ausrichtung der sich verdickenden und verdünnenden Wände oder durch mehrschalige Hüllen erfüllt. In der körperlich-plastischen Ausbildung der Fassadenglieder wird der Widerspruch von innen und außen aufgehoben, doch gelten allseitig die gleichen Formierungsprinzipien.
5. Balthasar Neumann, Wallfahrtskirche, Vierzehnheiligen bei Lichtenfels/ BRD
6. Balthasar Neumann, Wallfahrtskirche, Vierzehnheiligen bei Lichtenfels/ BRD
7. Balthasar Neumann, Wallfahrtskirche, Vierzehnheiligen bei Lichtenfels/ BRD

Fassade als Folie
Während die Barockfassade die innen- und außenräumlichen Anforderungen zugleich zu erfüllen sucht, negiert die zur dünnen Folie ausgemagerte Vorhangfassade beiderlei Ansprüche. Der Widerspruch von innen und außen wird im durchscheinenden Glas ignoriert.
8. Mies von der Rohe, Federal Center, Chicago/ USA
9. Anthony Lumsden, Hochhaus, Los Angeles/ USA
10. Venturi und Short, Schwesternhaus, USA
11. Andrew Derbyshire, Civic Centre, Hillingdon, London/ Großbritannien
12. Olivetti-Trainingszentrum, Haslemere/ Großbritannien

Gewollte Lebendigkeit
Die äußerliche Liebe zum Widerspruch, der tatsächlich eine wesentliche Quelle der Gestalt ist, führte bald nach seiner „Wiederentdeckung“ zu einem neuen Formalismus, der durch eine erschreckende Künstlichkeit im Umgang mit der Lebendigkeit gekennzeichnet ist. Spitze und stumpfe Winkel bilden gegen den rechten ein neues Dogma. Der Zufall wird erfunden.

„Ente“ Bei diesem Gestalttyp (nach R. Venturi „Ente“ genannt) bedeckt eine symbolische Figur alle Einzelheiten, die Volumen und konstruktiven Glieder, so dass die Bauwerkshülle nach außen hin als ikonographischer Ausdrucksträger wirkt. Die innere Ordnung fügt sich dem unterschiedlich starken Druck der Gestalt.
13. Das entenförmige Restaurant „Long Island Duckling“, Las Vegas/ USA
14. Eero Saarinen, Flughafenabfertigungsgebäude New York/ USA
15. Interhotel „Panorama“ – Oberhof

„Dekorierter Schuppen“
Beim „Dekorierten Schuppen“ hat sich der Ausdrucksträger vom Bauwerk gelöst. Er ist zur Applikation auf einem zweckdienlichen Baukörper geworden. Zeichen und Dekoration werden einem ästhetisch unbefriedigendem Baukörper angehängt. Die äußere Schale folgt anderen Formierungsprinzipien als die Bauhauptmasse.
16. Security Marine Bank, Wisconsin/ USA
17. Stanley Tigermann, Gänseblümchenhaus, Indiana/ USA
18. Venturi und Short, Schwesternhaus, USA

Anmerkungen Fußnoten
(1) Fritz Schumacher, Das bauliche Gestalten, in: Handbuch der Architektur Bd. IV, Teil 1 (architektonische Kompositionen). Leipzig 1926, S. 28
(2) Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur (1923). – Nachdruck in: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, hrsg. : Conrads, Ulrich. (Bauwelt Fundamente Nr. 1) Gütersloh, Berlin (West), München. – 1971. S. 58
(3) „Wenn wir die Architektur als Teil oder Ergebnis ‘des Lebens’ betrachten, so ist sie vor allem eine Augensache. In 98 Prozent begegnet der Mensch der Architektur nicht als Funktion, sondern als Augen- und Raumerlebnis.“ Bildende Kunst und Architektur. Materialien der Plenartagung vom 31. Mai 1968. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, 1969.
(4) W. Kil beschreibt denjenigen Zustand, der eintritt, wenn die Seitenfronten eines Baukörpers sich den verschiedenen Straßenbildern derart anpassen, dass sie die Fähigkeit verlieren, das sie urnschließende Bauwerk als etwas eigenes auszudrücken, als „Verlust der Mitte“. vgl.
Wolfgang Kil, Verlust der Mitte, in: Architektur der DDR 31 (1982) 7, S. 445
(5) R. Baumeister, Architektonische Formenlehre für Ingenieure, Stuttgart 1866, S. 36
(6) vgl. Bruno Flierl, Zur sozialistischen Architekturentwicklung in der DDR. Theoretische Probleme und Analysen der Praxis, Bauakademie der DDR, Institut für Städtebau und Architektur, Berlin 1979, S. 61 ff.
(7) Dieter Dolgner, Architektur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Soziale und theoretische Grundlagen, Inhalte, Methode und Form, Halle, Martin-Luther-Universität, Diss. B, 1982, 5. 138
(8) Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Braunschweig 1978, S. 23/24
(9) Im Vorwort zu „Lernen von Las Vegas“ verurteilt er den Angriff der „Postmodernen“ auf die Errungenschaften der architektonischen Avantgarde der zwanziger Jahre (obwohl er selbst von Ch. Jencke, H. Klotz u.a. unter diese Kategorie eingeordnet wird, was die Fragwürdigkeit dieses Begriffs einmal mehr dokumentiert): „…haben wir auch nichtsgemein mit der Vielzahl gegenwärtig arbeitender Architekten, die aus der Erfahrung des Scheiterns der Formensprache der revolutionären Moderne an den ökonomischen Randbedingungen nur die Konsequenz gezogen haben, sie als toten Ballast über Bord zu werfen, und die heute, in totaler Anpassung an die Wünsche ihrer
Auftraggeber und den Geschmack der Zeit, ihre glatten, dabei so armen Bauten hinstellen.“ Robert Venturi; Brown, Denise Scott; Izenour, Steven, Lernen von Las Vegas. Zur lkonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Braunschweig 1979, S. 10
(10) Robert Venturi u.a.; Lernen von Las Vegas, a.a.O., S. 104
(11) ebd., S. 103
(12) Lachen, um nicht zu weinen. Interviews mit Robert Venturi und Denise Scott Brown, in: Archithese (1975) 12, S. 17-26, Zit. S. 26
(13) Hugo Häring, Formulierungen zur Neuorientierung im Kunstgewerbe, in: Programme und Manifeste. a.a.O., S. 97
(14) Karl Bötticher, Die Tektonik der Hellenen. Berlin 1874, Bd. 1, S. 20
(15) Kurt Wilde, Besonderheiten und Widersprüche der architektonischen Form, Diss. B. TU Dresden
1982, Anmerkung 44
(16) Auch hierbei ist in der industriellen Formgestaltung eine ähnliche Tendenz zu beobachten. H. Oehlke beschreibt, wie durch die „Aufhebung mechanischer Funktionen durch die Ausbreitung der Elektronik… typische technische Gestalten und Gebrauchsgestalten verschwinden… Die funktionale Ähnlichkeit und Komplexität technischer Grundstrukturen erzwingen eine stärkere Charakterisierung und Thematisierung des Erscheinungsbildes über die Hüllfunktion.“ Horst Oehlke, Visualisierung als Aufgabe funktionaler Gestaltungsweise, in: form+zweck 6/82, S. 38
(17) Karl Bötticher, Die Tektonik, der Hellenen, a.a.O., S. 24 ff.
(18) Gottfried Semper, Über architektonische Symbole (London 1854), in: Gottfried Semper, Kleine Schriften, Berlin und Stuttgart 1884, S. 300 (Anmerkung)
Wirth interpretiert den Zusammenhang von „Kunstform“ und „Kernform“ dahingehend, dass „trotz der ideellen Verschmelzung beider der Zweck der ersteren schließlich darauf ab(ziehle), ihre antagonistische Schwester in ihrer stofflichen Eigenexistenz ästhetisch zu vernichten“. (Wirth, Hermann: Kunstform und Kernform in Gottfried Sempers Architekturtheorie. Wiss. Zeitschrift der HAB 28 (1981) 1, S. 50
Die Aussage kann allgemein nicht gelten, sonst würde die „Kunstform“ ja dasjenige „ästhetisch vernichten“, was sie semantisch (als Bedeutung) aufbewahren soll.
(19) Gottfried Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, in: Gottfried Semper, Kleine Schriften, a.a.O., S. 323-324
(20) Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst, Hrsg. Wingler, Hans M., Mainz und Berlin (West) 1966, S. 39 f.
(21) Robert Venturi, u.a., Lernen von Las Vegas, a.a.O. S. 189
(22) Aus dieser Sicht ist die Auffassung Ikonnikows doch etwas stark vereinfachend: „Die gegenwärtige Architektur… lehnt die Möglichkeit ab, die informative und die ästhetische Funktion auf Elemente zu legen, deren Struktur von der Konstruktion und Organisation des Raumes unabhängig ist. Ein derartiges Fehlen der Einheit wird heute von uns als etwas ethisch Unannehmbares… empfunden… Für den modernen, rationell denkenden Menschen kann die Dekoration nur eine überflüssige Unmäßigkeit sein, die zusätzliche Ausgaben verlangt und dabei die Möglichkeiten der industriellen Technik fesselt.“ Andrej Ikonnikow, Funkcija, forma, obraz, in: Architektura SSR, 40 (1972) 1, S. 7 (Funktion, Form, Gestalt)

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