Möbel als Hintergrund
Wie wichtig, wie vordergründig sollen die Gegenstände sein, mit denen wir uns umgeben, wie auffällig sollen ihre Formen sein, wie tiefgründig die Inhalte, die sie vermitteln? Sollen sie nicht nur den neutralen Hintergrund bilden, vor dem sich das Leben entfalten kann, anstatt auf dieses auszustrahlen und sich einzumischen?
Angesichts der Eigensinnigkeit und Kunstfertigkeit vieler Möbel seiner Zeit – des Jugendstils – überkam – Georg Simmel diese Sorge: „Das Möbelstück … berühren wir fortwährend, es mischt sich in unser Leben und hat kein Recht auf Für-sich-sein. Manches moderne Möbelstück erscheint, weil es der unmittelbare Ausdruck individuellen Künstlertums ist, degradiert, wenn man darauf sitzt; es schreit förmlich nach einem Rahmen und ohne diesen im Zimmer stehend, unterdrückt es den Menschen, der doch mit seiner Individualität schließlich die Hauptsache und jenes nur der Hintergrund sein soll.“i Nikolaus Pevsner kommentierte die Situation eines bestimmten Jugendstilmobiliars ähnlich: „Möbel sollten Hintergrund sein. Hier empfinden wir sie wie ungebetene Eindringlinge“.ii Was Simmel und Pevsner an der aufdringlichen Gestaltung von Möbeln kritisieren, zielt jenseits der Eigenart von Möbeln auf die gesamte gegenständliche Umwelt des Menschen: Gegenüber seiner Vergegenständlichung sollte der Mensch im Mittelpunkt bleiben, die Gegenstände haben ihm gegenüber nur dienende und instrumentelle Funktionen, doch besitzen sie – einmal geschaffen – ein Eigenleben, das auf die Entwicklung menschlichen Lebens zurückwirkt.
Zwischen Mensch und Umwelt gibt es nicht nur Harmonie, sondern auch ein widersprüchliches Verhältnis, ein Verhältnis der Ausschließung oder der Zurückhaltung. Die gegenständliche Umwelt der Menschen – von Städtebau und Architektur über die Möbel bis zu den handlichen Gebrauchsgegenständen – ist auch ein Gegenüber des Menschen, ein ihm äußeres Objekt, eben ein Gegenstand, in dem immer nur einzelne Momente seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit und seiner Persönlichkeitsstruktur eingebettet sind: Der Mensch strebt nicht nur danach, sich mit der von ihm geschaffenen Umwelt zu identifizieren, sondern er tritt ihr auch mit einem Abstand gegenüber, der seine Rolle als agierendes Subjekt entspricht. Der Vertrautheit mit den Dingen der persönlichen Umwelt steht eine Zurückhaltung zur Seite. Die gegenständliche Umwelt hat offenbar dann das richtige Maß an wirkender Teilnahme, wenn wir uns mit ihr identifizieren können, ohne ganz in ihr aufzugehen. In ihr finden wir uns wieder und zugleich einen Abstand zu ihr und zu den in ihr vergegenständlichten Raum- und Umweltvorstellungen.
Im Verhältnis von Kunst und Publikation wird seit der Avantgarde eine Situation angestrebt, in der einerseits die Aura des Kunstwerkes aufgehoben (Benjamin) und andererseits das Publikum aktiviert wird (Brecht). Die gleiche Tendenz ist in der Beziehung von gestalteter Umwelt und denen zu beobachten, die sie sich auf unterschiedliche Weise aneignen. Das heißt, dass die vom Objekt und seinem Pathos geschaffene Distanz zum Publikum zurückgenommen und zugleich die vom Publikum selbst erzeugte Distanz zum Gegenstand entwickelt wird. Der Gegenstand bzw. das Kunstwerk trägt durch seinen Charakter dazu bei, die Rezipienten zu befähigen, die Beziehung der Nähe und Ferne zu ihm festzulegen.
Dieser Funktionswandel der Aneignung, der für das Publikum emanzipatorische Momente enthält, führte in der Anfangsphase zu einer gewissen Einschränkung des vermittelten Inhalts – besonders durch die Verwendung abstrakter Gestaltungsmittel. Für Architektur und Produktgestaltung wurde die stille Ausdruckslosigkeit zur Tugend erklärt. Doch es zeigte sich bald, dass der neue Typ der Aneignung dieser Umwelt kein semantisches Vakuum voraussetzt, keine Reizlosigkeit der Umwelt erfordert. Im Gegenteil, die Entleerung der Umwelt von ästhetischen Botschaften wäre kein Akt der Emanzipation, sondern der Verunsicherung und der Lähmung sozialräumlichen Verhaltens. Die Befreiung der Wohnwelt von einer manchmal erdrückenden Last der Dinge ist nicht vorrangig durch die Beseitigung von Möbeln oder deren Ausdruckselementen zu erreichen, sondern durch eine neuartige Organisation des Dialogs zwischen den Bewohnern und diesen Dingen. Der ästhetischen Kultur kommt dabei eine große Verantwortung zu. Die Form hat, indem sie Vermittlung von Nachrichten und Emotionen betreibt, zugleich diesen Austausch zu qualifizieren und die Rezipienten in dem Maße, wie es ihr möglich ist, zu einem souveränen Umgang mit den von ihr selbst ausgehenden Impulsen zu befähigen.
Die Freiheit, dass Maß der Verinnerlichung der gegenständlichen Umwelt selbst zu wählen, kann nicht bedeuten, die kühle Distanz zu ihr einer Haltung vorzuziehen, durch die sich der Betrachter in sie versenkt. In beiden Fällen ist der positive Zustand möglich, in dem der Mensch über die Dinge dominiert. Ein enges Verhältnis zu seiner dinglichen Umwelt kann aus liebevoller Zuwendung erwachsen oder aber aus einer ohnmächtigen Bindung an die aufdringliche Dingwelt. Auf dieser Ebene sollten wir unser Urteil über die „Lautstärke“ bilden, mit der die Möbel zu uns sprechen. Die konkrete Rezeptionssituation spielt dabei ebenso eine Rolle, wie die Einbindung des Wahrnehmenden in ein gesellschaftliches Wertesystem und seine persönliche Disposition. Für den Bittsteller vom Lande wirkte die Pracht des feudalen Hofes sicher bedrückend, nicht für die Höflinge; und in einem Museum bewundern wir heute entgegen den Auffassungen von Simmel und Pevsner das von ihnen kritisierte und nun in einem ganz anderen räumlichen und kulturellen Kontext befindliche Möbel.
Was die ästhetischen Eigenschaften solcher Dinge anbelangt, die aufdringlich wirken, so machen wir es uns zu leicht, wenn wir Größe, Fülle oder Schmuck dafür verantwortlich machen. Das nackte Möbel der „Neuen Sachlichkeit“ kann unter Umständen beherrschender und bedrückender wirken als ein verschnörkeltes. Offensichtlich hat aber die Frage, wie beherrschend Möbel für das Leben der Menschen sind, auch etwas mit der Frage zu tun, wie komplett und geschlossen oder fragmentarisch und offen die ihnen zugrunde liegende Gestaltungskonzeption ist. Ich bin mit Heinz Hirdina, der dieses Problem neuerlich behandelt hat,iii einverstanden, wenn er das Fragmentarische als positiven Wert herausstellt. Das Fragment enthält die Potenz zur Veränderung und Ergänzung und unterwirft sich schon aus diesem Grunde dem gebrauchenden und rezipierenden Subjekt. Doch gerade der geometrische Formalismus innerhalb der Gestaltungspraxis der zwanziger Jahre hatte diese Potenz nicht.iv Seine Strukturen können nur durch ihresgleichen erweitert werden, er hat nur die Additionsmöglichkeiten eines elementaren Baukastens. In dieser Variabilität lag eine Entwicklung gegenüber dem geschlossenen Interieur des Jugendstils, doch blieb es noch beim Stil.
Das Komplette (das Geschlossene) kann auf der Ebene des Konkreten auftreten, dann ist es ein kunstähnliches Gebilde, dem nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen ist. Handwerk fördert diese Tendenz. Es kann aber auch im allgemeinen angesiedelt sein, als ein hoch determiniertes formales Prinzip. Der klassische, unflexible Typ der Serienproduktion begünstigt es. Im Übergang vom Jugendstil zum Stil der Neuen Sachlichkeit wandelte sich das Komplette vom Konkreten ins Allgemeine. Doch die effektive Ausdrucksweise gegenständlicher Umwelt, besonders der Möbel, war damit noch nicht gefunden.
Andererseits neigt der Eklektizismus des 19. Jahrhunderts wie auch derjenige der Gegenwart nur wenig zu einer ordnenden Systematik, sondern begnügt sich damit, isolierte Signale und Symbole auf eine einschmeichelnd-unverbindliche oder provokativ-aggressive Weise zu verschmelzen. Wir erfahren immer wieder, wie versucht wird, die Unfähigkeit zum Ausdruck entweder durch einen eklektischen Subjektivismus oder durch einen geschlossenen Formenkanon zu überspielen, der einem eindimensionalen, formalen Prinzip folgt. Beide Male unterdrücken die dinglichen Reize – so gefällig sie auch sind – den Dialog zwischen Mensch und gegenständlicher Umwelt, sie verhindern Sprache.
Doch das Fragmentarische in seiner positiven Bedeutung wird gerade in diesem Begriff „Sprache“ aufgehoben. Formensprachen verändern sich ständig, sind aber trotzdem regelhaft, sie bestehen aus unterschiedlichsten Ausdrucksformen und Subsystemen, doch bilden sie auch einen Zusammenhang. Der Eklektizismus, dem dieser Zusammenhang fehlt und der formale Dogmatismus, der ihn zum Fetisch erhebt, tendieren zu bedrückenden, nicht aber zu ausdrucksvollen Gestalten. Der Grund liegt eben darin, dass sie nicht in der Art des menschlichen Bewusstseins organisiert sind – nämlich sprachlich. Eine Formensprache der gegenständlichen Umwelt, die wirklich in der Lage ist, verständliche „Texte“ hervorzubringen, mit denen die Menschen ihre Erfahrungen austauschen, wird sich erst auf einer entwickelten Stufe des Übergangs von der unflexiblen zur flexiblen (elektronisch gesteuerten) Produktion herausbilden. Die Sprachfähigkeit der Dinge ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür, dass die Dinge dem Menschen gegenüber Hintergrund bleiben. Natürlich kommt es auf den gesamten Inhalt der Beziehung zu den Dingen an, wenn wir fragen, welche Reizstärke sie praktisch und ästhetisch haben. Ein Möbel, das anmaßend und vordergründig wirkt, hat vor allem zu viel auffordernde (präskriptive) und wertende (appraisative) Elemente. Durch sie will der Gestalter mehr Einstellungsänderung beim Betrachter erreichen, als es der gegenständlichen Umwelt bzw. dem konkreten Ort oder Produkttyp zukommt.
Eine Übersteuerung der Ausdrucksweise kann allerdings unter Umständen auch zu einer hilfreichen Bewusstseinserweiterung führen. Doch sind die Fälle, in denen eine ästhetische Provokation nicht lediglich aus Geltungssucht erfolgt oder den warenästhetischen Vorführungskünsten der Produzenten oder Verkäufer dient, recht selten. Die postmodernen Möbel geben hierin Beispiele. Nur in wenigen Fällen verunsichern sie auf eine produktive Art (klein-)bürgerliche Wohnklischees, indem sie den üblichen Dingen gegenüber durch Ironie und Verfremdung eine Distanz erzeugen.
Ihrem Wesen nach sind sie Kunstobjekte. Sie funktionieren durch einen ironischen Sekundärcode, der einen „normalen“ Grundcode zur Voraussetzung hat. Sie setzen auf die Massenmedien, durch die sie nicht tatsächlich, sondern nur als Bilder seriell reproduziert werden. Sie wollen nur dem Anschein nach Möbel sein, um in der geborgten Gestalt praktischer Gegenstände künstlerische Gehalte zu transportieren. Möbel aber müssen Hintergrund bleiben. Sie sollen sprechen, doch weniger nach den Intentionen der Gestalter, als dem Dialogbedürfnis der Nutzer, die ihr Maß an Identifikation und Reserviertheit zu ihrer gegenständlichen Umwelt selbst bestimmen. So gesehen, sprechen die Möbel nicht, doch sie sollen antworten, wenn wir sie mit unseren Sinnen, unserem Gefühl und Verstand befragen.