12 Thesen zum innerstädtischen Bauen (1985)

Wie soll man in den historischen Innenstädten modern bauen? Ein Aufruf zu einer konsequenten Gegenwart des Entwurfes, in den alle Anlässe für Vielfalt (auch historische) eingehen sollten, anstatt Dekorationen zu produzieren. Die Einführung der computergestützten Projektierung, die Entwicklung der „sozialistischen Demokratie“ und eine technologische Vielfalt werden als Entwicklungsziele genannt. Dieser Artikel in der „Architektur der DDR“ führte 1985 zu einer barschen Intervention der Abteilung Bauwesen beim ZK der SED.

Olaf Weber
12 Thesen zum innerstädtischen Bauen

Der Übergang von der extensiven zur intensiven Stadtentwicklung, d. h. von den Standorten der Neubaugebiete zur Reproduktion der Stadt mit Wohnungs-, Gesellschafts- und Industriebau, hat bei Stadtplanern und Architekten eine Diskussion um den Charakter des innenstädtischen Neubaus und die Eigenheiten der dort zum Einsatz kommenden Erzeugnisse entfacht. Niemand bezweifelt, dass man in den Zentren der Städte anders bauen muss als in den Randbereichen, doch bestehen nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten und Unsicherheiten bezüglich der Frage, worin dieses Andere bestehen sollte. In den folgenden Thesen wird dieser Frage nachgegangen. Sie stellen den Versuch dar, den erreichten Entwicklungsstand unter ästhetischen Gesichtspunkten kritisch zu reflektieren und gestalterische Zielstellungen für die weitere Entwicklung des innerstädtischen Bauens aufzuzeigen.

1. Das Bauen innerhalb von Orten, die schon eine ausgeprägte Sozial- und Kulturgeschichte haben, ist der historische Normalfall. Normal ist es in der Geschichte der Architektur immer gewesen, die vorhandenen Siedlungsstrukturen für neue Baubedürfnisse zu nutzen und das Neue dem übergeordneten Ganzen zu integrieren. Die extensive Erweiterung von Städten im Sinne des Anbaus relativ eigenständiger Stadtbereiche, wie es viele Neubauwohngebiete darstellen, das Bauen in „unberührter“ Natur oder gar Ortsneugründungen bilden innerhalb des dichten Siedlungsnetzes auf dem Boden der DDR die Ausnahmen und werden es um so mehr, je mehr wir uns der Erfüllung des Wohnungsbauprogramms nähern. Das Bauen in kultur- und geschichtsträchtiger Umgebung (die eigene Geschichte eingeschlossen) dagegen wird wieder zur Alltäglichkeit werden, das für die Tätigkeit des Architekten viele Folgen hat, doch eben nicht diese, dass sich ein Spezialistentum für etwas entwickeln wird, was allgemein ist: für das innerstädtische Bauen.

Das Bauen innerhalb von Ortslagen (Städten und Dörfern) wird die städtebaulichen und architektonischen Aspekten wieder stärker zusammenführen und es wird deutlicher werden, dass es weniger die Aufgabe der Architektur und Städtebauer ist, einzelne „Architekturwerke“ oder autarke städtebauliche Strukturen hervorzubringen, als jeweils Teile der baulichen Umwelt im gesellschaftlichen und individuellen Interesse zu verändern und damit zur permanenten, intensiv erweiterten Reproduktion der Stadt und ihrer Teile beizutragen.

2. Das Bauen in den Innenstädten dient in der bekannten Einheit von Erhaltung, Rekonstruktion, Modernisierung und Neubau sowohl der Erstellung von Wohnraum und damit der Erfüllung des Wohnungsbauprogramms als auch der Instandsetzung und Entwicklung der Städte als einem Ausdruck der Kultur unseres Volkes. Gerade der Zusammenhang beider Komponenten ist typisch für den entwickelten Sozialismus: Das soziale Programm ist der wesentliche Inhalt der Kultur, auch der Kultur der Stadt. Dieser Inhalt bedarf aber einer sozialräumlichen Konkretisierung und ästhetischen Umsetzung in die konkrete Gestalt unserer baulichen Umwelt.

Für diese Umsetzung gibt es verschiedene Konzeptionen. In der internationalen Architekturentwicklung sind Tendenzen zu beobachten, die aufgetretenen Erscheinungen von Monotonie und Erlebnisarmut in der Architektur der letzten Jahrzehnte lediglich ästhetisch zu beheben oder noch eingeschränkter: lediglich in der äußeren, aufgesetzten Hülle als Dekorationen. Die Alternative zum reinen Zweckbau wird dann in der Dekoration desselben gesehen. Die Folge ist, dass der Baukörper mit Ornamenten und Schmuck behängt wird, die quasi als dünne Kruste von Verschönerungsmitteln das in seinen Grundstrukturen unveränderte Produkt ästhetisieren sollen. Es sind kosmetische Operationen, die in gewisser Weise – als Schmuck – auch zum Tätigkeitsgebiet des Architekten gehören, doch nur dann eine kulturelle Funktion haben, wenn sie in eine die gesamte Bauaufgabe umfassende Gestaltungskonzeption integriert sind.

Doch die dekorativen Tendenzen, die sich in den Innenstädten oftmals in historischem Gewand zeigen, erfüllen nur scheinbar und kurzzeitig die legitimen Bedürfnisse nach einer interessanten Architektur. Es ist sogar zu vermuten, dass sie langfristig die Umwandlung dieser Bedürfnisse in Impulse zur Flexibilisierung der Bauproduktion eher behindern als fördern. Die immer noch vorhandene technologische Spröde der Bauproduktion wird auf diese Weise nur kaschiert. In kapitalistischen Ländern trägt die „Verkunstung“ der Architektur vor allem dazu bei, ihre soziale Funktion zu reduzieren.

In unserem Lande geht es mehr und mehr darum, das historische bedeutsame Wohnungsbauprogramm in solchen Formen zu vollenden, die die sozialen kulturellen und ästhetischen Grundbedürfnisse der Bevölkerung in ihrer Einheit erfüllen. Dazu gehören Vielfalt, Ausdrucksfähigkeit und emotionale Ausstrahlungskraft der baulichen Umwelt, doch es gibt auch in unserer Architektur Tendenzen zur dekorativen, äußerlichen Bewältigung dieser Aufgaben. Deshalb sollte die Forderung nach Ausdruck zugleich die nach ihrem Inhalt und ihrer Funktion enthalten. Unser Ziel ist nicht irgendwelche aufgesetzte Vielfalt und nicht irgendwelcher banale Ausdruck, sondern Vielfalt und Ausdruck, die aus dem Leben erwachsen und ihm zugleich dienen. Das Ziel der Gestaltung ist – kurz gesagt –, der Form eine solche Funktion zu geben, die die funktionellen und strukturellen Eigenheiten einer Bauaufgabe (die das Bauwerk innerhalb des gesellschaftlichen und räumlichen Zusammenhanges definieren) an die Nutzer, Bewohner, Touristen usw. derart sinnlich vermittelt, dass diese in die Lage versetzt werden, sich die Architektur ganzheitlich und selbstbestimmt anzueignen und verfügbar zu machen. In Frage steht also, ob eine Gestaltung (eine Form) in dem räumlichen und kulturellen Zusammenhang, in den sie gebracht wurde, dazu dient, wichtige strukturelle und historische Beziehungen, die die Menschen kennen (oder empfinden) müssen, um sich in ihrer baulichen Umwelt einzurichten, genauer: um sich in ihren gegenständlichen und sozialen Bezügen emanzipatorisch zu verhalten, an die Nutzer auf eine schöne und vergnügliche Weise zu vermitteln oder ob die Formen keine ideell-ästhetische Funktion haben oder gar die o.g. Zusammenhänge verschleiern. Diese Frage bildet den sozialen, politischen und kulturellen Kern der Gestaltungsproblematik, an ihr sind alle Gestaltungstendenzen im gegenwärtigen Architekturschaffen zu messen. Die konkrete Formensprache muss wie jede einzelne ihrer Formen auf diese Eignung hin getestet werden und ihre Palette wird sich anreichern je flexibler die Produktion sein wird und je klarer wir die konkreten Gestaltungsziele erkennen.

3. Bauen ist immer Einwirken auf einen konkreten Ort, der Ort wirkt umgekehrt auf das Bauen. Während die gleich gearteten Gebäude in den Neubaugebieten unter sich sind, und der Ort meist nur durch Geländebewegungen individualisiert ist, strömt in die Besonderheit eines innerstädtischen Standortes eine Menge an kulturellen, sozialen, politischen, ästhetischen und strukturellen Faktoren ein, die in ihrer Zusammensetzung und Ausprägung den Bauplatz derartig besondern, dass auf die lokale Spezifik des Standortes nicht mit einem universellen Standart geantwortet werden kann, auch wenn ihm einige charakterisierende Attribute zugegeben werden.

Vielfalt entwickelt sich aus dem Ort, nicht aus den Ornamenten. Sie entfaltet sich in der Auseinandersetzung mit einer vielschichtigen historisch gewordenen Umwelt (das heißt mit den realen Besonderheiten des Ortes; der nun viel beschworene Geist des Ortes genius loci, ist lediglich eine davon abgehobene ideale Abstraktion), in die der Architekt behutsam, doch auch klar und analytisch eindringen muss, um sie mit der ebenso komplexen Anforderungsstruktur, der Bauaufgabe, ins Verhältnis zu setzen. Aus diesem dialektischen Prozess entwickelt sich Architektur.

4. Unsere Städte sind fast ausnahmslos Produkte jahrhundertelanger Kulturentwicklung, die Geschichte ist in ihren Steinen aufbewahrt. Sie bilden als jedermann zugängliche Träger historischer Werte eine unübertreffliche Gelegenheit, unseren historischen Sinn im täglichen (und im touristischen) Gebrauch zu entwickeln. Es ist richtig und entspricht dem Charakter sozialistischer Erbeaneignung, möglichst viel von dieser Hinterlassenschaft zu bewahren und das Neue in die Traditionslinien der Stadtgeschichte einzuordnen. Doch gerade deshalb ist es wichtig, das zu befördernde Anliegen der Denkmalpflege, also das Erhalten von Sachzeugen der Geschichte und das der Stadtgestaltung, also die Fortführung einer lokalen ästhetischen Kultur, von den historischen Manien verschiedenen Couleurs streng zu unterscheiden und letzteren mit Skepsis zu begegnen. Damit sind solche Gestaltungen gemeint, die historische Formen an Neubauten lediglich dekorativ verwenden, d.h. als formale Anreicherung, ohne dass sie eine Funktion im Sinne der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein hätten. Man sieht da und dort, wie Bögen, Erker, Giebel, Pilaster usw. aus dem Repertoire der Baugeschichte hervorgekramt werden, um damit die Baukörper zu zieren. Die so verkleideten Häuser entwickeln in den wenigsten Fällen ein Verständnis für die Geschichte, ja sie führen sogar, weil die neuen Häuser in den alten Gewändern das tatsächliche historische Gewordensein der Stadt verunklären, zur Klitterung des Geschichtsbildes, von dem man gewohnt ist, dass jede Zeit einen prägenden und originellen Anteil eingebracht hat.

5. Der einfachen Negation der Altbausubstanz in den Entwürfen von Hochhäusern für die Zentren von Mittel- und Kleinstädten und anderen in Opposition zu den gewachsenen Strukturen befindlichen Bauwerken folgt in unserem Städtebau eine zunehmend dialektische Behandlung des Verhältnisses von Altem und Neuen. Die Hauptmethode einfühlsamer Stadtgestaltung ist gegenwärtig die versuchte Anpassung. Der Neubau wird dabei in wichtigen formalen Eigenschaften an seine Umgebung (den Kontext) angeglichen. Bei diesem Verfahren werden einige Attribute der umgebenden Architektur zu gestaltprägenden Eigenschaften erklärt und auch dem Entwurf des Neuen beigegeben. Meist werden auffällige Merkmale nachgestaltet, wie Gebäudefluchten, First- und Traufhöhen, Fensterformen usw.. Das Motiv für diese Entwurfsmethode ist insofern positiv zu bewerten, weil ihr Einfühlung, Respektierung der materiellen und immateriellen Werte und vor allem ein großes Harmoniebedürfnis zugrunde liegt.

In den Zentren der Klein- und Mittelstädte ist diese Angleichung an die bestehende Stadtstruktur, die ein wesentliches Element der Stadtgeschichte darstellt, eine bedeutsame Errungenschaft der Stadtgestaltung. Doch erschöpft sich darin oftmals der gestalterische Drang und der Architekt begnügt sich mit einer äußerlichen Harmonisierung der Stadt. Vor allem in den Großstädten ist diese Harmonisierung zu wenig, sie führt letztlich zur ängstlichen Ausschaltung jeglichen Widerspruchsmomentes und zu einem Gestaltungsergebnis, das eine ästhetisch tote bauliche Hülle darstellt. Das widerspricht nicht nur dem Bedürfnis nach einer vitalen komplexen Stadt, auch nach lebendigem Ausdruck des Gegenwärtigen und dessen dialektischem Getriebe, sondern es widerspricht auch dem Charakter aller historischen Städte, deren Ahnbild diese Methode so sehr gefallen will und das sie gerade deshalb so sehr verfehlt. Die schönen alten Stadtbilder sind nicht dadurch zu wiederholen, dass man schöne Bilder baut, am wenigsten solche, die den alten zum Verwechseln ähneln. Statt Angleichung an das Bestehende muss der dialektische Zusammenhang von Altem und Neuem entwickelt werden, statt Harmonisierung muss die Parole „Dialog“ heißen, Dialog zwischen dem Neuen und dem Alten, dem Teil und dem Ganzen, der Stadt und dem Haus, daneben und dahinter… Dialogfähig ist eine Form, wenn sie zu ihrer Umgebung viele ablesbare Beziehungen unterhält, wenn sie ihr kohärent ist; dialogwürdig ist sie dann, wenn sie nicht in ihr aufgeht, sondern ihr etwas Eigenes entgegensetzt.

6. Manchmal nimmt das Bedürfnis nach einem widerspruchsfreien ästhetischen Nebeneinander, nach dem unmerklichen Einfügen des Entwurfs in seinen Kontext, nach der Verleugnung des Eigenen, Gegenwärtigen solche extremen Formen an, dass alle inneren Widersprüche des Bauwerkes in Kauf genommen werden, um die gewollte „harmonische“ Hülle zu erreichen. Konstruktive und funktionelle Widrigkeiten werden sogar in überspitztem Zustand akzeptiert, wenn sie nur dazu verhelfen, ein Erscheinungsbild aufzubauen, das vom Nachbargebäude entlehnt ist. Auch unter der Voraussetzung, dass Widersprüche dem komplexen Gebilde „Haus“ selbstverständlich innewohnen, sollten wir solchen Vorschlägen misstrauen, die auf die Unvereinbarkeit von außen und innen setzen, z.B. solche, bei denen Stahlkonstruktionen durch Werksteinelemente kaschiert oder Bretter-Holzfachwerke an die Fassade genagelt werden oder wo große Funktionseinheiten das Aussehen von kleinen altstädtischen Bürgerhäusern erhalten sollen.

Solche Imitationen sind zwar (noch) singuläre Erscheinungen, doch repräsentieren sie zugleich Denkmodelle, die in sich die Gefahr der formalen Ästhetisierung unserer Umwelt enthalten. Das Anliegen der Denkmalpflege, besonders der Umgebungsschutz für Denkmale, mit dem manche Architekten und Denkmalpfleger die historisierende Gestaltung begründen, wird durch solche Surrogate nicht unterstützt, eher verhöhnt. Den Umgebungsschutz für die wertvollen Sachzeugen der Geschichte, die vor allem eine kulturformende Wirkung auf unserer Zeitgenossen haben sollen, kann man nicht mit baulichen Draperien verwirklichen, deren Nichtigkeit auch auf dasjenige ausstrahlen wird, zu dessen (Umgebungs-) Schutz sie bestimmt wurden.

7. Einige Architekten, die wie ich den Reiz der gewachsenen Altstädte bewundern, glauben, dass er von den alten Formen ausgeht und versuchen deshalb in der schon beschriebenen Art, auch dort traditionelle Formelemente in die neue Architektur zu übernehmen, wo ihr Assoziationswert nicht benötigt wird. Doch scheint hier ein fundamentaler Irrtum vorzuliegen. Die neuen Bauwerke gewinnen durch historisierende Accessoires keinen Deut an gestalterischer Qualität, wie auch die alten Gebäude ihre Qualität nicht einer bestimmten, in der Baugeschichte ohnehin unbeständigen Formensprache verdanken, sondern etwas viel Allgemeinerem: Einem Verhältnis von Einheit und Vielfalt, von Praktischem und Ästhetischem, von Rationalem und Emotionalem, von Allgemeinem und Einzelnem, von Erhabenem und Gewöhnlichem, von Bekanntem und Unbekanntem, von Sichtbarem und Verschlüsseltem usw., also von dialektischen Oppositionen, wie sie das Leben selbst enthält. Dieses Verhältnis macht den bewunderten Charakter der Altstädte aus, nicht das Vorhandensein von Giebeln, Türmen usw.; dieses Verhältnis gilt es zu wiederholen, nicht aber die Mittel, mit denen es in früherer Zeit realisiert wurde.

Wenn die Vielfältigkeit des Lebens und der Ansprüche an die bauliche Umwelt im Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens von Architektur erhalten bleiben, dann können die sozialen und gegenständlichen Eigenheiten eines konkreten Standortes in die Gestalt der Architektur übergehen. Um das zu erreichen, muss der Architekt in seinem Entwurf die historisch gewordenen Besonderheiten des Ortes, wie die exakte Struktur der gegenwärtigen Bedürfnisse an das Bauwerk erforschen, er muss die subtilen Anlässe für Vielfalt entdecken. Indem er mit Genauigkeit und ästhetischem Empfinden auf die vielfältigen Bedingungen des Entwurfs reagiert (die keineswegs in der Aufgabenstellung vollständig formuliert sein können, er muss sie selbst erfahren), wird er zu einem baulichen Ergebnis kommen, das nicht nur das Bedürfnis nach architektonischer Vielfalt und Differenziertheit befriedigt, sondern auch in der Nutzung ökonomisch ist, weil es die vielfältigen Anforderungen in angemessener Weise erfüllt.

Der Architekt durchformt dabei alle Anforderungen und Faktoren mit seinen gestalterischen Ideen, so dass viele formwirksame Impulse in den zum Bau geformten Stoffe aufgenommen, gespeichert und an die Nutzer weitergegeben werden können. Eine solche Architektur ist wie die überkommene ein Medium des geistigen Verkehrs der Gesellschaft, Ort ihrer Identifikation. Eine solche Architektur ist dem entwickelten Sozialismus gemäß.

8. Eine auf die differenzierte Erfüllung von gegenwärtigen Bedürfnissen der Menschen gerichtete Architektur erfüllt wesentliche Bedingungen, um auch ästhetisch in das Bild der Altstädte zu passen, ohne deren Formelemente zu wiederholen. Diese These stützt sich auf die o.g. Grundeigenschaften der baulichen Form, die im Leben selbst angelegt sind, ohne freilich aus ihnen unmittelbar hervorzugehen. Der Architekt kann eine bestimmte Formkonfiguration erfinden und sollte das auch tun, doch deren Grundeigenschaften findet er schon vor, sie sind in den biologischen und sozialen Bezügen menschlicher Existenz verankert.

Aus der Tatsache, dass im kulturvollen Leben selbst die Eigenschaften vorhanden sind, die wir an unserer baulichen Umwelt so schätzen, können wir schlussfolgern, dass dort, wo die Architektur den Bedingungen und Bedürfnissen dieses Lebens entspricht, sie auch zu dem passt, was uns an den historischen Strukturen der Stadt gefällt und umgekehrt kann man immer dann, wenn das Neue nicht genügend mit dem Alten der gewachsenen Städte harmoniert, eine Diskrepanz des Neubaus mit uns selbst feststellen, mit unserem Leben, mit den Entwicklungsprozessen der sozialistischen Gesellschaft, mit den Reproduktionsbedingungen der Stadt, ihrer Ökonomie, Kultur usw. Eine kontinuierliche Stadtgestaltung ist deshalb am besten dadurch zu sichern, dass das Neue nicht zuerst an die überlieferten Formen, sondern an das gegenwärtige Leben angepasst wird. Aber das heißt nicht einfach „modern“ bauen; das heißt, unsere gegenwärtigen, in die Zukunft gerichteten Bedürfnisse und Anforderungen in der oben beschriebenen lokalen Differenziertheit entwickeln, erkennen und baulich umsetzen und damit der Architektur dasjenige Verhältnis von Einheit und Vielfalt usw. geben, das sie, obwohl möglicherweise in Stahl und Glas gebaut, der historischen Architektur so ähnlich macht. Wenn die Architektur den Maßstab des Menschen hat, hat sie auch den der historischen Städte, in die sie sich einfügen will.

Der Begriff „Maßstab“ bezieht sich aber weniger auf ein Größenverhältnis als auf eine strukturelle Qualität, in der die Verhältnisse von Einheit und Vielfalt usw. enthalten sind. Mit diesen Struktureigenschaften versehen, kann sich moderne Architektur inmitten der alten Städte sehr selbstbewußt entwickeln. Sie erlauben es dem Architekten, seine Ideen und Ausdrucksweisen in ihr unterzubringen, so dass sie ihrerseits dem Publikum gegenüber Prägnanz und Ausstrahlung besitzt. Ihre Ähnlichkeit mit der historischen Architektur gründet sich nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf die gleicherweise intensiven Korrelationen zu den jeweiligen Lebensprozessen, es ist eine Ähnlichkeit im Lebendigen. Anmerkung: Selbstverständlich kann aber das Neue zusätzlich Momente einer lokalen Tradition erhalten.

9. Wenn es darum geht, das Besondere eines Ortes (einer Stadt oder eines Stadtviertels) im Neuen aufzubewahren und fortzusetzen, dürfen wir seine Eigenheiten nicht nur an der Oberfläche suchen. Einen Rundbogen aufnehmen oder florale Motive in der Nähe eines Jugendstilgebäudes wiederholen – das sind formale Adaptionen, die völlig an der Typik des betreffenden Bereiches vorbeizielen können. Der Charakter einer Stadt ist nicht nur in ihren formalen Eigenschaften begründet, sondern vor allem in ihren funktionellen Eigenheiten; selbst wenn wir ihn aber lediglich unter ästhetischem Gesichtspunkt erforschen wollen, so erfordert das mehr als die Beschreibung des Sichtbaren, sie bedarf der Analyse der verschiedenen Gestaltebenen und Bedeutungsschichten, die jeweils mit unterschiedlichem Gewicht und verschiedenem Inhalt auf den Betrachter einwirken. Um die ästhetischen Eigenheiten zu erkennen, muss der betreffende städtische Bereich auf mindestens drei Ebenen untersucht werden:

a) das Charakteristische der formalen Eigenheiten, des äußeren Bildes der Architektur (z.B. die durchschnittliche Größe der Fenster oder die vorherrschende Traufhöhe in einem bestimmten Viertel, eine typische Schmuckform, vorherrschende Farben oder Materialien)
b) das Charakteristische der Formgebungsprinzipien, der „inneren“ Form, der architektonischen Formensprache (z.B. eine dominant axiale Ordnung, ein technologisches Raster, die besondere Bedeutung einzelner Bauelemente, eine freie Komposition, ein tektonisches Prinzip)
c) das Charakteristische der Bedeutung, Aussagen und Assoziationen der Form (z.B. „aufgelockert“, „gedrängt“, „großstädtisch“, „sachlich“, „heiter“, „klassisch“, „gemütlich“)

Nicht jeder Ort hat auf allen diesen Ebenen Charakteristisches aufzuweisen, auch sind die Ebenen relativ unabhängig voneinander; so kommt es z.B. zu dem wichtigen Umstand, dass ein und dieselbe Aussage von verschiedenen formalen Merkmalen getragen werden kann.

10. Die Frage nach Sinn und Zweck muss uns auch bei der Beurteilung historischer Formen im zeitgenössischen Bauen leiten. Die Geschichtlichkeit und die konkrete Vergangenheit des Ortes anschaulich zu vermitteln, ist eine wichtige Aufgabe der Stadtgestaltung, doch dient nicht jede historisierende Gestaltung diesem Ziel. Es lohnt sich deshalb, die verschiedenen Motive für die Anwendung überlieferter Formmerkmale zu untersuchen. Was im Folgenden voneinander getrennt ist, vermischt sich allerdings im realen Architekturschaffen, auch die Mittel sind ähnlich, so dass die unterschiedlichen Haltungen zur historischen Form in ihren Kombinationen nicht als „Ismen“ in Erscheinung treten.

Die wichtigsten dieser Haltungen sind:

  • Kontextdualismus. Sein Hauptmotiv ist die Harmonisierung des Bauwerks innerhalb seiner Umgebung (des Kontextes), das dabei zwangsläufig an das Bestehende angepasst wird. Die Harmonisierung der Form ist Bestandteil jedes Gestaltungsaktes und besonders in der Umgebung von Baudenkmalen unverzichtbar, doch wird sie dort bedenklich, wo sie einziges Gestaltungsmotiv bleibt und der Einheitlichkeit des Erscheinungsbilds wegen, alle anderen Bindungen der Form (besonders zu Funktion und Konstruktion, aber auch zur zeitgenössischen Kultur) geopfert werden. Außerdem steht in Frage, auf welcher Gestaltebene harmonisiert wird. Werden konkrete Formen oder abstrakte Strukturen nachgeahmt?
  • Traditionalismus. Der Traditionalismus hält unabhängig von kontextuellen Beziehungen an der hergebrachten Formensprache fest. Die Form ist weniger Ausdrucksträger, als das Ergebnis vorindustrieller Produktion, die er auch nicht ästhetisch an neue Bedürfnisse anzupassen versucht. Die Formensprache der handwerklichen Produktion wird aus der Zeit entlehnt, als sie die bestimmende Bauproduktionsweise war.
  • Historismus. Der Historismus ist die an sich auf die Vergangenheit zielende Form historisierender Gestaltungsweisen. Sie benutzt alte Formen, um mit ihnen Bedeutungen, Ideen und Werte vergangener Gesellschaften in die Gegenwart zu transformieren. Die historischen Formen sind vor allem Vehikel zur Übertragung ideologischer Gehalte vergangener Kulturen und Subkulturen, deren Inhalt wir ganz unterschiedlich bewerten, doch bleibt jenseits dieser Differenzierung die Frage bestehen, ob die geschichtlichen Aussagen nicht besser auch von den geschichtlichen Elementen der Stadt getragen werden sollten.
  • Nostalgie. Nostalgische Gestaltung verwendet historische Formen in bezug auf das Publikum, dem sie gefallen will. Ihr ist es nicht ernst um historische Wahrheiten, sie zielt auf den schönen Schein einer verklärten Vergangenheit, deren Inhalte und Formen sie willkürlich ausbeutet und dem oberflächlichen Vergangenheitsweh eines unkundigen Publikums anbietet, nicht ohne sie vorher verniedlicht und verkitscht zu haben.
  • Eklektizismus. Das eklektische Verfahren zielt auf vereinfachte, symbolhafte Bedeutungen historischer Formen, deren collagenhafte Montage den gewünschten Ausdruck synthetisieren soll. Das gesamte Inventar der Baugeschichte wird dabei zum Repertoire einer Formensprache gemacht, die – wie die Zinnen und Türme des späten 19. Jahrhunderts – nur Bruchstücke von Aussagen enthält, die durch stilistische Motive zusammengefügt werden. Eklektizismus ist der Versuch, mit Collagen alter Bilder etwas nicht ganz Neues auszudrücken.
  • Historische Zitate. Einzelne, aus dem Zusammenhang herausgelöste historische Motive können nostalgisch oder eklektisch verwendet sein, sie können aber auch Zitate sein, die innerhalb einer intakten Formensprache einen relevanten historischen Bezug herstellen, der einen Funktionswert im Sinne des Begreifens und der Aneignung der Stadt hat. Zitieren kann dort interessant werden, wo durch eine gleichzeitige Verfremdung eine Bewusstseinserweiterung stattfindet oder wo der historische Verweis ironisiert wird.

Die verschiedenen Methoden des Umgangs mit historischen Formen haben für die Funktion der Stadtgestalt einen prinzipiell unterschiedlichen Wert, der durch den konkreten Standort zusätzlich in Frage gestellt und nur konkret beantwortet werden kann. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung muss immer sein, welche Impulse für die praktische und geistige Aneignung der Stadt, ihrer Kultur und Geschichte ausgehen.

11. Alle charakteristischen Merkmale der Form, der Funktion und Konstruktion zusammen verwandeln die sich wiederholenden Anforderungen der Bauaufgabe in einen historisch und regional konkretisierten Typus. Im architektonischen Typus ist das Überlieferte nicht lediglich als Form aufbewahrt – was an Formimpulsen bestehen will, muss sich auch praktisch und technisch bewähren. Deshalb kommt im typologischen Entwerfen eine spezifisch architektonische Haltung zur Tradition zum Ausdruck.
Die architektonischen Typen gehen nicht aus einem technischen Standardisierungsprozess hervor (wie die technischen Standards), sondern aus einem komplexen Bündel von Anforderungen; es sind Kulturprodukte. Alle Städte der Vergangenheit waren aus diesen typologischen Elementen zusammengesetzt, in denen die wesentlichen Faktoren einer Bauaufgabe zu einer relativ beständigen Figur verdichtet waren, doch zugleich waren sie anpassungsfähig, wenn die Notwendigkeit bestand, zusätzliche Anforderungen zu erfüllen.

Eine gewisse Variationsbreite der Lösungen gehört zum Wesen des architektonischen Typus, der dadurch, dass er dasjenige Verhältnis von Konstantem und Veränderlichem, von Einheit und Vielfalt, das im Leben der Menschen vorherrscht, in seinen eigenen Verhältnissen wiederholt, eine sehr ökonomische Lösung darstellt – auch im ästhetischen Sinne ökonomisch, denn er bietet den Sinnen diejenigen Informationen, die uns helfen, das Gesehene in das System unserer Erfahrung einzuordnen und zugleich erweitert er diese Erfahrung; er bietet Bekanntes und Überraschendes, so dass einerseits die gewohnten Merkmale (das sind aber nicht die nostalgischen Formattribute) dabei helfen können, sich in der Stadt zu orientieren, indem sie durch Erfahrungen stabilisierte Aussagen vermitteln und zugleich enthalten sie Innovationen, die uns neugierig machen und Reize, die unser ästhetisches Empfinden berühren. Solche Art Typen sind nicht langweilig.

Der Architekt projiziert bei diesem Verfahren typologische Erfahrungsmodelle (aber keine starren Klischees) auf die technischen Realisierungsbedingungen und die konkrete soziale, politische, kulturelle, geographische, ästhetische Situation. Die Rückführung der konkreten Anforderungen auf (sich wandelnde) typologische Modelle bietet sowohl eine Gewähr für die Einheit der verschiedenen Komponenten, Teile und Funktionen der Architektur als auch für die ästhetische Einheit der Stadt, die immer aus dieser Art Typen bestand und diese Art Typen zu ihrer Reproduktion weiterhin braucht.

12. Wie ist die lebendige, auf den Ort und auf die konkreten Bedürfnisse bezogene Vielfalt im Gegensatz zur toten, aufgesetzten (mitunter historisierenden) Ornamentik praktisch zu verwirklichen? Die Frage zielt auf die Entwicklungstendenz des Bausystems und auf den Charakter des innerstädtischen Erzeugnisses. Die Antwort darauf ist klar: Es muss durch und durch flexibel werden, so dass es dem spezifischen typologischen Wesen der Architektur entspricht. Der Weg zu diesem Ziel wird kein Weg zurück sein, wie manche befürchten, sondern ein Weg nach vorn, zu einer neuen Qualität des Hervorbringens von Architektur, zu einer neuen Qualität industrieller Bauweisen, deren Ergebnisse allerdings mit den Ergebnissen vorindustrieller Produktion einige strukturelle Gemeinsamkeiten haben werden, die dafür sorgen, dass sie in dem oben zitierten Sinne nicht nur unseren Bedürfnissen entsprechen, sondern auch ins Bild der historischen Städte passen werden.

Die Baupraxis wird auf dem Wege zu diesem Ziel verschiedene Verfahren entwickeln, sie zu beschreiben, kann nicht Aufgabe dieses Artikels sein. Ich möchte aber drei wichtige Tendenzen nennen, die die praktische Entwurfstätigkeit zur Erfüllung unseres Wohnungsbauprogramms vielleicht nur zu tangieren scheinen, doch prognostisch immer größeres Gewicht erhalten werden – eine Entwicklung, auf die wir uns einstellen und die wir forcieren sollten. Es sind sich ergänzende, nicht miteinander konkurrierende Verfahren zur Flexibilisierung des Bauens im Sinne des architektonischen Typus.

Flexible Vorfertigung. Die flexible Produktion, wie sie sich in anderen Industriezweigen durch den Einsatz von Mikroprozessoren, von Computern/Robotern und CAD/CAM-Systemen erfolgreich entwickelt, wird sich auch im Bauwesen durchsetzen. Wie schon heute Werkzeugmaschinen den spezifischen Kundenwünschen angepasst werden, ist auch eine weitgehend „maßgeschneiderte“ Bauproduktion mit variabel kombinierbaren, kleineren Planungsbausteinen möglich.

Partnerschaft mit dem Nutzer. Die Aufgabe des Architekten wird es zunehmend sein, in Partnerschaft mit den Nutzern einen Raum und Ort den veränderten Bedingungen und Bedürfnissen anzupassen. Planung, Entwurf und Gestaltung der baulichen Umwelt, d.h. der gesamte Prozess des gesellschaftlichen Hervorbringens von Architektur werden zunehmend komplexen Charakter annehmen. Im Wohnungsbau können die Nutzer neben konzeptioneller Kooperation auch praktische Baubedürfnisse befriedigen. Durch die Lenkung von Baugestaltungsbedürfnissen (wie sie z.B. auch auf Wochenendgrundstücken zum Ausdruck kommen) in die Wohngebiete und innerstädtischen Wohnbereiche können nicht nur die zunehmende Freizeitproduktivität für die Stadt nutzbar gemacht, sondern ihr auch wichtige Impulse zugeführt werden – bei gleichzeitiger kultureller Qualifizierung dieser Impulse.

Mischsysteme. Die verschiedenen technologischen Systeme, Entwurfs- und Produktionsmethoden werden sich zunehmend vermischen, sind miteinander kombinierbar und ergänzen sich. Vorfertigungssysteme und Monolithbauweisen, detaillierte Projektierung und spontaner Entwurf vor Ort, handwerkliche und automatisierte Produktion usw. markieren die Spannbreiten des Baugeschehens. Für das Bauen ist charakteristisch, dass verschiedene technologische Niveaus (also auch in Zukunft handwerkliches Bauen) bei Dominanz des fortgeschrittensten technologischen Niveaus koexistieren. Ihre Anwendung folgt den Bedingungen des Ortes.

Alle drei Verfahren erfordern und befördern eine neue Qualität des gesellschaftlichen Hervorbringens von Architektur. Sie stellen an das Niveau der gesamtstädtischen Reproduktionsprozesse, der geistig-kulturellen und organisatorischen Vorbereitung und Durchführung des innerstädtischen Bauens hohe Anforderungen. Die Flexibilisierung der Produktion, vor allem aber die zunehmende Komplexität aller die Stadt und ihre Architektur betreffenden Entscheidungsprozesse erfordern sowohl den wissenschaftlichen EDV-Einsatz auf den unterschiedlichsten Ebenen als auch die weitere Entwicklung der sozialistischen Demokratie, um möglichst viele Impulse in eine lebendige Architektur einfließen zu lassen, die der historischen Architektur der Altstädte und zugleich dem Leben im entwickelten Sozialismus adäquat ist. In der Entwicklung zum flexiblen Typus löst sich das Paradoxon: Das Bauen in historischer Umgebung, das innerstädtische Bauen, braucht die Entwicklung zum Neuen, braucht den Fortschritt.

12 Thesen zum innerstädtischen Bauen.
in: Architektur der DDR. – Berlin 34 (1985) 8, – S. 493-497.

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