Altes und Neues – sieben Beispiele zur Marktbebauung in Weimar (1985)

Anhand eines Architekturwettbewerbes zur Marktnordseite in Weimar werden sieben mögliche Umgangsweisen mit dem „Alten“ im Neubau diskutiert. Neben Studierenden und gestandenen Architekten der DDR nahm auch Frank Stella, der künftige Architekt des Berliner Stadtschloß-Neubaues, am Wettbewerb teil.

Olaf Weber
Altes und Neues – Sieben Beispiele zur Marktbebauung in Weimar

Durch das in den nächsten Jahren weiter zunehmende Bauen in den Innenstädten sind zusätzliche Anlässe gegeben, die gestalterische Qualität unserer Architektur aufs Neue zu überprüfen. Das innerstädtische Bauen ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es inmitten einer baulichen Umwelt stattfindet, die schon mit der Kultur von Jahrhunderten angereichert ist und das große Repertoire der in dieser Zeit entwickelten Formelemente enthält. Die alten Stadtteile werden, je mehr ihre Bausubstanz instand gesetzt wird, als schön, interessant, anregend und poesievoll empfunden und das Neue, das die Lücken ausfüllen soll, wird an dieser Qualität gemessen. Es soll mit dem Alten sowohl das allgemeine Niveau teilen als auch die Besonderheiten des Ortes fortsetzen – d.h. die der Stadt, des Viertels usw. Das Neue muss in ein dialogartiges Verhältnis zu seiner Umgebung treten, damit sich jener Beziehungsreichtum herstellt, den die Nutzer im Ort ihrer Lebenstätigkeit erwarten.

Der Hauptwiderspruch besteht beim innerstädtischen Bauen im Verhältnis von Altem und Neuem. Sieben der häufigsten architektonischen Verfahren, den immer währenden Konflikt von Neuem und Altem auszutragen und zu einem Gestaltungsergebnis zu führen, sollen mit folgenden Begriffen umschrieben werden: Angleichen, Kontrastieren, Kompromiss, Zitieren, Kaschieren, Zusammenführen, Übersetzen und Umkehren. In den Entwürfen eines internationalen Entwurfseminars, das kürzlich in Weimar stattfand und eines internen Wettbewerbs der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar für die Bebauung der Marktnordseite in Weimar wurden wesentliche Momente der o. g. Konzepte vertreten. Einige besonders charakteristische Ergebnisse werden nachfolgend als exemplarische Fälle für diese Methoden kommentiert, allerdings nicht in Würdigung all ihrer Qualitäten, sondern lediglich unter dem Aspekt des in der Form ausgetragenen Widerspruchs von Altem und Neuem.

Fall 1: Angleichen. Das Quartier wird in weitgehender Anlehnung an den historischen Zustand bzw. an das Erscheinungsbild der umgebenden Architektur dieser angeglichen. Drei prägende Gebäude werden am Markt originalgetreu wiederaufgebaut (Kopie), die anderen werden mit leichten Verfremdungen (vor allem an den Gauben) der Formensprache des historischen Stadtzentrums nachempfunden. Das gestalterische Hauptmotiv ist die Anpassung. Dieses Verfahren, das die harmonische Einpassung des Neubaues in den architektonischen Kontext bis in eine hohe Detaillierungsebene anstrebt, ist geeignet, unauffällige und bescheidene Lösungen hervorzubringen, die vor allem in der Nähe besonders wertvoller und geschützter Gebäude gefragt sind. Es wird deshalb besonders in Denkmalschutzgebieten angewandt. Außerhalb dieses Sinnbezuges und frei von anderen Gestaltungsimpulsen tendiert diese Methode zur Schaffung lebloser Hüllen; den ästhetischen Reiz des Widerspruchs verachtend, entsteht Architektur, die für die vitale Stadtentwicklung aller Zeiten untypisch war. Dann besteht die Gefahr, dass zwar historische Fassaden entstehen, doch dieselben kein historisches Bewusstsein vermitteln. Der Grundwiderspruch Alt-Neu wird in die Geschichte rückversetzt.

Fall 2: Kontrast. Das Quartier erhält den Ausdruck des industriellen Bauens, wie er sich nach der Entwicklung der Vorfertigung und Montage der Bauhauptstruktur herausgebildet, doch noch nicht die Ausdrucksfähigkeit einer wirklich flexiblen, modernen Produktion erlangt hat. Der Baukörper wird gegliedert und strukturiert, doch die so entstandene Komposition hat nur wenig Bezüge zum Standort. Sie wirkt in vielem zur Umgebung gegensätzlich, der vorherrschende Eindruck ist der Kontrast. Der Grundwiderspruch von Altem und Neuem wird in dem unvermittelten Verhältnis von Neubau und der diesen umgebenden Altbebauung aufbewahrt.

Fall 3: Kompromiss. Der industrielle Plattenbau wird mit vielen Sonderelementen angereichert, die eine formale Angleichung an das historische Stadtbild bewirken sollen. Ziergiebel, Gauben usw. werden vorgefertigt und montiert, um zugleich den gegenwärtigen technologischen Prozessen als auch dem historischen Erscheinungsbild gerecht zu werden. Das Prinzip heißt Kompromiss, wobei natürlich das Pendel des Ausgleichs in diese oder jene Richtung stärker ausschlagen kann. In Frage steht dabei, wie potent dieser Kompromiss wirklich ist, d. h. ob die Verbeugung der Technik vor der Geschichte tatsächlich ästhetisch befriedigt und Geschichtsbewusstsein fördert und inwiefern die Vorfertigungstechnologie (der Sonderelemente) noch ökonomisch ist. Die Differenziertheit handwerklicher Produktion und deren typologischer Elemente ist in den Formwagen der Plattenwerke nur eingeschränkt nachvollziehbar, so dass die Poesie, kommt sie aus der Geschichte, immer nur vergrößert erscheinen kann. Die Elemente des Grundwiderspruchs sind synthetisiert, Altes und Neues haben ihre Eigenständigkeit aufgegeben. In der Mitte ist der erthalten gebliebene Renaissance-Erker der ehemaligen Hofapotheke wieder an die (montierte) Fassade angebracht worden – als historisches Zitat.

Fall 4: Kaschieren. Das äußere Erscheinungsbild wurde der altstädtischen Überlieferung nachgebildet (wie bei Fall 1). Schmale Einzelhäuser mit traditioneller Gliederung, mit Versetzungen der Trauflinien und vielen Gauben bestimmen das Bild. Doch das Quartier ist in seinem inneren Aufbau ein hochkomplexes Ganzes, das alle Grenzen der Einzelhäuser überschreitet; sie sind durch eine mehrgeschossige Überbauung des ehemaligen Quartierhofes zu einem multifunktionalen „Volkshaus“ zusammengeschmolzen. Von seiner Nutzung her ist es fast nur ein einziges Gebäude, von seiner Erscheinung aber ist es ein normales Altstadtquartier mit fast 20 Einzelhäusern. Die neuen Funktionen haben ein altes Kleid angezogen, der Hauptwiderspruch Alt-Neu ist in den von Außen und Innen bzw. von Form und Funktion verwandelt worden. Solche Lösungen bedienen viele Anforderungen, aber jede für sich; die Logik der Architektur, ihre Einheit, droht dabei aufgelöst zu werden.

Fall 5: Zusammenführen. Der wertvollste Teil der zerstörten Quartierbebauung wird historisch wieder aufgebaut (3 bis 4 Gebäude); er wird aber konfrontiert mit einer neuen Struktur, deren Grundraster um 45 Grad abgewinkelt wurde und damit fast aggressiv auf die überlieferte Architektur reagiert. Zwischen den historischen Kopien und dem sich zur modernen Formensprache bekennenden Neuen vermittelt ein Zwischenbereich, der Formmerkmale beider Teile enthält. Das Grundprinzip ist hier, den konstitutiven Widerspruch zwischen Altem und Neuem im Quartier selbst auszudrücken. Der Widerspruch wird akzeptiert und zum ästhetischen Gestaltungsmotiv erhoben, in seiner Darstellung verkörpert sich die Prozesshaftigkeit der Stadt. In Frage steht, ob diese Grundrissgeometrie tatsächlich als ästhetisches Mittel für das Erleben dieser Geschichtlichkeit wirksam wird.

Fall 6: Übersetzen. Hier wird der Versuch unternommen, eine aus modernen Materialien und Techniken entwickelte Formensprache, die aber die Differenziertheit historischer Strukturen besitzt und darin der altstädtischen Architektur gleicht, für die Neubebauung innerstädtischer Bereiche anzuwenden. Das Typische der Altstädte wird nicht in den Formen der Erker, Fenster, Dächer oder Säulen gesucht, sondern in einem typischen Verhältnis von Einheit und Vielfalt, von Maßstäblichkeit. Der Widerspruch Alt-Neu ist von der Oberfläche in die Tiefe, in inhaltliche Strukturen transformiert. Es ist der Versuch, die Geschichte der Stadt mit Mitteln fortzuschreiben, die nicht der Geschichte angehören, sie aber in gewisser Weise assoziieren. Die differenzierte Formensprache muss aber mit wirklichen, mit praktischen, sozialen, geographischen, lokalen Anlässen für Vielfalt untersetzt werden; so wird verhindert, dass die interessanten und phantasievollen Formen nur erfunden, nur aufgesetzt sind.

Fall 7: Umkehren. Das Entwurfsziel ist nicht die Rekonstruktion oder Neubebauung eines zerstörten Quartiers, sondern die Besetzung eines Ortes mit einem Identifikations-Symbol. Das Bauwerk ist weniger eine Reaktion auf den architektonischen Kontext als vielmehr dessen Aufhebung. Der Raum tritt zugunsten des Baukörpers zurück, der Entwurf bezieht sich nicht mehr auf das Quartier, sondern auf das Gebäude, das mehr Neubeginn als Fortsetzung der Stadtgeschichte demonstriert, obwohl es aus typologischen Fragmenten der Architekturentwicklung zusammengesetzt ist. Es sind außerordentlich selbstbewußte Entwürfe, in denen Widersprüche zur historischen Umgebung nicht nur ausgehalten, sondern geradezu provoziert werden. Das Verhältnis von Altem und Neuem hat sich umgekehrt: Das Alte ist zur Staffage für den Neubau geworden, dessen Anspruch und Bedeutsamkeit aus einer komplexen Funktion – dem „Volkshaus“ – erwächst. Die Formensprache des einen Entwurfes bildet durch die klassische Strenge des symmetrischen Baukörpers und die Säulenordnung, die des anderen Entwurfes durch ihre futuristischen Elemente ein zusätzliches Kontrastmoment.

Die gezeigten Lösungen sind keine endgültigen Vorschläge für die Marktbebauung in Weimar, sie interessieren hier nur als Belege für verschiedene Verfahren. Die richtige Lösung für die Marktnordseite ist selbstverständlich aus dem Faktor „Alt-Neu“ allein nicht abzuleiten, zudem besteht dort eine besondere baugeschichtliche Schutzsituation. Insofern ist das Beispiel nicht auf andere Standorte übertragbar, aber die verschiedenen Methoden der Behandlung des Hauptwiderspruchs im innerstädtischen Bauen, dem von Altem und Neuem, wiederholen sich. Es ist wichtig, ihre Vor- und Nachteile zu kennen und sie dem konkreten Ort anzupassen.

Autoren der Entwürfe: 1) Heinz Schwarzbach, Horst Burggraf, Werner Bauer; Technische Universität Dresden / 2) Reinhold Fiedler, Reinhold Krämer, K. Mustow; Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar / 3) Joachim Stahr, Gawril Filipow, Birgit Zimmermann; Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar / 4), Ulrich Hugh, Johanna Selengk, Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar/ 5) Dieter Salzmann, Hannes Hubrich, Walter Böhm, Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar/ 6) Bernd Rudolph, Jürgen Villmow, Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar/ 7) Franko Stella (A), Angelo Villa (B), Hochschule für Architektur Venedig

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