Die milieuprägenden Elemente von Architektur und angewandter Kunst (1984)

Olaf Weber, Vortrag am 7.11.84, auf dem Seminar „Komplexe Stadtgestaltung in den 90er Jahren – Milieu und Stadtbild“
Die milieuprägenden Elemente von Architektur und angewandter Kunst

Liebe Kolleginnen, verehrte Kollegen!
Sie haben nun durch meine Vorgänger gestern und heute schon eine ganze Reihe von Fotos und Dia-Beispielen gesehen und sicherlich einiges aus dem Kopf dazugetan. Wahrscheinlich haben Sie die Besseren hier gesehen und die Schlechteren mußten Sie aus dem Kopf dazu tun. Ich will jetzt, einmal davon abgehoben, einige problematische Dinge hervorheben über den Stand des innerstädtischen Bauens.

Es hat sich ja nun herumgesprochen, daß man in den Innenstädten anders bauen muß als draußen, doch warum eigentlich, und worin sollte dieses andere bestehen? Das ist eigentlich der gedankliche Kern meines Vortrags.

Zur Zeit sieht das doch so aus: Ein technologisches System, das als universelles und damit bezüglich des Standorts abstraktes Verfahren entwickelt wurde, wird in seinen Grundstrukturen beibehalten, für innerstädtische Standorte aber mit Zusätzen versehen, die vor allem eine optische äußerliche Angleichung an das vorhandene Erscheinungsbild bewirken sollen. Solches Bemühen ist natürlich besser als keines, aber noch weit von unserem Ziel entfernt, dem Wesen des Urbanen entsprechend wieder Unverwechselbarkeit, Wohlfühlen, Heimat, Identifikation usw. zu produzieren.

Wir sollten diese Veranstaltung hier, finde ich, dazu nutzen, um mehr Problemsicht der Wirklichkeit gegenüber zu entwickeln und stärker auf eine solche Zukunft schauen und von dort her unseren Pragmatismus des Möglichen, auf den wir angewiesen sind, ausrichten.
Ich will der Fülle der Aufgaben wegen, die zwischen uns und dieser Perspektive noch liegen, einige Gedanken nur thesenhaft verkürzen. Acht Thesen werden das sein.

1) Grundthese ist : Das Neue paßt nicht genügend zum Alten der gewachsenen Städte, weil es nicht genügend zu uns, also zum Humanismus der sozialistischen Gesellschaft, zu den Entfaltungsbedürfnissen menschlicher Persönlichkeit, zur Ökonomie der Stadt usw., eben zu uns paßt. Ich will damit behaupten, daß eine Architektur, wenn sie zu uns paßt – und das müßte man natürlich genauer untersuchen, was das heißt, zu uns paassend -, wenn sie zu uns paßt, dann paßt sie auch zu den historischen Strukturen der Stadt. Daraus ließe sich schlußfolgern, daß wir, um eine kontinuierliche Stadtplanung zu sichern, das Bauen vor allem an unseren gegenwärtigen, in die Zukunft gerichteten Bedürfnissen ausrichten müssen; aber wir müssen natürlich diese Bedürfnisse nicht so nehmen, wie sie sich uns gegenwärtig darstellen, wir müssen ihre Struktur und ihre Differenziertheit gesellschaftlich stärker entwickeln und besser erkennen, und wir brauchen Bausysteme und -verfahren, die in der Lage sind, auf diese differenzierten Anforderungsstrukturen auch differenziert zu reagieren. Zur Zeit sind diese Bedingungen unzureichend erfüllt. Es fehlen vor allem neben modernen monolithischen Technologien flexible Organisationsstrukturen, die differenzierte Lösungen auch ökonomisch vertretbar werden lassen. In diesem Zusammenhang rechne ich übrigens mit der künftigen Hilfe von elektronischen Datenverarbeitungssystemen.

Die eingangs genannte Grundthese stützt sich mit der Behauptung, eine den gegenwärtigen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen adäquate Architektur würde die wesentlichen Bedingungen erfüllen, um auch ästhetisch in das Bild der Altstädte zu passen, auf das Vorhandensein gewisser Konstanten im Verhältnis von Einheit und Vielfalt, von Festem und Variablem , von Altem und Neuem , Bekanntem und Unbekanntem in allen intakten Kulturen der Vergangenheit.

Das, was wir an der handwerklich produzierten Architektur so bewundern, ist vor allem das intakte Verhältnis von Einheit und Vielfalt und dergleichen, wie ich es gerade nannte, auf dieses Verhältnis kommt es an, seine konkrete Ausprägung kann sehr verschieden sein. Dieses Verhältnis macht den von uns bewunderten Charakter der Altstädte aus, nicht das Vorhandensein von Türmen und Giebeln. Dieses Verhältnis von Einheit und Vielfalt gilt es zu wiederholen, nicht aber die Mittel , mit denen es in früherer Zeit realisiert wurde. Wir müssen also die Fähigkeit entwickeln, auf differenzierte Anforderungen baulich zu antworten. Das ist das Grundproblem.

Zur Zeit kann man aber allerorts die Tendenz beobachten, historische Elemente wiederzubeleben, Bögen, Erker, Pilaster usw. aus dem Reservoir der Baugeschichte hervorzukramen. Das sind meist sehr oberflächliche Versuche, Vielfalt erscheinen zu lassen, wo es nicht gelungen ist, die gegenwärtigen Anlässe für Vielfalt, die zugegebener Weise nicht sehr umfangreich sind, zu entwickeln und baulich umzusetzen. Mit dem Aufgreifen historischer Elemente erfaßt man aber nicht das Wesen der Altstädte, höchstens einen Zipfel seiner äußeren Erscheinung. Die Diskrepanz zwischen Alt- und Neubebauung ist auf diese Weise nicht zu überbrücken.

2) Die Hauptmethode einfühlsamer Stadtplanung ist gegenwärtig die Anpassung. Das heißt, der Neubau wird an bestimmte Formeigenschaften seiner Umgebung, des Kontextes, angeglichen. Bei einem solchen Verfahren, Kontextualismus genannt, werden einige Attribute der umgebenden Architektur zu gestaltprägenden Eigenschaften erklärt und auch dem Entwurf des Neuen beigegeben. Meistens sind es Gebäudefluchten, First- und Traufhöhen, Fassadengliederungen, Dach- oder Fensterformen, die nachgestaltet werden. Ich kritisiere diese Methode nur, wenn sich darin die Gestaltungsabsicht erschöpft, wenn das Harmonisierungsbedürfnis alle anderen Gestaltungsmotive überdeckt, vor allem den Willen zum Ausdruck und zur Sprachfähigkeit der Architektur.
Das Ziel des Kontextualismus ist eine äußerliche Harmonisierung der Stadt, eine Ausschaltung des Widerspruchsmoments, letztlich eine ästhetisch tote bauliche Hülle . Das widerspricht nicht nur dem Bedürfnis nach einer lebendigen Stadt, auch nach lebendigem Ausdruck des Gegenwärtigen, sondern es widerspricht auch dem Charakter aller historischen Städte, denen diese Methode so sehr gefallen will und sie gerade deshalb so sehr verfehlt. Statt Angleichung muß die Parole Dialog heißen, Dialog zwischen den verschiedenen Elementen der gegenständlichen Umwelt.

3) Die Verwendung historischer Formen ist dort legitim, wo diese Formen einen Funktionswert im Sinne des Begreifens und der Aneignung der Stadt haben. Die Geschichtlichkeit der Stadt erlebbar zu machen, ist eine wesentliche Aufgabe der Stadtplanung. Doch dienen historische Formen an neuen Gebäuden sehr oft nicht der Ausformung, sondern der Verfälschung des Geschichtsbildes. Ein falscher Historismus macht sich breit, teils aus relativ harmlosem Harmonisierungsbestreben im Sinne des Kontextualismus erwachsend, teils aus nostalgischer Vergangenheitssehnsucht hervorgegangen, wobei die guten Argumente der Denkmalpflege schamlos mißbraucht werden.

4) Bauen ist immer Einwirken auf einen konkreten Ort, der Ort wirkt umgekehrt auf das Bauen. Diese Bezogenheit des Bauens auf eine konkrete räumliche Individualität ist der Architektur wesenseigen und unterscheidet sie von anderen Produktionsbereichen, etwa der Konsumgüterproduktion. Der Industrialisierungsprozeß hat diese Spezifik des Bauwesens bisher nicht oder nur unzureichend erfaßt. Wir haben Häuser standardisiert wie Staubsauger oder Rasierapparate, nun wird versucht, das Gesicht der standardisierten Gebäude durch eine dünne Kruste von Verschönerungsmitteln zu beleben. Damit wird aber der Besonderheit des Ortes nur eine sehr oberflächliche Referenz erwiesen, meist gar keine. Die natürlichen, praktischen, strukturellen Anlässe für die Spezifik des Ortes, die vielmals kulturell überformt sind und sich bei hinreichend starker Ausprägung im genius loci, im Geist des Ortes manifestieren, diese vielfältigen und damit Vielfalt produzierenden Faktoren kommen nicht zur Wirkung, nicht zur Erscheinung und – das ist die gängige Praxis – werden durch dekorativen, aufgesetzten Plüsch ersetzt.

5) Das Spezifische eines Ortes, einer Stadt oder eines Viertels kommt auf verschiedenen Wegen zur sinnlichen Wirkung. Auf diesen Prozeß kann ich hier nicht näher eingehen. Er ist auch noch wenig erforscht. Offensichtlich gibt es aber verschiedene Gestaltebenen und verschiedene Bedeutungsschichten in der Architektur. Wenn die Aufgabe besteht, einen spezifischen Gestaltausdruck zu reproduzieren, so muß gefragt werden, auf welcher Gestaltebene diese wesentlichen Ausdruckskomponenten liegen. Die augenscheinlichsten Formen sind nicht immer die wirksamsten. Einen Rundbogen aufzunehmen oder einen Typranon in der Nähe klassizistischer Gebäude zu wiederholen, kann völlig an der Absicht der historischen Adaption vorbeigehen, die Fragwürdigkeit einer solchen Absicht (siehe oben) des Kontextualismus eingeschlossen. Denn oftmals sind es nicht einzelne Formen, an denen ein Stil abzulesen ist oder ein Charakter, sondern bestimmte Haltungen, die schwer zu beschreiben sind. Ein subtiles Verhältnis vieler Gestalteigenschaften bestimmt den Ausdruck eines Gebäudes. Wenn eine Gestalteigenschaft aus dem Zusammenhang herausgelöst und reproduziert wird, stellt sie oft nichts anderes dar als ein grobes Symbol eines historischen Zustandes. Man muß schon fragen, welchen Sinn das hat. Ich sehe auch keinen Sinn darin, Formenelemente, die aus der handwerklichen Produktion hervorgegangen sind, in vereinfachter Form vorzufertigen und zu montieren.

6) Die Frage stellt sich immer deutlicher: Was ist erhaltenswert, was sollte übernommen werden? Ich meine, diese Frage im Sinne der Stadtgestaltung, nicht der Denkmalpflege, wo sie relativ eindeutig zu beantworten ist. Sie müßte genauer heißen: Was ist an den Eigenschaften einer Stadt wert, weiterentwickelt zu werden, was bestimmt die Kontinuität der Entwicklungslinien? Die Antwort muß für jede Stadt natürlich konkret und begründet erfolgen. Im allgemeinen kann man aber sagen, daß es auf verschiedenen Ebenen der Gestalt stattfindet.
Die erste Ebene ist die der einzelnen Formelemente, sozusagen das unmittelbare äußerliche Bild, die äußerliche Form des Gebäudes.
Die zweite Ebene sind Formgebungsprinzipien und Strukturen, in der Ästhetik wird von der inneren Form gesprochen. Also oftmals ist das viel wichtiger für das Charakteristische von so einer Stadt, nicht einzelne Formelemente, sondern solche Prinzipien , die dahinter stecken.
Drittens sind es Aussagen, Assoziationen, Stimmungen, also eigentlich der Inhalt der Formen, und oftmals ist das auch wichtiger als die Form selbst, und diese Stimmungen, diesen Inhalt, diese Assoziationen kann man auch mit ganz anderen Formen produzieren. Architekten müssen nicht nur Formen in einer Komposition zueinander bringen, sondern eben solche Assoziationen komponieren. Das ist eigentlich noch viel wichtiger.
Viertens der Charakter oder das Typische einer Stadt oder eines Viertels oder eines Gebäudes usw. als Mischung von Form- und Ausdruckskomponenten und
Fünftens der Typus schließlich, der sich in der Architektur noch vom Typischen unterscheidet – ich werde gleich noch einmal darauf zurückkommen – als komplexe Invariante der Architektur.
Auf jede dieser Gestaltungskomponente muß versucht werden zu antworten, was ist erhaltenswert, was ist wert, weitergeführt zu werden und was nicht. Und nicht zu wiederholen und nicht weiterzuführen ist eigentlich das Milieu. Das gehört eigentlich nicht dazu. Unter Milieu verstehen wir in der Architekturtheorie den gesamten urbanistischen Organismus, der neben den baulichen Erscheinungen und damit ihrer Funktion, Struktur, ihrer Bedeutung, ihren Aussagen usw. den Zustand dieser Architektur umfaßt und die sozial-kulturelle Struktur ihrer Bewohner.
Aber weder ein schlechter Bauzustand noch eine Segregation der Bewohnerschaft nach Bildunsgrad, Alter, sozialer Herkunft usw. ist würdig, erhalten zu bleiben. Wir wissen, daß Bauzustand und Zuschnitt der Bewohner sich wechselseitig bedingen. Das Milieu ist deshalb eine soziologische Kategorie. Professor Staufenbiel wird gewiß noch näher darauf eingehen.
Ich will aber auf die Frage, was erhaltenswert ist zurückkommen, bzw. was der Ausgangspunkt weiterer Entwicklung sein könnte. Das ist das Typische der Stadt, des Bereichs, der Zeit, der Aufgabe usw. Das Typische in der Architektur ist aber nicht in einer bestimmten Form zu suchen, sondern in der Art, wie bestimmte Bauaufgaben in bestimmten Regionen und Zeiten, das heißt unter bestimmten kulturellen, geographischen und klimatischen Bedingungen gelöst werden. Diese generelle Lösung bildet den Typus, der eine Variationsbreite möglicher Lösungen enthält .Er beinhaltet natürlich eine Gestalt, doch manifestiert sich in der Gestalt neben ästhetischem Wollen die Typik der Aufgabe, der Lebensweise, der regionalen Baumaterialien usw. Der architektonische Typus ist eine Invariante aller Klassen von Faktoren. Es ist falsch, eine typologische Form nur ästhetisch zu verwenden, mit einer ganz anderen Funktion zu versehen oder in einem ganz anderen Material auszuführen. Wandlungen einer der Faktoren hält der Typus nur bis zu einem bestimmten Grade aus, darüber hinausgehend muß sich ein neuer Typus herausbilden, der die verschiedenen Faktoren auf eine neue Weise harmonisiert. Zur Zeit aber, so scheint es mir, wird aber oft nicht typologisch harmonisiert, sondern äußerlich. Die Einheit von innen und außen, davor und dahinter, Konstruktion und Form usw. droht verloren zu gehen. Ich sage das, ohne einer neuen Lehre von „konstruktiver Ehrlichkeit“ das Wort zu reden; denn die typologische Einheit der Architektur ist immer widerspruchsvoller Natur. Die konstruktive Ehrlichkeit – streng verfochten – würde zu städtebaulichen und ästhetischen Defekten führen, wie umgekehrt überzogene ästhetische Forderungen des Kontextualismus oder anderer ästhetischer Doktrinen eine Architektur zur Folge hätte, die an ihren inneren Widersprüchen zu Grunde ginge.
Architekten sind vor allem für die Qualität ihres Gegenstandes verantwortlich, für Architektur, das heißt für den organischen Zusammenhang ihrer unterschiedlichen, sich widersprechenden Momente. Und da sehe ich doch im Augenblick eine ganze Menge an Widersprüchen auf uns zukommen. Professor Graffunder hat gestern gesagt, daß die Alternative zum Ingenieurbau oder zum reinen Zweckbau doch die Ornamentik und der Schmuck der Gebäude ist. Ich bin gerade dieser Auffassung nicht, sondern ich sehe die Alternative zum reinen Zweckbau, der natürlich nicht erstrebenswert ist – wir anerkennen ja alle die kulturelle und ästhetische Funktion der Architektur -, eben in dieser typologischen Methode des Entwurfs, das heißt, wo eine Gestalteinheit gesucht wird aus dem Zusammenhang von Form und Funktion, daß diese Einheit zur Gestaltung führt, die teils aus der Geschichte natürlich hervorgegangen ist, teils durch neue Bedingungen neu produziert, relativ langlebig sind und durch diese Langlebigkeit natürlich auch im Laufe der Zeit bestimmte Assoziationen, Inhalte an sich binden, die sich inhaltlich aufladen, und wenn das so ist, dann kann der Architekt auch damit manipulieren, kann damit umgehen, gestalten. Er kann mit diesen bedeutungstragenden Formen architektonische Aussagen formulieren. Das ist eigentlich die Aufgabe, die ästhetische Aufgaben der Architektur und nicht so sehr die äußerliche Dekoration der Hülle. Das ist ein funktionelles Problem, was dahinter steckt, also die Funktion der Form zu begreifen, und dabei will ich gar nicht einmal prinzipiell gegen Ornamente sein, nur wir müssen uns einmal überlegen, weshalb denn die Beispiele, die wir kennen, uns nicht so sehr befriedigen. Das muß doch irgendwelche Ursachen haben. Mich befriedigen sie nicht, diese ornamentalen Beispiele. Ich glaube schon, daß das seine Ursachen hat, und es gibt – ich glaube, von Wölfflin ist das, einem Kunstgeschichtler des 19. Jahrhunderts – einen interessanten Satz, den ich sehr richtig finde. Er hat gesagt: Ornament ist überschüssige Formenkraft.- Gerade daran liegt es eigentlich. Wir haben keine überschüssige Formenkraft. Das merkt man den Ornamenten an. Wir haben noch nicht einmal die Formenkraft, einfache Dinge, die einfachen Dinge der Umwelt auf eine anständige Weise zu gestalten. Es gibt das Beispiel des Papierkorbes an diesem Laternenpfahl, diese Schwierigkeit. Also ich meine jetzt nicht die Formenkraft jedes einzelnen Architekten, die auch erlahmt ist, weil wir zu wenig Aufgaben hatten, aber ich meine, das ist ein gesellschaftliches Problem. Wir haben zur Zeit nicht diese überschüssige Formenkraft. Also sollten wir uns auf bescheidenere Dinge beschränken und mit Ornamenten deshalb vorsichtig umgehen.

7) Das Verhältnis von Neubau und vorhandener Altbebauung ist in gewisser Hinsicht auch beispielhaft für die Beziehung von Architektur und angewandter Kunst. Sie in ästhetischer Hinsicht als Einheit zu sehen, heißt nämlich nicht, sie formal anzugleichen, sondern sie in einen funktionalen, in einen ästhetisch funktionalen Zusammenhang zu stellen. Das ist die Ausdrucks-, Vermittlungs- und Mitteilungsfunktion der Form. So wie der Neubau sein Verhältnis zum Bestehenden nicht als Angleichung, sondern als Dialog entwickeln soll, wie ich schon sagte, so müssen die gestalterischen Mittel von Gebrauchsgrafik, Kunsthandwerk und industrieller Formgestaltung, also von Stadtdesign, mit den architektonischen Mitteln ein Ausdruckssystem bilden, doch nicht nur unter dem Form-, sondern vor allem unter dem Bedeutungs- und Aussageaspekt. Sie müssen ein Aussagesystem bilden, das mit den architektonischen Formen korrespondiert und zugleich einen Dialog führt mit den Menschen, den Bewohnern und Touristen.
Zu oft bemüht sich Gebrauchsgrafik nicht um diese ästhetische Vermittlerfunktion, sondern imitiert die modisch gewordenen Schnörkel der Architekturdekoration. Ja, die baulichen und die künstlerischen Mittel potenzieren sich in schlechten Beispielen durch ihr Zusammenwirken sogar in der Oberflächlichkeit.

8) Wer schafft die stadttypischen Ausdrucksmomente, das ästhetische Kolorit der Städte auf prägnantere Weise, die Architektur oder das Stadtdesign? Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten. Einerseits geht man davon aus, daß die Bedürfnisse an Architektur und die Mittel ihrer Erzeugung der Art sind, daß sie Uniformität hervorbringen. Die verschiedenen Genres der angewandten Kunst haben dann die Funktion, dieser Gleichheit zur Unverwechselbarkeit zu verhelfen. Stadtmöbel und grafische Produkte sollen Stadttypisches ausdrücken und Identifikation mit dem Ort sinnlich in die Wege leiten. Nach dieser Konzeption werden die mobileren und schneller austauschbaren Elemente der Stadt zu Ausdrucksträgern gemacht, das heißt auch, dieser Ausdruck und mit ihm das Image der Stadt sind schnellem Wandel unterworfen, sie sind neuen Entwicklungsbedingungen gegenüber anpassungsfähig, doch zugleich dem modischen Verschleiß unterworfen.
Regionale Traditionen, die sich räumlich artikulieren, können dagegen dauerhaft in der Architektur zum Ausdruck kommen. Wo das der Fall ist, spielt typologisches Denken eine größere Rolle als serielles, weil die Typen die eigentlichen Ausdrucksträger sind.
Aber so sehr ich die typologische Entwurfsmethode der Architektur unterstützen will, so soll das doch nicht heißen, daß damit die praktischen und informationellen Ausstattungselemente der angewandten Kunst nur aktuelle und praktikable Aussagen liefern sollten, sie müssen ebenso helfen, den Ort zu markieren und Stadttypisches auszudrücken.
Ich möchte deshalb zum Schluß dazu auffordern, aus anderen Städten und Regionen keine fertigen Lösungen, nur Erfahrungen und methodisches Wissen zu übernehmen. Die Suche nach den gültigen Gestaltungslösungen unserer Zeit muß auf breiter Basis und durch viele parallele Bemühungen erfolgen. Für die formalen Mittel gibt es dabei keine prinzipiellen Einschränkungen, alle müssen daraufhin getestet werden, wie sie den Anforderungen der komplexen Umweltgestaltung genügen, nämlich die Fähigkeit haben, zum Verständnis der sozialräumlichen Zusammenhänge beizutragen.
Danke schön!
(Beifall)

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