Die damals aufkommende „komplexe Sanierung“ von Quartieren und Straßenzügen war nicht nur unwirtschaftlich, sie widersprach auch dem Organismus „Stadt“ und seiner Kultur. Sie ist mechanisch, und mit dem Prinzip der permanenten Stadtreparatur nicht vereinbar.
Olaf Weber
Ich bin komplex saniert
Irgend etwas kam mir schon immer faul vor an der Methode der komplexen Rekonstruktion, deren Kern darin besteht, dass die Kräfte konzentriert werden, dadurch die Planung vereinfacht, der Transport reduziert, Material gespart usw., also die Arbeitsproduktivität erhöht wird.
Das hatte ich bisher jedenfalls als Vorzüge dieses Verfahrens zur Instandsetzung von Gebäuden gehört und konnte diesen überzeugenden Attributen einer rationellen Baumethode nur ein allgemeines Unwohlsein entgegensetzen; halb aus der theoretischen, halb aus der Alltagserfahrung erwachsend. Nun war ich als Mieter eines Gebäudes der KWV selbst betroffen. Das Haus ist durch die „äußere Fließstrecke“ hindurchgegangen. Die unmittelbare Erfahrung mit einem Vorgang, der die eigene Lebenssphäre berührt, ist immer bestens geeignet, scheinbar unverrückbare Prinzipien ihres prinzipiellen Charakters zu entkleiden. Vor allem können wir uns durch diese Erfahrungen der verhängnisvollen Wirkung von Slogans entziehen, im vorliegenden Falle ist es das markige Schlagwort, das „Klotzen“ über „Kleckern“ stellt. Wir wollen Klotzen, nicht Kleckern – das klingt nach Produktivität und Fortschritt, nach Konzentration der Kräfte, doch ich muss jetzt erst recht gestehen: Ich finde Kleckern auch ganz gut.
Unser Denken ist manchmal schon zu weit in den Mechanismen der Serienproduktion verstrickt, so dass Prinzipien, die dort gelten, gedankenlos auf Bereiche übertragen werden, die nicht industrialisiert sind.
Eine Methode, die dem Gegenstand nicht entspricht, auf den sie angewandt wird, kann sehr großen Schaden anrichten. In Frage steht deshalb, ob und wie man einen handwerklich produzierten Gegenstand, wie ein Wohnhaus des 19. Jahrhunderts, mit Mitteln und Methoden oder auch nur in unterschwelliger Denkweise der Massenproduktion rekonstruieren kann. Die serielle Produktion zielt auf gleichartige Produkte und jedes an der Serienproduktion geschulte „Denken in wiederholbaren Einheiten“ entwickelt die Tendenz, bestehende Unterschiede zu unterdrücken.
Die Denkweise der Massenproduktion ist auf verschiedenen Ebenen in die Stadtsanierung eingedrungen, sie ist aber dort fehl am Platze, wo der Planungsmechanismus mit Einheitselementen oder nivellierten Zuständen operiert, die real nicht existieren.
Die Altstädte sind extrem inhomogen und individuell, schon die Grobplanung „straßenzugweise“ oder „quartierweise“ geht am Wesen der Altstadtgebiete vorbei. Solch simples Planungsdenken entspricht nicht der komplexen Struktur und dem differenzierten Zustand der Altstädte. Wenn der (vermeintlich) leichteren Bauleitung wegen, die Baumaßnahmen den Planungsmodellen und nicht der Wirklichkeit angepasst werden, entsprechen sie auch nicht dem Zustand und der Verschiedenartigkeit der Gebäude und Quartiere.
Ich sehe eine große Bedrohung für die Qualität dessen, was uns das 19. Jahrhundert hinterlassen hat, wenn wir vorindustriell erzeugte Gebäude so behandeln, als ob sie industrielle Produkte wären, nur einige Merkwürdigkeiten besäßen wie Erker, schiefe Grundrisse, Gesimse usw. Die wirken dann nur als Störungen, nicht aber als dem Wesen dieser Architektur zugehörig. Das Eingehen auf diese Besonderheiten erfolgt widerwillig und nur im Rahmen der Störungssuche. Man glaubt, der Individualität dieser Häuser durch Kanalisierung auf Grundtypen genüge zu tun. Auch Wohnungsgrundrisse werden, wie ich hörte, auf Normen gebracht, die Kostenrechnung wird dabei zwar erleichtert, aber die Kosten selber gehen in die Höhe.
„Gleich“ werden die Häuser, aber vor allem hinsichtlich der eingesetzten (und zur Verfügung stehenden) Materialien, der Bau- und Ausstattungselementen, also der Dacheindeckung, Dachentwässerung usw. Man fragt sich z.B. warum in den Jahrhunderten vor uns so viel verschiedene Dachziegelformen entwickelt wurden. Sie sind doch nicht nur das Ergebnis lokal wirksamer Erfindungen und regionaler Besonderheiten der Rohstoffe, sondern sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer technischen Funktion, so dass sie – ständen sie zur Verfügung – je nach Dachneigung, Windlast, Dachkonstruktion oder dem Charakter des Gebäudes auch heute noch gezielt eingesetzt werden könnten. Die Reduzierung dieser Vielfalt auf wenige Serien schafft in der Rekonstruktion technische Probleme und unökonomische Lösungen, über Ästhetisches soll hier nur nebenbei gesprochen werden.
Vor allem aber entsteht durch das Verfahren der komplexen Rekonstruktion eine Gleichförmigkeit im Bauzustand eines Areals, die ich nicht kritisieren würde, wäre sie nicht unwirtschaftlich und würden durch die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Kapazitäten nicht gravierende Lücken bei der organischen Rekonstruktion der Gesamtstadt auftreten, die zur Unbewohnbarkeit und zum Abbruch vieler (anderer) Häuser führen. Hier hat sich das serielle Denken auf natürliche Weise zur Wergwerf-Ideologie verwandelt, für die es nur intakte oder aber ganz und gar unwerte Dinge gibt, komplex sanierte oder abbruchreife. Die permanente Reparatur ihrer Teile gehört aber zur vitalen Existenz einer Stadt und sie ist die ökonomischste und zugleich kulturvollste Weise ihrer Reproduktion.
Dabei verstehe ich die Fürsprecher der komplexen Rekonstruktion in dem Falle, wenn als Alternative nur die Flickschusterei denkbar ist, wie sie jahrelang aus bekannten Gründen betrieben werden musste. Aber zwischen beiden, zwischen dem notdürftigen Flicken und der Generalreparatur eines Totalschadens liegt der eigentliche Bereich, im dem sich Städte durch Bauen immerzu wandeln. Darin sehe ich den Kern dessen, was wir mit der Einheit von Erhalten, Modernisierung, Rekonstruktion und Neubau bezeichnen, nur müsste innerhalb dieser Einheit viel stärker differenziert werden, als es diese Begriffe vermögen.
Zum Beispiel gehörten die Baumaßnahmen an dem Hause in dem ich wohne, dem Typ „äußerer Rekonstruktion“ an. Das heißt, dass zur Reparatur Schornsteinköpfe, Dachhaut, Dachentwässerung und Fassade gehören. Komplexe Rekonstruktion wird – und das war meine Haupterfahrung – offenbar so verstanden, dass diese Gebäudeteile allesamt auf Neuwert gebracht werden müssen. Das geht meist nur durch Ersatz der Teile, auch wenn die alten noch nicht endgültig verschlissen sind. Restnutzungszeiten und damit ökonomischer Wert können dabei nur unzureichend berücksichtigt werden. Die Dachhaut hätte nach meinen Schätzungen noch 5-10 Jahre ihre Funktion erfüllt, zum Ausbessern einzelner Ziegel (sie waren etwa 15 Jahre alt) war auf dem Spitzboden noch eine Restmenge vorhanden, die Schieferdeckung der Gaupen hätte noch 20 Jahre Dienst getan, von sechs Schornsteinköpfen hätten fünf bedenkenlos über Jahre erhalten bleiben können, aber fast all das ist erneuert worden. Ich will nur vom Dach erzählen, denn ich bin Bewohner des Dachgeschosses und habe deshalb von meiner Interessenlage her keinen Grund zur Beschönigung seines Zustandes. Wenn man die nicht in Anspruch genommenen Restnutzungszeiten mit dem Wert der baulichen Maßnahmen der Rekonstruktion in Beziehung setzt, kommt man auf große Summen, die volkswirtschaftlich verloren gehen.
Ich fände es ganz normal, wenn man am Dach heute gar nichts gewerkelt, aber in 2 Jahren das Teerdach repariert hätte, in 7 Jahren das Steildach, in 10 Jahren die Schornsteinköpfe und irgendwann davon unabhängig die Fassade – zumal für jede dieser Arbeiten ohnehin eigene Gerüste aufgestellt werden. Warum also komplex sanieren, warum nicht die Nutzungsdauer der Bauteile besser ausnutzen und die Gewerke dort ansetzen, wo diese Nutzungsdauer der Bauteile abgelaufen ist? Der Bauleiter wusste natürlich die einfache Antwort darauf, nachdem ich ihm vorgeschlagen hatte, die Erneuerung des Daches noch ein paar Jahre hinauszuschieben: Wenn das Haus dieses Jahr im Plan ist, kriegen wir die nächsten 10 Jahre kein Gerüst wieder her.
Er hatte natürlich Recht, ich kritisiere den Verlauf der Rekonstruktion auch nur wegen der darin verborgenen gesellschaftlichen Natur des merk- und veränderungswürdigen Verhaltens der Beteiligten. Offensichtlich wird hinter dem „Klotzen“ in der Dimension der Masse nur ein Ausgleich gesucht für fehlende Planungsmodelle, die in der Lage wären, auf die vielfältigen baulichen Strukturen und Zustände in einer Stadt differenziert zu reagieren. So produziert die Verbindung von Kapazitätsdefiziten mit einer starren unflexiblen Planung jene unwirtschaftliche Stadtsanierung, die diejenigen, die nicht urbanistisch denken, sondern nur auf eine einfache Planung des Geschehens aus sind, auch noch feiern: „Endlich ist in der Straße, in dem Gebiet … mal für 10 Jahre Ruhe“ – ich finde das nicht erstrebenswert.
Ein solches Verfahren widerspricht nicht nur den ökonomischen Gesetzen, den Verschleiß- und Abschreibungssätzen, sondern auch den kulturellen Zielen der Stadtplanung, es muss überhaupt am Wesen des Urbanen vorbeigehen. Beim ihm entsteht Einmaliges durch eine besondere Zusammensetzung von Gewöhnlichem und die Jahrhunderte reichen in den Altstadtkernen dieses Besondere durch die historische Dimension weiter an. Jedes Haus, jeder Ort ist Individuum und dieses Besondere muss gepflegt und entwickelt werden, wenn die Gesamtstadt saniert werden soll.
Was heißt überhaupt „sanieren“? Das ist doch „gesunden“ oder „gesund machen“. Der Vergleich zur Gesundheit des Menschen ist nicht verkehrt. Heilen ist eine individuelle Operation. Wenn ein Zahn kaputt ist, bohrt der Zahnarzt nicht gleich die ganze Zahnreihe entlang, zieht den Zahn nicht, sondern versucht zu reparieren. Wenn ich Zahnschmerzen habe, gehe ich zum Zahnarzt, nicht aber zugleich zum Augen-, Haut- oder Nasenarzt, nicht auch zum Orthopäden oder Gynäkologen. Warum alles im Komplex sanieren? Warum alles zugleich und in der Reihenfolge einer Straßenflucht?
Und warum sind wir noch zu weit entfernt von einer funktionierenden Verwertungskette wieder-verwendungsfähiger Materialien und Bauteile, wo wir so gern von Wiederverwendungsprojekten reden? Offensichtlich deshalb, weil Wiederverwendungsprojekte Organisation einsparen, aber „Recyclingprozesse“ Organisation erfordern: Es fehlt eben an flexibler Organisation. Geradezu schmerzlich war es für mich, zusehen zu müssen, wie herrliche Schieferplatten, mit denen die Dachgaupen bedeckt und verkleidet waren, durch Preolitschindeln ersetzt wurden. Zuerst dachte ich, die Dachdecker wollten sich illegal bereichern, den Schiefer an Eigenheimbauer verkaufen, doch noch ärgerlicher wurde ich, als nicht mal diese zu verachtende Form des Secondhand-Geschäftes zustande kam. Die Schieferplatten landeten im freien Fall auf dem Bauschutt. Das ist auch eine Gefühlslosigkeit der Natur gegenüber, die nicht imstande ist, Schiefergestein nachzuproduzieren (Holz wächst ja wenigstens nach). Schiefer wird nach meiner Erfahrung bei Rekonstruktionen grundsätzlich gefeuert, auch wenn die Platten und die Nägel noch tauglich sind und nur das Kehlblech ausgewechselt werden muss. Nehmen wir an, die Handarbeit ist wirklich zu teuer, so muss sie doch auf die Lebenszeit des Schiefers umgerechnet werden und wenn auch dann Schiefer noch unwirtschaftlich wäre (ich bin kein Fachmann dafür, doch macht mich stutzig, dass weitblickende Eigenheimbauer ihn bevorzugen), so kann ich doch nicht einsehen, dass die Schieferplatten, von denen ich einige der sentimentalen Erinnerung wegen aufbewahrt habe, auch praktisch wertlos seien.
Verstehe ich schon nicht, welche verborgenen ökonomischen Gesetze die Verantwortlichen veranlassen, die völlig intakte alte Schieferdachdeckung durch neue Materialien zu ersetzen, so ist mir noch unbegreiflicher, dass sie nicht woanders wieder verwendet werden, zumal es dafür neuerdings sogar gesetzliche Vorschriften gibt, die aber offensichtlich nicht genügend greifen. Sie scheinen die Interessen der Baubetriebe und Bauleitungen wenig zu tangieren und bleiben leider wirkungslos.
Auf einem Bauernhof wurde früher das beste Material für das Dach des Wohnhauses verwendet, war es dort verschlissen, kam es auf den Stall, genügte es den Tieren nicht mehr, kam es auf die Scheune und landete am Ende auf einem Schuppen. Das war eine Verwendungskette, die dem natürlichen Werteverfall des Materials entsprach. Gibt es das heute nicht mehr, muss denn überall ganz neues Material verwendet werden, das zudem sehr schnell verschleißt? – Ich könnte mir z.B. vorstellen, dass die vielen Tausende Quadratmeter Schieferplatten, die in den letzten Jahren in einer Stadt wie Weimar vernichtet wurden, in den Datschensiedlungen sinnvolle Verwendung hätten finden können, wo genügend Bastelzeit für das Verlegen vorhanden ist und wo sie dazu beitragen könnten, die natürliche Landschaft etwas weniger zu verschandeln als mit der ohnehin knappen Dachpappe. Dahinter stecken Probleme der gesellschaftlichen Organisation unserer umweltgestalterischen Prozesse, über die wir genauer nachdenken sollten.
Ich bin davon überzeugt und wollte darauf hinweisen, dass die Durchsetzung ökonomisch richtiger Entscheidungen der Stadtsanierung zugleich ein Schritt zur Stadtkultur ist, wenn diese Ökonomie nicht lediglich in der betriebswirtschaftlichen Ebene oder in der isolierten Rubrik der Senkung von Materialverbrauch (Stahl, Zement…) begriffen wird, sondern eben in der gesellschaftlichen Ökonomie der Stadt.
Und noch ein Letztes: die Mieter, für die eine Rekonstruktion erfolgt, werden vom Bauablauf her nur als Sandkörner im Getriebe oder als lästiges Ungeziefer betrachtet, mit dem man eben auskommen muss. Für das Privileg, in der Fließstrecke mit fließen zu dürfen, wird ihnen viel zugemutet. Eine organisierte Beratung der Verantwortlichen mit den Mietern, die ihre Wohnstatt doch vom Zustand her gut kennen, fand im Falle „meines“ Hauses jedenfalls nicht statt: Ideen und Initiativen blieben ungenutzt. Vom Gutheißen des gegenwärtigen Zustandes der Leitung und der Ökonomie solcher Rekonstruktion bin ich jedenfalls komplex saniert.