Entwicklungsprobleme der Architekturform (1981)

Eine kurze Grundsatzrede zur Architekturästhetik der 80er Jahre, in der eine neue Formensprache jenseits von Askese und Postmoderne gefordert wird – sowie eine neue Kooperation zwischen Architektur und Kunst.

Olaf Weber
Entwicklungsprobleme der Architekturform
– Neues durch Bekanntes mitteilen –

Die Architektur – das wurde schon bei meinen Vorrednern deutlich – ist in ein vehementes Entwicklungsstadium eingetreten, in dem viele ehemals unerschütterliche Grundsätze und liebgewordene Auffassungen einer neuen Prüfung unterzogen werden. Es geht vor allen Dingen um Formfragen, die mit neuem Anspruch und neuer gedanklicher Intensität behandelt werden.

Probleme, die mit der Formgebung der Architektur zusammenhängen, werden zweifellos in den nächsten Jahren auch für uns immer wichtiger. Formfragen sind eben alles andere als nur Formfragen. Was uns allerdings von manchen wohlklingenden, radikalen Beiträgen zu diesem Thema unterscheiden sollte – die
Form darf nicht gegen die soziale Funktion der Architektur und nicht gegen den technischen Fortschritt gesetzt werden, wenngleich die Formdiskussion uns sicher auch dazu befähigen wird, die soziale Funktion der Architektur genauer zu fassen und wahren von manch unwahren Fortschritt in Technik und Technologie der Bauproduktion zu scheiden.

In der neuesten Diskussion über die postmoderne Architektur werden von ihren Befürwortern und Gegnern leider oftmals zu einfache Argumente, zu kurze Schlüsse und zu simple Ableitungen vorgetragen, die zu praktischen Fehlentscheidungen verleiten. Es soll hier auf diese Diskussion im einzelnen nicht eingegangen werden. Gegen die profitinitiierte Effekthascherei mancher „postmoderner“ Bauten in westlichen Ländern wäre einiges einzuwenden. Andererseits ist es aber auch falsch, bestimmte (alte und neue) Formen aus einem wenig begründeten „Prinzip“ für unsere Architektur abzulehnen -anstatt, was richtig wäre, bestimmte Wirkungen prinzipiell abzulehnen.
So geht es zum Beispiel zur Zeit mit dem Formprinzip der Symmetrie oder mit der Säule, beides bevorzugte Elemente der Postmodernen, die von ihren Gegnern bekämpft werden. Die Säule hat es aber über Jahrtausende hinweg gegeben. Erst seit fünfzig Jahren ist sie „aus der Mode“ gekommen. Wer sie heute wiederverwendet, bezweckt etwas, aber das kann etwas ganz anderes sein, als es der Architekt vor hundert Jahren damit vorhatte. Die Wahrnehmungs- und Interpretationsgewohnheiten wandeln sich. Wir deuten heute viele Formen anders als früher. Das heißt aber, dass wir die Eignung neuer (bzw. alter) Formenelemente für unsere sozialistische Architektur nicht unter ihrem Form-, sondern unter ihrem Wirkungsaspekt vornehmen müssen. Wir müssen die Gestaltungsziele klar definieren und daran die Ausdruckskraft der Formen in dem konkreten kulturellen, funktionellen und räumlichen Kontext bestimmen. Vielleicht findet darin auch die Säule ihren Platz. Da brauchte man sich jetzt gar nicht festzulegen.

Die Ziele der Gestaltung und damit allgemeine Bewertungskriterien für Formen sind: – räumliche Orientierung

  • emotionale Ausstrahlung
  • Herstellung einer ideellen und praktischen Verfügbarkeit über das Objekt
  • Schönheit
  • Identifikation
  • kulturelle Orientierung.

Eine bauliche Form sollte also in Abhängigkeit von der konkreten Gestaltungssituation möglichst viel zur räumlichen Orientierung beitragen und praktische Informationen liefern, emotional anregen und schön sein, die Identifikation mit der Architektur erleichtern, eine ästhetische Innovation und kulturelle Orientierung vermitteln.

Das sind also im Groben und ohne Vollständigkeit solche Kriterien, nach denen wir eine Form beurteilen sollten, nicht aber danach, ob sie in die moderne oder in die postmoderne Kiste passt.
An dieser Stelle möchte ich eine kurze Bemerkung zum Thema Unikat und Serie einflechten, das uns heute schon mehrmals, vor allem durch den interessanten Beitrag von Heinz Hirdina, beschäftigt hat. Ich finde allerdings, dass die spezifisch architektonische Ausprägung dieses Verhältnisses noch sehr unklar ist. Das serielle Prinzip spielt im Bereich der industriellen Formgestaltung eine andere Rolle als in der Architektur, was an der jeweils unterschiedlichen Zielstellung liegt. Von den Bewertungskriterien der Form, die ich gerade vorgetragen habe, sind es nämlich zwei, die typisch architektonischer Natur sind, die den Produkten der Formgestaltung also nicht zukommen: Da ist zum einen die räumliche Orientierung und zum anderen die Identifikation, wobei ich vor allem das zweite, die Identifikation, für ganz entscheidend halte. Während ich – wie jeder andere – nämlich nicht das Bedürfnis habe, mich mit einem Staubsauger zu identifizieren (was ich auch gar nicht brauche und soll), möchte ich das aber mit meiner Wohnung, mit meinem Wohngebiet oder mit meiner Stadt. Und während es mich nicht stört, dass tausend andere und mein Nachbar den gleichen Staubsauger haben, stört es mich doch, wenn meine Wohnung nicht meinen individuellen Ansprüchen angemessen ist. Das eine, der Staubsauger, ist nämlich nur ein Mittel, um einen Zweck zu erfüllen, und das andere, die Wohnung, ist meine zweite oder (nach der Kleidung) die dritte Haut. Wir haben die Industrialisierung der Bauproduktion eigentlich so durchgeführt wie die Industrialisierung in beliebigen anderen Industriezweigen. Das spezifisch architektonische Verhältnis zu Unikat und Serie ist weder theoretisch geklärt, noch ist es praktisch gelöst. Die Dialektik von Massenproduktion und Individualisierung muss in der Architektur eine wesentlich tiefere Dimension erhalten als die von Segmentprojektierung und Loggienmalerei; die gesamte Bauproduktion muss davon durchdrungen werden.

Die gestalterischen Ziele bestimmen inhaltlich die Selektion der Form, ihren Bedeutungs- und Assoziationswert, ihre Aussage. Aber die Form wird noch durch ein anderes Moment bestimmt, durch ihre Verständlichkeit, abhängig vom Wahrnehmungs-, Differenzierungs- und Interpretationsvermögen der Menschen. Formen müssen so strukturiert sein, dass sie verstandes- wie gefühlsmäßig eingängig sind. Sie müssen der Struktur den Bewusstseins entsprechen. Formen, die nur von wenigen verstanden werden, sind elitär und entsprechen nicht unseren Zielstellungen.

Wie aber ist das zu schaffen, wie kann Architektur ihre Sprachlosigkeit abstreifen, wie zum Ausdrucksträger, zum Medium unserer Kultur werden? Die Antwort ist eigentlich einfach: Sie muss funktionieren, wie alle Sprachmedien funktionieren -sie muss Neues durch Bekanntes mitteilen. Sie muss Wörter, Ausdrücke und Wendungen suchen, die schon zum verfestigten geistigen Besitz für alle geworden sind. Sie muss solche Formen benutzen, an die im Umgang mit Architektur schon Bedeutung und Aussage geknüpft worden sind und deren neuerliche Verwendung entsprechende Assoziationen erhoffen lassen.

So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass man, nachdem sich die Sinnlosigkeit formalistischer Übungen mit abstrusen Formen wie im Brutalismus erwiesen hatte, im internationalen Experimentierfeld zur Wiederbelebung der architektonischen Form auf historische Formen kam, und zwar in der Hoffnung, dass sich an diese Formen stabile Assoziationen knüpfen. Ich will mich nicht der häufig zu hörenden Auffassung anschließen, der Gebrauch alter Formen sei bereits inhaltlich, gar politisch reaktionär, auch der Vorwurf des Eklektizismus ist angesichts der ständigen Wiederholungen in unserer tausendjährigen Baugeschichte nicht besonders beleidigend. In Frage steht, wie weit diese Formen der modernen, aber nicht unbedingt der bestehenden Bautechnologie adäquat sind, und vor allem, ob sie außer dem Verweis auf die Geschichte, den man der historischen Klarheit wegen den wirklich alten Bauwerken vorbehalten sollte, noch etwas anderes auszudrücken vermögen. Ich befürchte, in vielen Fällen bleibt da nichts übrig, ist die Motivation nur Effekthascherei und Nostalgie das einzige befriedigte Bedürfnis. Aber eben das muss geprüft werden, bevor historische Formen im zeitgenössischen Bauen be- und verurteilt werden.

Eine zweite Methode, um Architektur wieder zum Sprachmedium „zurückzufunktionieren“, besteht darin, einige in anderen Medien bewährte Formkonfigurationen für Architektur zu nutzen. Es werden vor allem Formprinzipien der industriellen Formgestaltung ausgeliehen. Häuser sehen dann aus wie Radioapparate, Musiktruhen usw. (Das neue Gewandhaus in Leipzig entwickelt zum Beispiel seine Ästhetik aus diesem Verfahren.) Die Präzision und das technologische Image dieser Produkte, also der Radioapparate, Musiktruhen usw., soll die Grobheit der Architektur verbergen. Der so erzielte Ausdrucksgehalt ist aber meistens gering, ebenso dort, wo – auf einem dritten Weg – versucht wird, fortgeschrittene Bautechnik zum Kern der architektonischen Aussage zu machen und auf diese Weise einen neuen expressiven Konstruktivismus zu kreieren. Beispiele sind bekannt; das Centre Pompidou und auch das Freizeit- und Erholungszentrum in Berlin gehen in diese Richtung.

In westlichen Ländern wird viertens auch versucht, die sogenannte Alltagsästhetik, die dort hauptsächlich aus Konsumwerbung besteht, für den Ausdrucksgehalt der Architektur nutzbar zu machen. Neben den inhaltlichen Verwicklungen einer solchen Sprache, die sich ganz und gar in den Dienst der Kapitalverwertung und des Konsumzwanges gestellt hat, sind Kitsch, Demagogie und Drapierung die nicht nur ästhetischen Folgen. Aber wir sollten durchaus die Überlegungen aufnehmen, wie die ästhetische Alltagserfahrung unserer Menschen für die Sprache der Architektur benutzt werden kann.
Ein neuer Rationalismus versucht – fünftens – Grundformen des Bauens, sogenannte Archetypen, aufzufinden, in denen jahrtausendealte Erfahrungen der Baumeister in funktionellen und konstruktiven Standardsituationen aufgehoben sind. Die Hoffnung hierbei beruht darauf, dass diese Grundmuster des Bauens auch die Grundlage des allgemeinen Bewusstseins über das Bauen bilden und deshalb von jedermann verstanden werden.

Man könnte nun auch geneigt sein, Typenprojekte als Mittel anzusehen, um unsere Umwelt lesbar zu machen. Wenn in jedem Wohngebiet die gleichen Kinderkombinationen, Schulen und Kaufhallen stehen, ist es leicht, diese in jedem neuen Wohngebiet sofort zu erkennen. Aber welch simple Aussage ist das, wenn das Bauwerk spricht, ich bin eine Kinderkrippe! Wen es betrifft, die berufstätigen Mütter, brauchen solche Informationen nicht. Typenprojektierung verfolgt eben andere Ziele als das, den Erlebnisreichtum unserer Umwelt vielfältig und interessant zu codifizieren. Für diesen Erlebnisreichtum brauchen wir weder monotonen Gleichklang noch sinnentleerte Formenspielereien, sondern eine sprachähnliche Struktur unserer visuellen Umwelt, in der die Formen sinnerfüllt sind und in ihrer geordneten Vielfalt komplexe Aussagen und komplizierte Wirkungen ermöglichen.

Zweierlei Wege eröffnen sich dorthin, die beide beschritten werden müssen.
Da ist zum einen das entwurfsmäßige Eingehen auf alle materiellen Anlässe für Vielfalt, also die Berücksichtigung topologischer und landschaftlicher Besonderheiten, besonderer Sozialstrukturen, regionaler Technologien, spezifischer Organisationsformen usw. Da diese jeweiligen Besonderheiten in der Lebenspraxis erfahrbar und gleichzeitig an den dazugehörigen baulichen Formen ablesbar sind, werden – das sind kollektive Lernprozesse – die Formen von den Nutzern als logische Folgen dieser objektiven Bedingungen erlebt und auf diese Weise sinnerfüllt.

Zum anderen werden sich zu diesen sogenannten indexikalischen Formen – und das ist eine Prognose, auf die wir uns einrichten sollten – auch zunehmend künstlerische Mittel gesellen, also spezifische Ausdrucksformen, die vor allem in der Kunst Verwendung finden. Gemeint sind symbolische Formen, Metaphern, künstlerische Montagen und Zitate, Mittel der Verfremdung und der Überhöhung usw. Das sind für die Architektur eigentlich keine neuen Mittel, aber ihre konkrete Ausprägung wird neu sein. Für andere Künste sind sie ja längst Selbstverständlichkeit geworden – ich denke zum Beispiel an die Verfremdung, die Brecht zu einem wichtigen künstlerischen Erkenntnismittel gemacht hat. Die Frage ist zu überprüfen, inwieweit wir in der Architektur auch mit Verfremdung arbeiten könnten und sollten. Derselben Prüfung müssen wir auch andere Mittel unterziehen -ist es beispielsweise legitim, in der Architektur mit den Mitteln der Ironie zu arbeiten?

In der Perspektive der angedeuteten Entwicklung wird Architektur eine Wiederbelebung ihrer künstlerischen Komponente erfahren, ohne allerdings wieder die alte Baukunst zu werden. Die Konsequenzen für die komplexe Umweltgestaltung sind offensichtlich. Die Architektur wird kein neutraler Hintergrund mehr sein, an den man autarke Bildwerke hängt. Bildkunst kann niemals den Mangel an architektonischer Gestaltung kompensieren. Die Architektur wird ihre Mittel wieder einklagen, die sie an die Bildkunst verborgt hatte und die dort als fremde Mittel gar nicht angewandt wurden und eben brach lagen. Auf diese Weise wird sich am Bau ein Dialog einstellen können zwischen den architektonischen und den bildnerischen Mitteln, der – so ist zu hoffen – zu einer beiderseitigen Qualitätssteigerung führt. Auf diese Weise entsteht vielleicht doch einmal die vielversprochene Synthese von Architektur und Bildkunst, zu deren Zustandekommen ein bestimmtes qualitatives Niveau der beiden zu synthetisierenden Teile unumgänglich ist. Mindestens die Architektur, für die ich hier nur sprechen kann, hat diese Synthesefähigkeit bisher noch nicht wiedererlangt.

Die neu zu gewinnende Ausdrucksfähigkeit der Architektur steht nicht in einem konkurrierenden, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zur bildenden Kunst, besonders zur baugebundenen Kunst. Die Künstler werden, wie das Bau- und Kunstgeschichte zeigen, nicht weniger, sondern mehr Aufgaben erhalten, wenn die Architektur selbst künstlerische Mittel verwendet. Allerdings werden diese Aufgaben komplizierter, wie ein Dialog komplizierter ist als ein Monolog auf weißer Fläche.

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