Eine monolithisch ausgeführte innerstädtische Lückenschließung wurde Ende der 70er Jahre im Stile des Plattenbaues ausgeführt. Die Frage entstand, wo die Quelle für Vielfalt ist und wo die Mitwirkung künftiger Bewohner beginnt.
Olaf Weber
Analyse Marktstraße
Probleme der Gestaltung
Die Lückenschließung „Marktstraße Weimar“ schreibt eine Entwicklungsetappe der architektonischen Formensprache fest, deren Fortschreiten wir meist nur in der Vorstellung verfolgen. Der ausführlichen Kritik der Redaktion sollen hier nur einige Thesen angefügt werden, die der Verdeutlichung des Charakteristischen dieser Etappe „Marktstraße“ dienen und damit zusammenhängende allgemeine Fragen der Architekturentwicklung berühren. Wir können uns dabei auch auf Ergebnisse von Analysen stützen, die Studenten des 4. Studienjahres im Rahmen von Lehrveranstaltungen zur Architekturtheorie angefertigt haben (vgl. Analyse zum „Angereck“ Informationsblatt Nr. 4).
1. Die ästhetischen Erwartungen werden insgesamt erfüllt, teilweise übersteigt die Gestaltung sogar die Ansprüche an die Gestaltqualität. Die gewählte Formensprache bietet offenbar genügend Anreize zum positiven emotionalen Erleben (siehe Polaritätenprofil). Die Mischung von Angleichung an das Alte und Innovation spielt dabei eine große Rolle. Das positive Urteil wird durch den Beispielcharakter dieser Lückenschließung verstärkt, abgesehen davon, dass jede Lückenschließung durch ihren Beitrag zur Vervollständigung des Stadtbildes ohnehin einen Vertrauensvorschuß besitzt.
2. Der Standort ist baupolitisch gut ausgewählt: er ist wichtig, aber – anlässlich der Experimentalsituation – nicht zu wichtig. Allerdings ist die städtebauliche Relevanz und architektonisch übergeordnete Zielstellung auf Grund von Veränderungen in der Bebauungskonzeption (besonders der Übergang von der schematischen Trennung von Fußgänger- und Fahrverkehr zu einem dialektischen Verhältnis beider) nicht eindeutig definiert, die Lösung soll deshalb unter diesem Aspekt auch nicht beurteilt werden.
3. Das Verhältnis von alten und neuen Elementen in der Formensprache, hat nach Aussage der studentischen Analysen seine Spezifik in der Marktstraße folgendermaßen gefunden:
In den strukturellen Maßanordnungen des Baukörpers ist relativ hohe Angleichung festzustellen (Baumasse, Bauflucht, Geschossigkeit, Dachschräge, Versatz der Traufhöhe). Die Einschnitte in der Dachfläche und das Zurücksetzen des EG sind dagegen neue Gestaltungsmomente.
Die Fassadenelemente besitzen stärker moderne Attribute. Dazu zählen vor allem die Loggien und Dachflächenfenster, die Größe und Ungegliedertheit der Fenster und Schaufenster, ebenso die große Durchfahrt; auch die rückseitigen Dachterrassen werden als neuartig betrachtet.
Die sichtbare Oberfläche wird in ihrer Stofflichkeit als angleichend empfunden (Holz, Putz, Schiefer), die Farbigkeit wird allerdings entgegen der Absicht der Autoren als kontrastierend zur Umgebung bewertet. Offensichtlich hat die Farbskala selbst den bezweckten angleichenden Charakter, die additive, großflächige Verteilung der Farben auf der Fassade aber kehrt diese Wirkung in gewissem Sinne um.
4. Betrachtet man die allgemeineren Gestaltungsprinzipien, so setzen sich eindeutig die zur Umgebung kontrastierenden „modernen“ Auffassungen durch. Das betrifft besonders die Plastizität der Fassade, die horizontalen Bänder, die Sichtbarkeit konstruktiver Glieder (das wird wieder als modern angesehen), das Wand-Öffnungsverhältnis und die Großteiligkeit.
Unseres Erachtens hat hier die Möglichkeit des monolithischen Bauens dazu verführt, die Chance zur Kompensation vieler ästhetischer Mängel unseres Massenwohnungsbaues zu nutzen, manche wollen sich allerdings nicht recht an den Standort anpassen. Während wir uns z.B. im industriellen Wohnungsbau eine stärkere Plastizität des Baukörpers wünschen, wirkt eine solche grobe Plastizität in der Marktstraße doch ein wenig fremd und undifferenziert. Das Bauen im Altstadtkern sollte künftig noch mehr im Detail (Baudesign!) die Modernität ausdrücken als in der Originalität der Baumassengliederung. Dazu müsste aber die weit verbreitete Auffassung revidiert werden, wonach die „Makrostruktur“ stärker ausdruckprägend wirke als die „Mikrostruktur“. Oftmals sind es gerade Details, die den Charakter einer großen Einheit bestimmen (vgl. das „Detail“ der Balkonentwässerung in der Marktstraße).
5. Das Verhältnis von Angleichung an die alte Umgebung und Neuem, das sich in der Formensprache äußert, tritt in ähnlicher Weise auch in den Funktionen auf. Typisch für die Umgebung der Marktstraße ist eine kleinteilige Funktionsmischung solcher Komponenten wie Wohnen, Einzelhandel, Dienstleistungen, Kleinbetriebe, Verwaltung, Verkehr und Verweilen. In ihrer Art heben sich sowohl das Wohnen als auch die Kaufeinrichtungen bei unserem Gebäude von der Umgebung ab – das eine durch die Homogenität der Kleinraumwohnungen, das andere durch die Größe des Ladens. In Anbetracht dessen, dass wir die durch die Ansammlung gleicher Wohnungen geförderte soziale Segregation in unserer Gesellschaft nicht entwickeln wollen und die Konzentration von Verkaufseinrichtungen weder eindeutig als verkaufsökonomisch noch als konsumentenfreundlich gilt, ergibt sich die Frage nach dem Wert des funktionellen Kontrastes zur Umgebung.
6. Nach dem schwer auf einzelne Gestaltungselemente umzulegenden Charakter des Gebäudes herrscht nach Auskunft der Untersuchungen der Eindruck einer Ansammlung von Einzelhäusern vor, von kollektiver, geschlossener Gestaltungskonzeption und von Neubau. Hier soll bei aller Freude über die erreichten Gliederungen ein Problem als Frage formuliert werden:
Ist es sinnvoll, angesichts der sozialistischen Eigentumsverhältnisse des kommunalen Bauherrn und des kollektiven Projektierungs- und Ausführungsprozesses, einer Häuserzeile das Aussehen von individuellen Einzelhäusern zu geben, nur um sich dem Architekturkontext anzupassen? Oder sollte die Vielfalt, die das individuelle Bauen im Kapitalismus der altstädtischen Umgebung gegeben hat, formal weitergeführt werden, aber den Einzelhauscharakter vermeiden? Oder gibt es neue Bedingungen, die Vielfalt erzeugen, hat sich schon genügend neue Individualität entwickelt, die baulich auszudrücken sich lohnt? Hier ist noch ein weiter Raum gesellschaftlicher und architektonischer Entwicklung zu füllen bis dahin, dass dasjenige, was wir ästhetisch erwarten, dem Bauwerk nicht aufgesetzt wird, sondern aus seiner sozialen und gegenständlichen Umwelt – ästhetisch umgesetzt und überhöht – erwächst.
7. In Zusammenhang damit: Die Nutzer. Man dürfte meinen, dass in einem solchen Falle, in dem die künftigen Bewohner des Hauses schon lange vor Fertigstellung feststanden, dieselben wenigstens ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Tapeten hätten. Weit gefehlt. Ich weiß, dass deshalb einige schon vor dem Einzug neu gemalert bzw. tapeziert haben und auch mit dem (eigentlich freien) Standort der Nachtspeicheröfen hadern. Man könnte sich auch vorstellen, dass man bei der Hofgestaltung hätte neue Wege gehen können. Die riesige Hofeinfahrt ist ja auf merkwürdige Weise einladend, aber wer der Einladung folgt ist schnell enttäuscht, weil dort nur Anlieferung passiert. Das ist nicht so schlimm, aber die alten Ziegelwände zum Nachbargrundstück wären eigentlich ein geeignetes Experimentierfeld für Wandgestaltung gewesen, wenn man sie nicht mit langweiligem Putz „ordentlich“ gemacht hätte. Junge Künstler, Architekturstudenten, Laienmaler oder Kinder hätten in diesem unbedenklichen Bereich vielleicht einen Beitrag zur Vitalisierung des Stadtbildes und zur Identität des Ortes leisten können.
8. Schließlich noch einmal zur Frage des „Modernen“. Jede Zeit muss sich selbst ausdrücken, das ist schon deshalb wichtig, um die Geschichtlichkeit einer Stadt erlebbar zu erhalten.
Aber was ist das Moderne? Meistens werden darunter Attribute des gegenwärtigen Bauens verstanden, also: additiv, typisiert, orthogonal. Das massenhaft Gebaute wird zur verinnerlichten ästhetischen Norm – bei den Bewohnern, wie auch bei Architekten. So gesehen ist es richtig, entsprechende Form-Assoziationen zu nutzen, wenn im innerstädtischen Bereich unsere Zeit zum Ausdruck kommen soll. Zugleich müssen wir aber ständig nach neuen Ausdrucksformen suchen, vor allem in der Innenstadt, wo das Neue neben dem Alten bestehen muss. Und ist weiterhin die Tatsache, dass die Autoren der „Marktstraße“ die relativ hohe bautechnologische Freiheit nicht zu mehr gestalterischer Freiheit nutzten, sondern wesentliche Eigenarten des Plattenbaues monolithisch nachbildeten, ein Beweis für die Modernität der Ästhetik unseres Plattenbaues und darüber hinaus ein Plädoyer für den Einsatz der Platte in ähnlicher innerstädtischer Lage?
Ich glaube, so kurzschlüssig kann man die Antworten nicht finden. Ästhetische Normen und Werte differenzieren sich für die verschiedenen Einsatzbereiche nur langsam, auf der Suche nach der Formensprache des innerstädtischen Bauens hat aber die Lückenschließung Marktstraße Weimar eine wichtige Markierung gesetzt.