Analyse Angereck Erfurt (1980)

Im neu gegründeten BdA/DDR Mitteilungsblatt Bezirk Erfurt begann 1980 eine Serie zur Architekturkritik. Zunächst musste der ungewohnte Begriff „Kritik“ gegen Missverständnisse verteidigt werden, bevor eine kleine Architekturanalyse – noch versteckt hinter studentischen Vorarbeiten – dargestellt werden konnte.

Olaf Weber
Analyse Angereck Erfurt

Als Vorbemerkung
Über die kritischen Diskussionen zu neuen Bauwerken im Informationsblatt der BdA-Bezirksgruppe kann man sich nur freuen. Studenten und Lehrende der HAB wollen sich daran gern beteiligen. Die stattgefundene Auseinandersetzung zum „Kosmos“ lässt aber daran erinnern, dass alle Beteiligten – ob Projekt-Autoren oder Kritik-Autoren – die Subjektivität jeder Kritik und zugleich deren notwendige Tendenz zum objektiven Urteil anerkennen müssen. Auch Analysen ersetzen diese Dialektik nicht – zumal dann nicht, wenn sich, wie es manchmal scheint, hinter dem Ruf nach Analysen das Bedürfnis nach einer „objektiven“ Instanz verbirgt, die Zensuren verteilt, anstatt den Meinungsstreit zu fördern. Analysen können diesen Meinungsstreit nur begleiten, ihn nicht ersetzen, und subjektive Meinungen sind dann gut, wenn es mehrere davon gibt. Im Übrigen hat die Kritik das Recht, ein Bauwerk „so wie es ist“ zu behandeln, also so, wie auch die Nutzer und Bewohner damit auskommen müssen. Erst an zweiter oder dritter Stelle kann nach den Faktoren, Einflüssen, Ursachen und Verantwortlichkeiten gefragt werden, die zu den positiven Merkmalen und zu den Mängeln geführt haben.

Eine Untersuchung mit Studenten:
Die hier gekürzt vorgestellte Untersuchung zum „Angereck“ basiert auf Analyseergebnissen von 82 Studenten des 4. Studienjahres der Studienrichtungen Architektur und Städtebau der HAB Weimar, die im Rahmen einer Übungsaufgabe im Fach „Architekturtheorie“ ( Leiter: Prof. Dr. sc. B. Grönwald) im Mai 1980 durchgeführt wurden. Das Bildungsziel war, praktische Erfahrungen mit Methoden der Architekturanalyse und -kritik zu sammeln, die Sensibilität für Architektur zu erhöhen und den fachspezifischen verbalen Ausdruck der zukünftigen Architekten zu entwickeln. Die Aussagen zum Angereck, die aus dem Durchschnitt des gesamten Studienjahres resultieren, sind also nur Nebenprodukte der Lehrveranstaltung. Die Studenten mussten, um die Aufgabe zu erfüllen, verschiedene „Rollen“ annehmen. Zuerst gaben sie als „Normalnutzer“ ihr Eindrucksurteil über das Angereck (mittels eines skalierten Verfahrens) ab, dann beschrieben sie als „praktizierende Architekten“ die Gestaltungsmittel, die zu diesem oder jenem Ausdruck des Angerecks geführt haben und letztlich sollten sie als „Architekturkritiker“ ihr Urteil über die Gestaltung fällen. Durch die Mischung von Einfühlen, Erkennen und Urteilen wollten wir eine möglichst reibungslose Annäherung an die Wirklichkeit erreichen.
Konstruktive und nutzertechnologische Probleme der inneren Raumorganisation blieben außerhalb der Betrachtung, jedoch hatten die Studenten Gelegenheit, die gesellschaftliche Aneignung des „Angerecks“ in Kontakt mit den Nutzern zu erfahren und erhielten durch den Autor nach der Objektbegehung Informationen über Gestaltungsabsichten und gesellschaftliche Umstände zum Projekt.

Eindrücke der Studenten
Der individuelle Eindruck, den das Angereck hinterlässt, wurde in einer polaren Tabelle von Eigenschaften gesammelt, um ein Durchschnittsurteil aller Eindrücke zu ermitteln.(s.Tab.) Dieses Urteil lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Gebäude wirkt relativ kompakt und dabei einfach. Es wurde deshalb auch als überschaubare Einheit empfunden, die in sich einheitlich gestaltet ist. Dieses Urteil gilt vor allem für den äußeren Eindruck, an anderer Stelle wurden Widersprüche zwischen „außen“ und „innen“ registriert – besonders in Bezug auf die Farbgebung, die im Innern als zu simpel und bunt empfunden wurde. Die Baumasse wirkt – nach Meinung der Studenten – trotz Freitreppe, Terrasse, angeschrägtem Dach, Rückversatz des EG und Abwinklung des Baukörpers als wenig plastisch. Die Ensemblewirkung des Platzes wird durch das Angereck unterstrichen. Es ist städtebaulich integriert. Das Gebäude fällt zwar als Neubau gegenüber seiner Umgebung auf, bietet in sich und gegenüber seinem Typ aber relativ wenig Vielfalt und Originalität.
Das Angereck gehört nicht zu der Sorte von Bauwerken, die besondere Aufmerksamkeit sammeln und in optische Konkurrenz zur Umwelt treten wollen. Zu diesem Eindruck trägt auch seine „Maßstäblichkeit“ bei. Der Ausdruck für praktische Verfügbarkeit ist nicht sehr ausgeprägt. Es wirkt nicht besonders einladend und auch die Attribute „Gemütlichkeit“ und „Bequemlichkeit“, die für die Beherbergung eines Cafés nicht unwichtig sind, kommen wenig zum Ausdruck und führen damit auch wenig zu einem praktischen Impuls des Eintretens. Das globale ästhetische Urteil ist positiv. Das Gebäude wird als relativ harmonisch und schön bewertet.

(Tabelle)

Passanten
Die Beobachtungen des Verhaltens der Passanten gegenüber dem „Angereck“, die unsere Studenten machten, ergab die Erkenntnis, dass dieses Gebäude erstaunlich schnell als „dort hin gehörig“ akzeptiert wurde. Der Grund ist darin zu sehen, dass es weit gehend der baulichen Umgebung und den Erwartungen der Menschen angepasst ist. Für die Wahrnehmung „im Vorübergehen“ ist diese „leise“ Gestaltung richtig, aber die vielen Wartenden an der Haltestelle könnten sicherlich ein paar mehr optische Reize vertragen.

Gestaltungsmittel
Auf der Suche nach Gestaltungsmitteln die den öffentlichen Charakter des Angerecks, seine Nutzung als Café, als Sitz des Reisebüros und einer Filiale des EVB ausdrücken, wurden mit großem Vorsprung vor anderen Gestaltungsmitteln die Mittel der verbalen Kommunikation (Werbung, Schrift) genannt. Das entspricht einem immer noch anhaltenden Trend der modernen Architektur, sich visuell nur als Hintergrund zu verstehen und die Ausdruckswerte – besonders solche, die praktische Impulse erzeugen – der Beschriftung, den Schaufensterauslagen usw. zu übertragen. An spezifisch architektonischen Gestaltungsmitteln für diesen Ausdruck wurden (in der Reihenfolge der Wertigkeit) genannt: Die Transparenz (Glasflächen), der Rücksprung des EG, die Außentreppe mit Terrasse, die Einheitlichkeit der textilen Fenstergestaltung (Stores), die äußere Materialwahl, die großen Geschosshöhen, die Skelettkonstruktionen sowie der Freiraum mit Fahnenensemble und Blumenkübel. Interessant an der Wertung der Studenten ist z. B., dass formale Besonderheiten nicht auftreten bzw. dass vorhandene Formcharakteristika, wie die besondere Dachform oder der Rhythmuswechsel in der Fassadengliederung, nicht als Ausdrucksträger öffentlicher Nutzung angesehen werden.

Umgebung
Unter einem anderen Analyseaspekt wurden auf die Frage, durch welche Merkmale sich das Angereck von anderen Gebäuden des Angers unterscheidet, genannt:
1. Vorhangfassade (Skelettkonstruktion)
2. hoher Anteil an Glas und Metall
3. Flächigkeit der Fassade
4. Einbeziehung des Freiraumes durch Treppe
5. Schmucklosigkeit
6. zurückgesetztes EG
7. öffentliche Nutzung des 1. Obergeschosses
8. geringe Attraktivität des Schaufensterbereiches

Als Merkmale, mit denen sich das Angereck seiner Umgebung anpasst, wurden festgestellt:
1. Geschoss- und Gebäudehöhe
2. Dachausbildung (Steildach, Gauben)
3. Blockhaftigkeit und Abgegrenztheit des Gebäudes
4. öffentliche Nutzung des EG (Funktionskombination)
5. orthogonale Fassadengliederung
6. Farbe
7. Schrift, Beleuchtung, Werbung

Kritik
Die Positive Beurteilung des Angerecks bezog sich auf folgende Gesichtspunkte:

  • Die Maßstäblichkeit des Baukörpers wird hervorgehoben
  • Die Ensemblewirkung und die gegenüber dem Vorkriegszustand nun verfestigte Aufweitung des Raumes an diesem Kreuzpunkt des Angers werden begrüßt
  • Die Material- und Farbwahl im Äußeren werden in ihrer Zurückhaltung bejaht
  • Die gesellschaftliche Nutzung des Gebäudes und ihre Erlebbarkeit werden positiv bewertet
  • Es wird begrüßt, dass im Angereck eine Alternative zur traditionellen Bebauung entstanden ist, die unsere Zeit ausdrückt
  • Das Motiv “Steildach“ wird bejaht
  • Positiv wird auch der saubere, solide und klare Baukörper sowie die Strenge und Flächigkeit der Fassade beurteilt
  • Terrasse und Freitreppe werden als Bereicherung des städtebaulichen Gestaltungsrepertoires empfunden.

Negativ wurden vor allem folgende Gesichtspunkte hervorgehoben:

  • Der Platz vor dem Angereck wird als kommunikativer Raum nicht sonderlich aufgewertet. Das Gebäude sammelt in seinem funktionellen Umfeld wenig Aktivitäten.
  • Die räumliche Konzeption des Reisebüros wird kritisiert, vor allem die Funktionsleere der Vorhalle im Erdgeschoss
  • Der Anschluss an die Pestallozzi–Schule wird gestalterisch als problematisch empfunden. Überhaupt wird die Eignung des Schulgebäudes als Platzbegrenzung in Frage gestellt
  • Die Dominanz der Horizontalen in der Fassade wird kritisiert
  • Der Widerspruch zwischen Kopfbau und Seitenflügel im Dachbereich wird als störend empfunden
  • Das Café sei – räumlich und gestalterisch – zu sehr im Hintergrund, der Eingang zum Café zu wenig

Nachbemerkung
Die Bewertungen der Studenten sind durch die große Zahl der Meinungen, die in ihrer durchschnittlichen Tendenz hier wiedergegeben wurden, durchaus ernst zu nehmen. Sie sind diskussionswürdig, aber sie sind auch für uns selbst diskussionsbedürftig. Es ist zu bedenken, dass sie nicht nur etwas über das Angereck aussagen, sondern auch über den Ausbildungsstand der Studenten und nicht zuletzt über die ihnen eigenen Lebens- und Sehgewohnheiten. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im – Anschluss an die Kritik ein alternativer Stehgreifentwurf zum Angereck verlangt wurde, in dem die kritischen Anmerkungen positiv umgesetzt sein sollten. Wir verzichten hier auf die Wiedergabe dieser Entwürfe, sie hatten vor allem die Aufgabe, die Leichtfertigkeit, mit der teilweise Kritik formu1iert wurde, in ein Verständnis zur Komplexität gestalterischer Entscheidungen zurück zu verwandeln. In wesentlichen Punkten sind wir durchaus mit unseren Studenten einer Meinung: Nämlich, dass das „Angereck“ in der Lage ist, das Zentrum Erfurts im Sinne des Neuen und der historischen Kontinuität zu bereichern. Es zeigt als eines der wenigen Objekte des Gesellschaftsbaues, die in den letzten Jahren realisiert wurden, sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen unseres derzeitigen Architekturschaffens auf. Um das Repertoire unserer Gestaltungsmittel zu handhaben, um aus den vielfältigen Bedingungen und Widersprüchen die den Bauprozess beeinflussen, nicht nur eine durchschnittlich gute, „in die Zeit passende“ Architekturqualität zu erzielen, sondern um auch „baukünstlerischen“ Neuwert zu schaffen, markiert das „Angereck“ auch in seinen Grenzen eine wichtige Entwicklungsetappe. Es ist lehrreich für Lehre und Praxis.

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