Klein- und Großarchitektur (1975)

Klein- und Großarchitektur
Olaf Weber , Vortrag auf einem Entwurfsseminar im Kasseturm Weimar 15.12.1975

Meine Damen und Herren!
Um dem Nachfolgenden den Anstrich von Theorie zu geben, die an dieser Stelle gewünscht wird, werden die nun anstehenden beiden Vorträge ohne Dias – also nur zu hören sein.
Das ist nicht beliebt, aber die Bilder sind starke Verlockungen und ich weiß um die Eigenschaft von Architekten vor den Konterfeis ihrer Produkte allzu schnell in subjektive Empfindungen, in Erinnerungen und die abenteurlichsten Assoziationen zu verfallen. Das ist eine Eigenschaft übrigens, die sie zu den besten Konsumenten ihrer Erzeugnisse stempelt, aber Erkenntnisse gewinnen, das verlangt etwas anderes.

Das Problem „Kleinarchitektur“ oder wie immer es genannt wird, besteht natürlich objektiv. Das heißt es gibt einen Freiraum, der schwach gestaltet ist und es gibt eine gesellschaftliche Situation, die dieses Problem auf die Tagesordnung setzt. Die Situation ist gekennzeichnet durch ein Bedürfnis nach allseitig funktionierendem Außenraummobiliar und durch die heranreifende Möglichkeit, dieses Bedürfnis materiell-technisch und konzeptionell abzudecken. Ich möchte aber sogleich auf 3 Gefahren hinweisen, die mit unserer Hinwendung zu diesem Umweltbereich zusammenhängen.

  1. Wir dürfen das Problem nicht dadurch verniedlichen, daß wir versuchen durch Gartenbänke, Straßenlaternen und Hinweisschildchen aus Betonklötzen Architektur machen zu wollen und aus einer Ansammlung dieser Klötzer mit Hilfe der Kleinarchitektur zum Städtebau emporzusteigen. Die Kleinarchitektur sollte aus Sicht der Erkenntnis die Probleme der Großarchitektur nicht zudecken, preisgünstig verschleiern, sondern diese verdeutlichen.
  2. Wir sollten uns hüten, mit der baulichen Detaillierung des Außenraumes einen Perfektionismus zu verbinden, der „vom Städtebau bis zum Sofakissen“ (die bekannte Formel des Deutschen Werkbundes) die komplexe Umweltgestaltung als stilaalglatte Reinheit versteht, in der eine widersprüchliche Lebendigkeit der Formensprachen nur als Störfaktor behandelt wird. Und wir sollten
  3. Im Falle der Kleinarchitektur nicht voreilig von einer Synthese von Architektur und Formgestaltung sprechen, denn das jahrelang diskutierte Syntheseproblem von Architektur und bildender Kunst lehrt uns die geringfügige Effizienz einer solchen Diskussion, solange die beiden zu synthetisierenden Teile nicht jeder für sich eine bestimmte Qualitätsstufe erreicht haben. Wir sollten dagegen
  4. Das Thema Kleinarchitektur auch dazu benutzen, um das Thema „Großarchitektur zu behandeln und zwar solche Aspekte daran, die sich uns im Kleinen deutlicher stellen. Das heißt, wir sollten auf diesem Entwurfskolloqium zwar Gestaltungsfragen des Außenraumdetails untersuchen, aber uns daran zugleich in architektonischen und städtebaulichen Problemlösungen schulen. Das Zusammentreffen von Architekten und Formgestaltern kann so zu einer interdisziplinären Überprüfung der eigenen Konzeptionen führen.

Ich glaube, daß die industrielle Formgebung heute in verschiedenen Aspekten der Theorie, der Organisation und der Gestaltung einen Vorsprung gegenüber der Architektur besitzt. Sicherlich ist einer der Gründe dafür die Tatsache, daß sie eine sehr junge Disziplin ist, die sich erst mit der industriellen Revolution, der Teilung der Arbeit und der Serienproduktion entwickelt hat, während die Architekten nur mühselig den Ballast ihrer handwerklichen Tradition ablegen und antiquierte Künstlerprivilegien aufzugeben bereit sind. Architekten, wo sie überhaupt in die Position kommen, über Form zu sprechen, argumentieren rein ästhetisch und verstecken sich zuletzt hinter ihrem Gefühl. Sie bringen die Form weder mit der praktischen Tätigkeit der Nutzer, die entscheidend von der Formgebung beeinflußt wird, noch mit wissenschaftlichem Denken in Zusammenhang, durch das die Beziehung von Formgebung und Nutzerverhalten aufgedeckt werden könnte. Mir scheint das der entscheidende Grund zu sein für das geringe Gewicht, das den Argumenten der Architekten in der Öffentlichkeit gegeben wird. Wenn wir Formprobleme nur im traditionellen Gewand der Kunst diskutieren, dann entgeht uns die Fülle von Einflüssen der architektonischen Form auf den Menschen und wir können diese Probleme im Bewußtsein unserer Zeitgenossen nicht so wichtig machen, wie sie nun einmal sind. Die Form einer Tür ist nicht nur schön oder häßlich, sondern sie lädt mich auch zum Eintritt ein oder eben nicht. Die Gestalt eines Hochhauses hilft mir bei der Orientierung, die Farbe des Telefonhäuschens verweist auf die Post, die Form eines Platzes erzählt von seiner Nutzung usw.. Die Form erhält also bereits durch Anschauung einen Gebrauchswert. Die Erscheinung ist funktionalisiert und die Wahrnehmung ist Teil und Vorwegnahme der Nutzung.

Welche Aufgabe hat also das Gestalten? Ich will drei Stufen unterscheiden. Die erste betrifft eine allgemeine Angleichung der Form an die herrschende Norm, d.h. wir geben dem Neuen die Form von Bekanntem, z.B. dessen, was im Augenblick als modern angesehen wird. Bleibt die Gestaltung (wie allzu oft) auf dieser Stelle stehen, dann ist sie nur formalistisch, statisch und passiv. Ist das aber nur die erste Stufe oder besser: ein Aspekt des Gestaltungssystems, so müssen wir sie verstehen als Herstellen eines kommunikativen Kontakts zum Nutzer. Der erkennt nämlich nur die Form, die er ähnlich schon im Bewußtsein gespeichert hat, die also auch in seinem Formenrepertoire enthalten ist. Die zweite Niveaustufe besteht darin, der Form, die in der 1. Stufe erkannt worden ist, Bedeutungen zu verleihen, das heißt die Wirkungen von Form durch Assoziationen, die sie hervorrufen zu steuern. Wir wissen jeder für uns, was eine architektonische Form auf diese Weise alles bedeuten kann. Sie kann Informationen über gesellschaftliche und soziale Verhältnisse, über die Herstellungstechnologie, über Ereignisse in ihr usw. enthalten, Stimmungen, Aktivität vermitteln, zu einer Handlung oder einer Haltung auffordern usw.. Mit der praktischen Nutzung haben solche Bedeutungen mehr oder weniger zu tun, sie sind mehr oder weniger unabhängig von der Architektur. Die dritte und höchste Stufe der architektonischen Gestaltung ist aber, alle Bedeutungen an der Totalität der Nutzung zu reflektieren. Dabei hat die Gestaltung die integrale Funktion, die Architektur dem Nutzer verfügbar zu machen, in dem sie die Möglichkeiten und gesellschaftlichen Tendenzen der Nutzung zum Ausdruck bringt. Sie vermittelt das bauliche Material an die Praxis der Nutzung und sie befähigt damit den Nutzer für den Gebrauch von Architektur. Das physikalische des baulichen Materials tritt dem Menschen als eine Naturgegebenheit gegenüber, erst durch eine soziale Konvention des Gebrauchs erhält es einen Gebrauchswert und erst durch den Ausdruck dieses Gebrauchswertes wird es für den Nutzer verfügbar. Anders gesagt, Architektur muß seinen praktischen Verwendungszweck mitteilen.

Wenn wir nun noch die Offenheit des Ausdrucks, das heißt die geistige Freiheit des Nutzers der Architektur gegenüber einkalkulieren, dann haben wir den Sinn der Gestaltung aus der Sicht der Nutzung erfaßt. Die Menschen haben nämlich das Bedürfnis, eine Menge ihrer Gedanken, Gefühle, Empfindungen usw., also einen Teil ihres Bewußtseins in ihrer gegenständlichen Umwelt abzulagern. Sie benutzen die Umwelt, besonders die Architektur als Informationsspeicher, den sie mit Bedeutungen aufladen und aus dem sie bei Gelegenheit einen Teil ihres eigenen, dort aufbewahrten Bewußtseins abberufen können. Wir müssen die Architektur also auch als leeren Speicher konzipieren, dem die Nutzer ihre privaten oder kollektiven Bedeutungen erst in der Nutzung geben können. Dazu ist es notwendig, die Identifikation der bedeutungstragenden Einheiten durch Unverwechselbarkeit sicherzustellen. Fassen wir zusammen: Gestaltung muß durch Verwendung bekannter Formen eine Sprachebene des Nutzers treffen, um einwirken zu können. Sie muß neben den Formen auch die Bedeutungen, d.h. die Assoziationen dieser Formen komponieren und das alles zu dem wesentlichen Zweck, den Nutzer für den Gebrauch von Architektur zu disponieren und sie soll dabei die Vergeistigung oder ich will es mal nennen die Besprechbarkeit der Formen durch die Nutzer garantieren.

Ich kann hier leider nicht darauf eingehen, wie die Bedeutungen an die Formen geknüpft sind. Es gibt einen Kode, das ist eine bewußte oder unbewußte Übereinkunft, die, wenn wir eine Form sehen, auch deren Bedeutung in uns wachruft. Er kann durch bildhafte Ähnlichkeiten oder logisch-kausale Relationen verstärkt werden, jedenfalls ist diese Beziehung weder direkt noch eindeutig, sondern stark vermittelt, labil, mehrdeutig, das ganze Bewußtsein umfassend und auf dieser Ebene wieder künstlerisch. Hier geraten wir aber schon zu stark in die Bedeutungslehre. Was gibt uns diese nutzungsorientierte Gestaltungslehre für unser Thema?

Natürlich ist der Titel meines Beitrages „Klein- und Großarchitektur“ nur eine literarische Metapher, keine neue begriffliche Klassifikation und es handelt sich auch nicht primär um eine Frage der Dimension, sondern der Qualität. Was ist das also: „Kleinarchitektur“?

Wir sollten nicht von dem Begriff sondern von den Gegenständen ausgehen, die wir dem Problemkreis zuordnen und zwar nicht von den Gegenständen „an sich“, sondern von den Gegenständen „für uns“, also von den Beziehungen der Gegenstände zum Nutzer, von den Funktionen der Gegenstände gegenüber dem Nutzer. „Gegenstände“ der Gestaltung sind aber nicht nur die Körper, sondern auch das Leere, die Zuordnungen zwischen ihnen.

Zur ersten Gruppe möchte ich solche technischen Gegenstände zählen, wie die Straßenbeleuchtung, Abwassergullis, die Oberleitung der Straßenbahn usw.. Solche Objekte besitzen ihre Hauptfunktion gegenüber anderen Bereichen (gegenüber dem abzuleitenden Regenwasser, der stromabnehmenden Straßenbahn usw.) und erst mit diesen zusammen bilden sie ein für uns funktionierendes, zweckdienliches System. Allein haben sie keine praktische Funktion. Der unmittelbare Kontakt zum Menschen ist nur visuell und der bereitet keinen praktischen Kontakt vor. Dagegen besitzen die Gegenstände der zweiten Gruppe keinen anderen als einen visuellen, informationellen Kontakt zum Menschen. Das sind reine Kommunikationsmittel (Hinweisschilder, Werbung, Leuchtreklame, Ampeln …). Sie vermitteln oft sehr starke Verhaltensimpulse. Aber diese Aufforderungen können durch reine intelligible Leistungen der Nutzer (die gegenüber diesen Objekten nur Nachrichtenempfänger sind) angenommen oder abgelehnt werden. Der Inhalt der Informationen wird nicht ergänzt durch eine physikalische Funktion des Trägermaterials (der Schilder, Leuchtstoffröhren usw.), denn der Trägerstoff ist für den Nutzer nichts anderes als eben der Träger einer Information, die etwas anderes als das Material selbst darstellt.

In der dritten und vierten Gruppe ist die technische und informationelle Funktion wie bei 1. und 2. vorhanden, aber was ausgedrückt wird, das wird auch materiell determiniert. Die dritte Gruppe wird durch Miniarchitekur gebildet, wie Telefonhäuschen, Kioske, Läden Freiflächengestaltung (von Pflasterung, Treppen, Podesten) usw., die vierte durch Gebrauchsgegenstände des Außenraumes wie Papierkörbe, Parkbänke, Feuermelder, Briefkästen. In beiden verwirklicht sich die praktische Funktion durch die Überlagerung von physikalischen und informationellen Qualitäten. Die Gegenstände werden synästhetisch, hier: durch Anschauung und Gebrauch wahrgenommen. Die Einheit der Wahrnehmung wird gewährleistet, indem die Nutzbarkeit der Gegenstände und ihre sich historisch wandelnde tatsächliche Verwendungsweise in den stabilen und variablen Aspekten des Kodes der Formsprache wiederkehrt. Miniarchitektur und Gebrauchsgegenstände des Außenraumes haben zum Nutzer komplexere Beziehungen als technische und Kommunikationsmittel. Sie gehören der universellsten Gegenstandsklasse unserer Umwelt an. Worin aber unterscheiden sie sich? Wir können diese Frage am Besten am Unterschied von Architektur und Formgestaltung andeuten, in deren Spannungsfeld auch die qualitative Position dessen zu bestimmen ist, was hier Kleinarchitektur genannt wird. Hier sollen einige (beileibe nicht alle) Verschiedenheiten im Konsumtionsbereich genannt werden.

Ausgangspunkt ist wiederum die Gebrauchsweise. Nehmen wir eine Küchenmaschine; wo heißt es, das Ding anzufassen, Knopf zu drücken, in den Teig zu halten, so und so lange, abstellen, Gerät reinigen usw.. Charakteristisch ist der direkte physiologische Kontakt zum Gebrauchsgegenstand, der durch den Begriff „Handhabung“ beschrieben wird. Architektur wird anders gebraucht. Wir haben mit der Architektur kaum unmittelbare Berührungen, sondern wir nutzen die Räume zwischen den Körpern und treten in ganz unterschiedlichem Maße in den Aktionsradius seiner materiellen Funktionen. Vergleichen wir z.B. den Autofahrer, der die Autobahn bei Jena vorbeifährt, mit dem Betreten und Bewohnen eines Hauses. Es ist weitaus schwieriger, wenn nicht unmöglich, eine Stadt auszuprobieren wie einen Staubsauger. Umso wichtiger ist die Antizipation des Gebrauchs in der Wahrnehmung. Der Gebrauch der Architektur wird durch diese viel weniger vordeterminiert als bei einem Gebrauchsgegenstand. Das heißt, Architektur ist nicht nur informationeller Hintergrund, sondern auch praktischer background.

Um es anschaulich zu machen: die Gebrauchsgegenstände werden mit den Händen, die Architektur mit den Füßen genutzt.

Die prägende Kraft der Architektur liegt nicht in der Intensität, sondern in der Dauer der Einwirkung. Auch hier liegt die Kleinarchitektur sicherlich zwischen beiden Polen. Alles, was mit der Küchenmaschine anzustellen ist, kann in einer Gebrauchsanweisung dargestellt werden. Architektur muß sich dagegen selbst mitteilen. Der Zeitungsartikel eines Architekten oder die vorhin beschriebenen kommunikativen Hilfszeichen (Hinweisschilder usw.) sind nur Fragmente von Gebrauchsanweisungen. Sie sind nicht in der Lage, die Architektur dem Nutzer zuzueignen.
Das liegt sicher auch in der stark stereotypen Verwendung der Gebrauchsgegenstände, währenddessen die Variationen der architektonischen Nutzung vielfältiger sind. Deshalb müssen wir auch Namen für Bauliches erfinden, wie „Goetheplatz“, „Schillerstraße“, wenn wir uns über Architektur sprachlich verständigen wollen. Niemand sagt aber: „Hole mal die Omega-Yvette“ sondern: „Hole mal den Staubsauger!“. Das heißt, für Gebrauchsgegenstände haben wir viel öfter Funktionsbezeichnungen, für Architektur aber abstrakte Namen, die nichts mit der baulichen Nutzung zu tun haben. Auch im technischen Ausdruck sind große Unterschiede vorhanden. Das Bedürfnis nach technischem Wissen und nach Bestätigung des Wissens ist heute sehr stark und auch Architektur muß dieses Bedürfnis in seinem Bereich erfüllen. Der Nutzer und Betrachter wird zum Ingenieur, der in der Form die technisch-technologischen Parameter, das innere Funktionieren des Organismus ablesen will.
Neben stofflichen Besonderheiten gilt das Interesse bei Gebrauchsgegenständen ihrer inneren Technologie und Mechanik, während sich das technische Interesse in Architektur auf Herstellungstechnologie, Konstruktion und Kräfteverlauf erstreckt. Wir sollten auch daran denken, solche Bedürfnisse in der Erscheinung zu berücksichtigen.

Letztlich will ich noch auf die Offenheit unserer Gegenstände für beliebige Bedeutungen hinweisen. Gebrauchsgegenstände, die nicht gesellschaftlich genutzt werden, werden auch nur mit privaten Bedeutungen gefüllt, aber die informationelle Speicherfähigkeit der Architektur ist der öffentlichen Nutzung zugänglich. Sie muß sprachlichen Vereinbarungen gegenüber offen sein.
Und zuallerletzt muß noch das Problem der Teilnahme des Nutzers genannt werden. Gebrauchsgegenstände, solange sie in Varianten angeboten werden, werden vom Nutzer ausgewählt. Die Auswahl (Selektion) ist sein Entscheidungsfeld.

Bauwerke dagegen können, einmal entstanden, im augenblicklichen Entwicklungsstand der Bauproduktion vom Nutzer nur geringfügig modifiziert werden. Aber im Bereich der Detaillierung des Außenraumes ist für die Nutzer sowohl die Auswahl angebotener Produkte als auch deren Arrangement als Form der Gestaltung möglich. Kleinarchitektur ist deshalb auch als Feld sich anbahnender Zusammenarbeit von Architekten und Formgestaltern einerseits und Nutzern andererseits von besonderem Interesse.

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