Die Stadt als Text (1974)

Olaf Weber, Rede auf einem Autoren-Treffen des Aufbau-Verlages Berlin 1974 (Fragmente)
Die Stadt als Text

Ich habe mich 5 Stunden lang vorbereitet, spreche eine Stunde, also sind in meiner Rede fünfmal mehr Gedanken als Wörter enthalten.

Literaten haben zur Stadt, als die den Menschen umgebende Kulturlandschaft eine sehr intensive, sinnliche Beziehung – und sie produzieren Texte. Der Titel „Die Stadt als Text“ muss deshalb ausgesprochen suggestiv zum Besuch dieser Veranstaltung eingeladen haben.

Mein Ziel ist es heute Abend, die Textlichkeit der Stadt von ihrem metaphorischen Charakter etwas zu befreien. Wissenschaft hält es weder mit der redundanten Phrase noch mit der abkürzenden Metapher aus. Sie muss logisch kontrollierbare Ableitungen produzieren. Der Titel des Abends stammt leider nicht von mir, er ist von B. Schneider. Ich habe ihn gewählt weil er so günstig die Gemeinsamkeit formuliert, auf der wir uns vielleicht heute Abend treffen können.

Zur historischen Architektur?
Neubauviertel haben Ausdruck? Monotonie durch mangelhafte Vorbereitung und zwar technisch-ökonomische (also materielle), ästhetische (also ideelle) und demokratische (also soziale) Vorbereitung.
Noch nie so wenig Gedanken in Architektur
Verhältnis von Bewohnern und geistigem Bestandteil
Von Innovation und Beton
Von mangelnder Einflussfaktoren und von Gestaltungsabsichten einerseits und den Baumassen andererseits
Noch nie war der Beton so wenig mit Geistigem beseelt wie heute.
Wenn das eine kritische Bemerkung ist, dann richtet sie sich nicht gegen das Wohnungsbauprogramm, sondern gegen den Kampagniencharakter, der immer mehr ein spontaner als ein dialektischer Sprung ist.
Programm ist sozial großartig aber nicht architektonisch großartig.

  1. Entschuldigung Einleitung
  2. Kritik? WBS 70 Partei
  3. Stadt
  4. Text
  5. Beziehungen Stadt als Text
  6. Kommunikation (3x)
  7. Einflußnahme (3x)
  8. Zeichen
  9. Rhetorik
  10. Inhalt der arch. Komm.
  11. Oberfläche – Tiefe
  12. Entwicklung der DDR- Symbolik
  13. Halle Untersuchungen
  14. Grammatik – Entwerfen Kreativität
  15. zu Monotonie, gesellschaftl., politische Dimension, Dezentralisierung
  16. Stadt als Text. S. 48 (Ponowsky)
  17. Gotik als Ausdruck scholastischen Denkens Homologie
  18. Form – Substanz

Ein Text – nun, hier will ich mich kurz fassen, Sie haben ja alle mit Texten zu tun
Text – das ist ein realisiertes Stück Sprache oder
ist eine strukturierte Äußerung
ist ein Vehikel zur Kommunikation
ist ein endliches System von Zeichen
Ich habe hier die Definition besonders allgemein gehalten, damit Sie nicht nur Ihre literarischen Texte, sondern ich auch die Architektur darin unterkriege.
Eine Sprache ist ein System von Zeichen, dass einer Gruppe von Interpretanten, also einer Sprachgemeinschaft gemeinsam ist. Die Zeichen müssen dabei beschränkt und nach Regeln kombinierbar sein und sie müssen in den verschiedenen Situationen des Textes, in denen sie auftreten, eine gewisse Konstanz der Bedeutung besitzen, sie müssen plurisituational sein.

Eine solche Definition ist schon nicht mehr eine linguistische Definition, sondern eine Definition der Semiotik, d.h. der allgemeinsten Sprachwissenschaft. Die Semiotik hat sich heraus gebildet, als immer offensichtlicher wurde, dass der Mensch über viele Kanäle kommuniziert und dass alle diese Kanäle etwas Gemeinsames haben. Jede Tätigkeit des Menschen besitzt z.B. einen kommunikativen Aspekt. Der direkte kommunikative Aspekt jedes äußeren Verhalten des Menschen ist gestisch, unabhängig von der Bewusstheit dieser gestischen Kommunikation. Werden bei dieser Tätigkeit Gegenstände gebildet oder verformt, so wird zusätzlich dieses Produkt zum Informationsträger. Informationstragende Produkte des Menschen sind auf diese Weise tatsächlich alle künstlichen Gegenstände, vom Sofakissen bis zum Städtebau. Wir leben nicht nur in einer Umwelt zwischen Plüsch und Beton, sondern vor allem in einer Umwelt von Ideen, die an den Gegenständen haften.

Die Entschlüsselung dieser gegenständlichen Information ist aber nicht nur Privatsache jedes Einzelnen weil sie Sprachcharakter besitzt, also sozialkulturell codifiziert ist. Wir sind also in unserer Wahrnehmung sehr abhängig von gegenwärtigen und vergangenen Kulturzuständen.

Weil die nicht immer gut waren und sind, leben wir inmitten der uns umgebenden Gegenstände auch mit einer informationellen Umweltverschmutzung, die der physikalischen an Wirkungsintensität nicht nachsteht. Die gesellschaftliche Um- und Vorwelt beeinflusst uns zum Einen durch die Signalstruktur, die der gegenständlichen Umwelt gegeben wurde, zum Anderen aber durch die in uns verinnerlichten Interpretationscodes dieser Zeichen. Vieler dieser Interpretationscodes wirken unbewußt in uns. Eine Stadt erkennen heißt deshalb auch, die Intensionen und Bedingungen erkennen, die zu diesem oder jenem Interpretationsmuster geführt haben.

Ich kann hier nicht näher darauf eingehen. Wir müssen ein stärkeres Bewusstsein von der Künstlichkeit unserer Umwelt gewinnen, also davon, dass alles schon sozialkulturell in diesem oder jenem Sinn vorinterpretiert ist.

Architektur steht inmitten dieses vielschichtigen Kommunikationsprozesses.
Sie hat zur Kommunikation 2 wichtige Beziehungen.

  1. Vermittler von Kommunikation – sie organisiert das räumliche Zusammentreffen von Menschen zu Zwecken des Informationsaustausches. (Versammlungsräume)
  2. Mittel der Kommunikation. Sie ist selbst Träger von Nachrichten.

Eine Nachricht ist nicht nur etwas, das auf unser rationales Bewußtsein trifft und dort Spuren hinterlässt, sondern sie kann auch emotional wirken, kann Motivationen verändern oder verhaltenswirksam sein. Das Kommunikationsschema der Nachrichtenübertragung entsteht aus einem Sender, einem Kommunikationsmittel und einem Empfänger. Sender und Empfänger müssen über einen gleichen oder ähnlichen Signalvorrat und Interpretationsschlüssel verfügen, sonst ist keine Verständigung möglich.

Frage: Wer ist der Sender? Der Architekt?

Der Einfluss des Architekten auf den Formgebungsprozeß ist eher gering.
Wer ist der die Architektur produzierender Teil der Gesellschaft?
Form wird nicht nur bewusst hervorgebracht, sie entsteht auch, wird durch Faktoren erzeugt, die sich außerhalb unserer Reichweite befinden; d.h. auch diese Faktoren sind Sender, sie bringen etwas in die Architekturform ein. Dazu gehören natürlich die Technik und die Technologie der Bauproduktion, die die Architektur der Stadt sehr stark determinieren, sich aber selbst sehr verselbstständigt haben. Sie drücken unseren Städten zunehmend ihren Stempel auf, den die Technologien gegossen haben. Das sind sozusagen gegenständliche Sender, sie sind zwar vom Menschen programmiert, aber aus einem ganz anderen Zwecke: Sie sollen nur materiell produzieren und dabei speien sie Informationen aus. Sie sollen nur Betonplatten herstellen und was machen diese Technologien? Sie produzieren Formen, Gestalten und weiter: Lebensweisen, Empfindungen, Gefühle, ästhetische Wertsysteme.

Aber auch andere Vergegenständlichungen bilden Quellen, aus denen bauliche Information hervorgeht, z. B. der politische organisatorische Apparat, d.h. die Art und Weise, wie wir das Hervorbringen von Architektur verwalten. An welcher Stelle der Verwaltung werden solche Entscheidungen getroffen? Die Antwort auf diese Frage prägt schon unabhängig vom Inhalt der zu treffenden Entscheidung das Ergebnis, entscheidet z.B. über Monotonie und Vielfalt.
(Ich werde darauf zurückkommen)

Also die Frage, was bei uns eigentlich die Architektur hervorbringt, ist keineswegs klar und es müsste einiges getan werden, um diesen Prozeß durchsichtiger zu machen.
Nehmen wir aber mal an, wir hätten den Architektur produzierenden Teil unserer Gesellschaft definiert, es gibt also einen Sender, der in das Kommunikationsvehikel Architektur seine Botschaften einbringt. Er hätte drei Möglichkeiten der Einflussnahme:

1. Die aggressivste Form der Kommunikation, die keinen Widerstand, keinen Einspruch des Empfängers duldet. Sie versucht die Aktivität des Empfängers auszuschalten, versucht ihn, meist persuasiv, also unbewusst wirkend zu beeinflussen. Sie werden sagen, Architektur ist niemals in der Lage, einen solchen Einfluß auszuüben. Richtig ist das für einen einzigen Kontakt mit ihr. Da empfindet man mehr neutrale Information, vielleicht einen Hinweis, eine Empfehlung, in ein Geschäft z.B. einzutreten. Aber Architektur wirkt langsam. Sie schleicht sich über Jahre hinweg in unser Bewusstsein ein und prägt – ohne dass wir es oft wissen- unser städtisches Verhalten. In dieser Dauerwirkung, der wir uns nicht entziehen können, ist Architektur keineswegs nur informationeller Hintergrund, sondern aktives Reizmedium. Der Sender versucht bei dieser Art von Kommunikation seinen Einfluß auf den Empfänger zu maximieren, d.h., er versucht möglichst viel an eigenem Bewusstsein im Empfänger zu reproduzieren, er will über den Kommunikationsprozeß hinweg die Identität seiner Nachricht erhalten. Er darf dabei den Bogen nicht überspannen, muß die Vorkenntnis und die Motivation des Empfängers kennen und entsprechend die Innovation dosieren. Es gibt dabei eine Schwelle (psych. Maja –Schwelle) vor der die Innovation so hoch ist, dass sie maximale Einstellungsänderung beim Empfänger hervorruft und von diesem gerade noch akzeptiert wird. Überschreitet die Innovation diese Schwelle, bewirkt sie gar nichts mehr, weil der Empfänger nicht mehr bereit ist, diese hohe Innovationsrate zu akzeptieren, die Aufmerksamkeit bricht zusammen, er wendet sich in einer Kontrastreaktion ab. Das ist der so genannte Bummerang – Effekt. Auch die untere Schwelle der Information ist wichtig – das Minimum an Informationszuwachs. Unter diesem bricht die Aufmerksamkeit ebenfalls zusammen. (Langeweile…. Informationsretundanz). Natürlich versucht auch der Empfänger gewissermaßen aus Persönlichkeitsschutz dem Einfluß des Senders Widerstand entgegenzusetzen. Diese greift deshalb zum rhetorischen Mittel der Überzeugung. Die Mittel der Rhetorik spielen in der Architektur eine große Rolle

2. Die zweite Ebene der Einflussnahme ist weniger zielgerichtet. Der Sender formt die Nachricht nur vor, sie wird in der Rezeption vervollständigt, moduliert und interpretiert. Der Rezipient ist also aktiv an der Formulierung der Nachricht beteiligt, er vollendet sie durch seine eigene Interpretation. Diese Form der Kommunikation ist weniger dramatisch, aber sie ist wesentlich vielschichtiger und differenzierter. Hier ist Kommunikation keine Einbahnstraße. Der Rezipient wird zur aktiven Auseinandersetzung mit der Nachricht ermuntert. Er ist gegenüber dem Sender emanzipiert. (Kunst)

3. Letztlich ist die 3. Ebene der Kommunikation nur ein Bereitstellen von leeren Informationsspeichern, die erst der Empfänger entsprechend seinen konkreten Bedürfnissen mit subjektiven Informationen ausfüllt.

In der Stadt spielen solche leeren Speicher eine große Rolle. Jedermann kann an jede beliebige Hausecke eine bestimmte Stimmung, einen bestimmten Gedanken oder ein bestimmtes Ereignis als Info diesem Mauerwerk anheften. Beim Nächsten Wahrnehmungskontakt wird dann diese Information als Erinnerung wieder frei. Wir codifizieren ständig Partikel unseres Bewusstseins an unserer gegenständlichen Umwelt, um sie später wieder von dort abzuheben. Architektur ist ein beständiger Speicher, der Informationen gut lokalisiert. Wir bereichern dadurch mit der Zeit immer mehr unsere Wahrnehmung –einfach indem wir unsere möglicherweise langweilige Umwelt immer mehr subjektiv aufladen.

Natürlich eignet sich nicht jede ungestalte oder 1000-fach wiederholte Form, um daran Informationen zu befestigen. Es müssen Gestalten sein, die ihre Prägnanz durch Kontur, Farbe, Lage usw. erhalten und dadurch als unsere Informationsträger identifizierbar werden. Solche informationsaufnahme und –abgabe bereiten Gestalten zu schaffen ist in dieser 3. Kommunikationsebene die wichtigste Aufgabe des Architekten.

Um noch mal auf die Rhetorik zurückzukommen:

1. Begriff der Rhetorik:
Überzeugung = Leistungsoption der Kommunikation. (nein)
Beeinflussung und Zustimmung des Senders durch
Vermittlung von etwas Neuem, Was er noch nicht wusste, glaubte, ratifizierte, fühlte
Das Neue ist glaubwürdig, verständlich, es ist im Wertesystem einordenbar

2. Begriff der Rhetorik:
Trick, Beeinflussung
weder wahr noch falsch
Argumentationstechnik, Dramaturgie der Rezeption
Anwendung von üblicher Rede aber allmähliche Aufnahme der Innovation in die sprachliche Norm.

3. Begriff der Rhetorik:
(Kommunikation) nicht nur Übertragung einer vorausgesetzten Wahrheit, sondern
Strategie der dialektischen Diskussion, Technik des Problemdenkens (vgl.Alt-Neu-Rekonstruktion)
auf die Gegenargumente des Alten eingehen,
Überzeugungserfolg ist abhängig davon, inwieweit auf Gegenargumente eingegangen wird.)

  1. Aufmerksamkeitserzeugnis, Adressatenkontakt
  2. polemische Verunsicherung der alten Vorstellungen
  3. Entwicklung des neuen Modells
  4. Rücknahme der Aufmerksamkeit, Adressat ist befriedigt, satuiert.

Vielleicht klingt Ihnen vor allem die zuerst genannte, die rhetorische Ebene der Kommunikation ein bisschen zu sehr nach Werbung und Reklame, jedenfalls was die Mittel der Überzeugung anbelangt. Aber zum Glück gibt es in der Architektur einen starken ethischen Faktor, der mit der Doppelfunktion der Architektur –nämlich einerseits Informationsträger und andererseits materielle Hülle des Lebens der Menschen zu sein, zusammenhängt.

Architektur soll nichts suggerieren, was den Nutzern als Element ihrer Lebenstätigkeit fremd ist. Auch architektonische Kommunikation soll die Menschen als Mündige betrachten und sie gleichzeitig mündig machen. Und das heißt in Architektur, sie soll die Menschen befähigen, ihr sozialräumliches Verhalten in Architektur selbst zu organisieren.

Damit sind wir beim Inhalt der architektonischen Information. Architektur ist kein universales Kommunikationsmittel wie etwa unsere Verbalsprache, mit der wir mehr oder weniger umständlich alles ausdrücken können. Mittels Beton und Mauersteinen kann man sich nicht unterhalten. Die Aussagen der Architektur entsprechen der spezifischen Rolle, die sie in unserem Leben spielt. Architektur ist in erster Linie materielle Hülle, Ver- und Entsorgungselement für den Menschen. Man gebraucht sie, indem man in ihr lebt. Die bauliche Information hat deshalb vorrangig die Aufgabe, die Architektur dem Menschen verfügbar zu machen. Sie wird verfügbar, indem ihre Gebrauchswerteigenschaften bekannt werden. Dazu werden Zeichen, Symbole und architektonische Codierungen eingesetzt. Dabei wird einiges apodiktisch behauptet: Unter ein Dach kann man sich bei Regen stellen.

Anderes wird empfohlen: Eine Treppe kann man hinaufgehen (aber man kann sich auch darauf setzen), und weiteres wird nur angeregt: In einem Café kann man sich auch unterhalten. Dazu werden Zeichen, Symbole und architektonische Codierungen eingesetzt. um die Qualität der Lebenstätigkeit zu entfalten und zwar politisch, ethisch, ökonomisch, ästhetisch usw.. Die Gesellschaft aber und die gesellschaftliche Ideologie sollen sich nicht mühsam in Bildbeiwerk und Schnörkeln codifizieren wie in der ehemaligen Stalinallee, weil sich Gesellschaft in Architektur immer widerspiegelt und zwar sehr genau abbildet.

Ponowsky hat sehr genau die Homologie zwischen der gotischen Architektur und dem scholastischen Denken nachgewiesen. Natürlich gilt das auch für den Sozialismus: Auch in unserer Architektur spiegelt sich unsere Gesellschaft.

Kurzum: über Gebrauchswerteigenschaften wird informiert dadurch wird Lebensweise ausgedrückt und die Gesellschaft widergespiegelt.

Betrachten wir den Text der baulichen Landschaft nun aus der Sicht der Semiotik, also als Zeichensystem. Die Semiotik hat eine Menge Klassifikationen produziert und damit natürlich eine theoretische Differenziertheit ihres Gegenstandes geschaffen ohne die eine Wissenschaft nicht auskommt. Ich will hier nur eine einzige solche Differenzierung herausgreifen, nämlich die Einteilung der Zeichen in Ikon, Index und Symbol. Dazu folgende Einleitung: Die Semiotik unterscheidet(das geht auch auf de Saussure zurück) 2 Bestandteile des Zeichens, das Bezeichnende und das Bezeichnete.

Zwischen ihnen können dreierlei Beziehungen herrschen:
Ähnlichkeit, Kausalität (Logik) und Konvention
Am Beispiel Symbolbauten : Henselmann – Jena, Rostock, Erfurt, Magdeburg, Plauen, Schwerin
Das Thema „Universität“ lässt sich danach ausdrücken:

  • Buch oder Katheder (Ikon)
  • goldene Kugel (Konvention)(Symbol)
  • Aufzeigen der Gebrauchseigenschaften ablesbar machen (Index)

Architektonische Erscheinung als Text formulieren hat die Aufgabe, Architektur durchscheinend zu machen (und damit natürlich auch ein Stück Gesellschaft zur Transparenz zu bringen). Aber Transparenz in der Architektur erzeugen wir nicht nur mit Glas (das ist eine oberflächliche Form von Transparenz) sondern mit bedeutungstragenden Formen, an denen entsprechend eines kollektiven Kodes verschiedenes ablesbar ist. Was für das praktische Verhalten in Architektur übermittelt wird, das ist auf der Ebene der Makrotypik m.E. indexikalisch kodifiziert. Ich erkenne also ein Warenhaus, ein Bürogebäude, eine Gaststätte im Neubaugebiet an seiner zweckgebundenen Form, an der Funktionsabläufe „logisch“ ablesbar sind. Die subtileren Codes des Verhaltens werden dagegen stärker symbolisch repräsentiert. Ob die gastronomische Einrichtung eine Selbstbedienungsgaststätte , eine Studentenmensa, eine Kneipe oder ein Interhotelrestaurant ist, erkennen wir an Formdetails, die auch ganz anders sein könnten. Sie sind nur so, weil wir uns an sie gewöhnt haben, weil sie konventionalisiert sind. Ohne Konventionalisierung keine Identifizierung unserer Umwelt.

Die Textlichkeit der Literatur unterscheidet sich von der Textlichkeit der Architektur.
Eine unstimmige Analogie von Stadt und Sprachefinden wir meiner Ansicht nach bei F. de Saussure. Der Vater der modernen Sprachwissenschaft unterscheidet langue (Sprache) und parole (Rede). Die Langue (Sprache) entspricht der von einer historischen Gemeinschaft bereitgestellte „Schatz“ von sprachlichen Einheiten. Dieser wird im konkreten Sprechakt neu arrangiert und erhält durch die Phonetik seine substantielle Existenz (die Rede)

De Saussure nun will die Materialisierung der Rede aus der Linguistik heraushalten, Linguistik solle sich nur mit der langue (Sprache) also dem tradierten Sprachsystem als Inventar von Zeichen und von Regeln zu deren Kombination beschäftigen.

Bei aller Problematik dieser Ausklammerung der physischen Beschaffenheit in der Linguistik ist sie dort noch verständlich. Ob ich mit roter oder schwarzer Tinte, mit der Hand oder mit Schreibmaschine schreibe, ist für den Inhalt der geschriebenen Nachricht unwesentlich. Anders sieht es schon bei Werbegrafikern aus, wo Größe oder Schrifttyp oder bei Schauspielern, wo die phonetische Intonation wichtige Ausdrucksträger darstellen. In Architektur aber ist die Materialisierung einer Nachricht überhaupt keine Kleinigkeit.

In der Architektur kann u.U. das kleinste Detail ein wichtigerer Ausdrucksträger sein als die städtebauliche Dimension. De Saussure zieht aber gerade zwischen Urbanistik und (Gebäude-) architektur die Trennung von Linguistik und Phonetik. Er schreibt: „ Oder aber wenn eine Straße abgerissen, dann wieder aufgebaut wird, dann sagen wir, daß es dieselbe Straße ist, obwohl materiell vielleicht nichts mehr von der früheren Straße überdauert. Warum kann man eine Straße von Grund auf neu aufbauen, ohne daß sie aufhörte, dieselbe zu sein? Weil die Größe, die sie darstellt, nicht rein materiell ist, sie ist auf bestimmte Bedingungen gegründet, denen ihre zufällige Materie fremd ist, z.B. aus ihre Lage in Bezug auf andere…“ Er kommt zu dem Schluß, daß die architektonische Realisierung einer Stadt für deren Identität belanglos sei. Die Stadt reduziert sich damit auf ein formales Gerüst von Verkehrslinien, auf den Grundriß, auf den Stadtplan.

Können wir aber sagen, daß der Alexanderplatz von Heute noch der Alexanderplatz der 20-er Jahre ist? Hat die Prager Straße in Dresden mit dem Vorkriegszustand nicht nur noch die Lage und den Namen gemeinsam? Ist nicht das Wesentliche durch die Gebäude, die die Straße einfassen, verändert worden?

Ich glaube, hier müssen wir in der Architektur andere Schlüsse ziehen, vielleicht sogar die entgegengesetzten, z.B. den, daß wir von den kleineren Einheiten, den Gebäuden, die Stadt entwickeln müssen als umgekehrt die Häuser in ein ausgedachtes urbanes Gerüst zu pressen. Das entspräche auch de Saussures Lehre, denn laut de Saussure bestimmt das konkrete Sprechen , also die bauliche Realisierung die Entwicklung der Sprache, also der Stadt. Wir haben dagegen unsere Innovation im Städtebau angelegt, sind von den traditionellen Codes von Straße und Häuserflucht abgegangen und haben die offene Zeilenbebauung kreiert, die Häuser unterscheiden sich aber kaum von den Gründerzeitbauten, wenn denen die Schnörkel abgeklopft werden. Wir sollten umgekehrt neue Häuser und neue Wohnformen entwickeln aus denen ein neuer Städtebau hervorgehen kann. Wir sollten also architektonisch sprechen um eine neue Architektur zu entwickeln. Durch die Konzentration unseres Massenwohnungsbaues auf die WBS 70 bleibt aber wenig Gelegenheit, die Freiheit des Sprechens gegenüber der Sprache zu erproben.

Solche Fragen des Städtebaues sind aber stärker ideologischer Natur als daß sie durch linguistische Analogien entschieden werden sollten. Zu ihnen drückt sich etwas von der Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft aus.

Wir haben an der Bauakademie Eindrucksurteile mit Hilfe der semantischen Differenz in Halle- Neustadt untersucht. Daraus in Kürze einige Ergebnisse:

  1. Ein ideales Wohngebiet ist gegenüber Halle-Neustadt weiträumiger, „alles ist zu eng“.
  2. man wünscht sich die Architektur merkwürdigerweise mehr geordnet. Man kann sich das so erklären, dass im Ornungsbegriff weniger ein simples Gefüge gesehen wird, sondern eine Einprägsamkeit und Überschaubarkeit. In „Klarheit – Verworrenheit“ wird Halle-Neustadt als verworren eingeschätzt. Es wird keine schematische Ordnung favorisiert sondern eine dialektische, in der Vielfalt und Ordnung, Komplexität und Einfachheit, Information und Retundanz zusammen spielen.
  3. Wunsch nach Plastizität, mehr organisch Gewachsenes, mehr Transparenz
  4. Architektur sei zu monoton, uniform, einfallslos und uninteressant. Am wenigsten konnten sich die Befragten entscheiden, ob Architektur anregend oder entspannend, auffällig oder unauffällig, zurückhaltend oder aufdringlich sein sollte. Gesamt: Architektur zu wenig psychisch mobilisierend, anregend Anregen: zum Hinsehen, zu Sensibilität, zur Interpretation, zu neue Nutzungs- und Verhaltensweisen
  5. emotionale Ausdruckskraft, idyllisch, gemütlich, einladend, freundlich. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit. Wohngebiete sollen stimmungsvoll und vertraut sein, solide und elegant, Verspielte Überspitzung wird abgelehnt. Gut ist zwar stimmungsvoll aber nicht monumental.
  6. Halle Neustadt wurde überraschender Weise als relativ städtisch empfunden, während das Ideal mehr zum Ländlichen tendiert. nicht quirlige Lebendigkeit wird abgelehnt, sondern Höhe der Häuser und Dichte der Nachbarschaft. Man wohnt im Hause zu eng.

Die Letzten Aussagen stützen mit soziologischen und psychologischen Metaphern nur, was wir schon längst wissen: Architektur muß mehr Vielfalt, Ideen Anregung bereitstellen, damit die Bewohner sie umfassender nutzen und sich mit ihr identifizieren können. Das ist aber nicht so sehr ein Problem der Theorie als der Praxis –obwohl die praktizierenden Architekten lauthals nach mehr Theorie in Form von Gestaltungskriterien rufen, die wissenschaftlich abgesichert sein sollten und deshalb als Bollwerke vorgeschoben werden könnten gegen den Druck der technisch- ökonomischen Determination des Bauens. Ich bin der Meinung, daß es zwar notwendig ist, solche Kriterien, die immer nur notwendige niemals aber hinreichende Konzepte für Bauen sein können, schrittweise zu entwickeln, (dafür mache ich ja auch meine Arbeit). Aber die neue Kraft für besseres Bauen wird sich nur aus einer neuen Einstellung von uns allen zu unserer baulichen Umwelt und einem neuen Verfahren des Hervorbringens von Architektur (Sender?) entwickeln. Das Verhältnis von Bauvolumen (Baumasse) und den architektonischen Ideen war vielleicht noch nie so negativ für die letzteren wie heute, viel bauen – wenig Entscheidungen. Baustoffe sind dadurch geistlos geworden. Es käme darauf an, die Faktoren, die Vielfalt erzeugen, zur Wirkung kommen zu lassen – früher waren das auch die unterschiedlichen Besitzverhältnisse. Doch nichts wäre schlimmer als eine künstlich aufgepfropfte Vielfalt , sie als Talmi und Maske der Architektur vorzublenden oder nur im Beiwerk von Grün, Gebrauchsgrafik und bildender Kunst das Vielfaltsbedürfnis an der baulichen Umwelt trügerisch zu befriedigen. Ich glaube, Vielfalt entsteht nur durch vielfältige Konzepte und vielfältige Faktoren, die auf den Bauprozeß einwirken. Die gilt es zu entwickeln.

Dazu gehört m.E. eine Dezentralisierung der Entscheidungen und eine stärkere Demokratisierung des Architektur-Planungsprozesses. Die Nutzer müssen also stärker – direkt und durch örtliche Volksvertretungen – eingreifen. Die Architekten müssen deren Vorschläge mit Einfühlungsvermögen und mit adäquaten theoretischen Konzepten – wie das von der Stadt als Text – architektonisch modifizieren.

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