Vortrag zur Dissertation „Architektur als Kommunikationsmittel“ (1974)

Olaf Weber, Dissertationsverteidigung Weimar, 30.5.1974

Sehr verehrte Damen und Herren!
Die vorliegende Dissertationsschrift ist ein Beitrag von Architekten zur Überwindung ihrer Selbstisolation im Planungskollektiv. Viele Architekten gefallen sich immer noch in ihrer Rolle als Zaungast der Wissenschaftsentwicklung, indem sie auf dem Anspruch beharren, in Fragen der Form subjektivistisch urteilen zu können und sich auf ihr künstlerisches Gefühl berufen. Dieses Zurückziehen in Sphären unkontrollierter Individualität zieht nicht nur ein eigentümliches Spannungsverhältnis zu den Vergesellschaftungsprozessen der Bauproduktion und zur Rationalisierung nicht-künstlerischer Aspekte des Gestaltens nach sich, sondern es reduziert vor allem die Effektivität gestalterischer Entscheidungen – und zwar auf zweierlei Weise:

1. Die Architekten tun sich schwer darin, ihre Gestaltungsvorschläge sowohl gegenüber anderen, am Planungsprozeß beteiligten Kollegen, als auch gegenüber dem Auftraggeber begrifflich, also rational zu verteidigen.
2. Ihre Entscheidungen sind selbst meist nicht die bestmöglichen, weil wissenschaftliche Erkenntnisse nicht als Entscheidungshilfen genutzt werden.

Dabei sollten wir aber im Auge behalten, daß die Wissenschaft nicht das praktische Gestalten ersetzen kann. Aber -wenn es uns um Emotionen gehen sollte –das Wissen verhindert diese nicht nur nicht, sondern ermöglicht es sogar, die emotionalen Momente der Gestaltung qualitativ zu entwickeln.

Zum begrifflichen Inventar einer Formgestaltungslehre in der Architektur gehören auch solche Begriffe, wie Optimierung, Nutzen und Gebrauchswert, die den Architekten immer noch nach Kalkulation riechen und daher säuberlich aus Formdiskussionen herausgehalten werden.

Inhaltlich gehen wir vom Grundgesetz des Sozialismus aus, der immer besseren, allseitigen Befriedigung der vielschichtigen Bedürfnisse der Werktätigen. Bei Entwicklung und Erfüllung eines gewissen Standes der materiellen Bedürfnisse steigen besonders die geistig-kulturellen Bedürfnisse und wir haben dafür Sorge zu tragen, die Mittel zu ihrer Erfüllung im baulichen Bereich bereitzustellen. Unser Blick ist also auf bewußte Selbstgestaltung der Gesellschaft in ihrer baulichen Umwelt und der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitglieder und damit eben nicht auf bürgerliche Manipulation der Menschen durch Architektur im Interesse der Profitmaximierung gerichtet. Das Eine schließt das andere aus.

Die zwei Methoden, die jeder Forschungstätigkeit offen stehen, nämlich die wissenschaftliche Verallgemeinerung praktischer Erfahrungen und das mehr deduktive Ableiten von Gesetzaussagen durch die kritische Explikation benachbarter Wissenschaften, versuchten wir bei Betonung des letzteren Weges zu verquicken, weil wir in einigen Wissenschaften genügend herangereiftes Material vermuteten, das für die Architekten noch nicht verwertet war. Als wir uns vor 4 ½ Jahren in Fächer der Wissenschaftsdisziplinen umschauten, fiel uns die sogenannte Informationsästhetik auf, die unsere Absichten einer nicht normativen und nicht nur interpretierenden, sondern wissenschaftlich exakteren Lehre von der architektonischen Form entgegenzukommen schien. Wir merkten aber bald, daß diese von dem Westdeutschen Max Bense und dem Franzosen A. Moles angeführte Richtung in der Ästhetik zwar sehr intelligente Auffassungen zu Einzelfragen enthielt, die angestrebte Quantifizierung ästhetischer Prozesse sich aber in Detaillismus numerischer Meßwerte erschöpft, deren Interpretation und deren Prämissen sehr fragwürdig blieben.

Wir mußten insbesondere feststellen:

1. In der Anwendung informationsästhetischer Erkenntnisse auf die Architektur (z.B. Kiemle) wird das Fehlen eines architekturtheoretischen Konzepts der sozialen Kommunikation deutlich.
2. Die Beschreibung der architektonischen Form/Erscheinung bleibt formalistisch, wenn die Problematik der Bedeutung in der Architektur, also die Zeichenproblematik draußen bleibt.
3. Die Beschreibung der Form ist nicht Selbstzweck, sie dient nur der Beschreibung und Optimierung ihrer Wirkung auf den Menschen, es geht also nicht um die Architektur, sondern um die Menschen, die sie nutzen, es geht nicht um eine „Werkästhetik“, sondern um die Beschreibung einer Subjekt-Objekt-Beziehung, um die ideelle Wirkung der Architektur auf den Nutzer.
4. Theoretische Forschungen zur psychischen Wirkung von Architektur müssen ergänzt werden durch empirische und experimentelle, also systematische Untersuchungen der wirklichen Wirkungsweise im Nutzungsprozeß.

In Entsprechung zu diesen Schwerpunkten haben wir die Aufgaben verteilt. Ich habe mich mit einigen Grundzügen des architektonischen Systems der Kommunikation und Information und der Anwendung der Zeichentheorie beschäftigt. Gerd Zimmermann wird anschließend zu psychologischen Problemen der architektonischen Wirkung auf das Subjekt „Nutzer“ im Prozeß der Wahrnehmung sprechen und Friedrich Rogge wird Fragen des methodischen Apparates der konkreten Wirkungsforschung behandeln.

Ein Problem, daß schon immer zentrale Bedeutung in der Architekturtheorie besaß, ist das der komplexen Einheit des Bauwerkes (Bauwerk- nicht das Einzelgebäude, sondern „gebautesWerk“). Die vielen Aufgaben, die ein Bauwerk zu erfüllen hat, haben sich seit Vitruv zu drei Säulen verfestigt. Es muß nützlich sein, es muß schön sein, es muß dauerhaft stabil sein. Wir sind der Auffassung, daß dieses Konzept und seine Modifikationen historisch grundlegend überholungsbedürftig sind.

Sie sind unbefriedigend vor allem unter drei Aspekten:

1. Der vielschichtige Komplex des Ideellen in der Architektur wird auf das Problem des Schönen reduziert.
2. Dieses Schöne wird dem Nützlichen antipodisch gegenüber gestellt. Durch die Nichtnützlichkeit des Schönen wird die ideelle Seite der Architektur begrifflich diskreditiert.
3. Die Hierarchie der Zweck-Mittel- Implikationen wird dadurch verunklärt, daß die konstruktive Festigkeit, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum menschlichen Zweck ist, den anderen Komponenten Nützlichkeiten und Schönheit gleichberechtigt zugeordnet wird.

Wir schlagen ein Konzept vor, das dem den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grundprinzip des Sozialismus und der Ganzheitlichkeit des architektonischen Gegenstandes gleichermaßen verpflichtet ist.

Wir wollen den Funktionsbegriff der allgemeinen Systemtheorie auf die Architektur anwenden. Danach sind alle subjektrelevanten Eigenschaften der Architektur, ob sie nun materieller oder ideeller (ästhetischer) Natur sind, architektonische Funktionen. Sie drücken deren potentielles Wirkungsverhalten aus. Bezieht sich diese Wirkung aber direkt auf den Menschen (sei es ein Individuum, eine soziale Gruppe oder die Gesellschaft), so bezeichnen wir die entsprechende Funktion als Primärfunktion.

Primärfunktionen erfüllen unmittelbar materielle oder ideelle Bedürfnisse des Menschen, auf sie richten sich die Optimierungskriterien des Entwurfes direkt. Dagegen sind die Festigkeit, die Wärmedämmung usw. des Bauwerkes aus diesen Funktionen abgeleitete Eigenschaften, als Sekundärfunktionen. Die Unterscheidung von Primär- und Sekundärfunktionen ist keine Wertung hinsichtlich der Relevanz dieser Funktionen, denn z.B. ein Wohnhaus, das im Winter nicht beheizt werden kann, verliert damit fast alle anderen Wohnqualitäten.

Die Frage, wie architektonische Funktionen zu klassifizieren sind, wollen wir an den Wirkungsebenen entscheiden. Architektur wirkt auf die Ebene des Seins, des Bewußtseins und der produktiven Auseinandersetzung von Sein und Bewußtsein, nämlich der menschlichen Praxis. Wenn wir diese Wirkungsebene auf den historisch konkreten Einzelmenschen, das individuelle Subjekt, die Persönlichkeit übertragen, so müssen wir sie folgendermaßen klassifizieren (Schema 1):

Schema1

Schema1

Die Architektur wirkt auf physische Strukturen und Prozesse, also auf die Körperlichkeit des Nutzers und übt damit eine physische Funktion aus.

Sie wirkt auf das Bewußtsein, also die gesamte Psyche der Nutzer ein und erfüllt damit seine ideelle, oder besser gesagt, psychische oder informationelle Funktion.

Sie hat letztlich Einfluß auf das praktische Verhalten der Menschen, das sich in motorischen Aktionen äußert. Wir wollen von der praktischen oder Verhaltensfunktionen der Architektur sprechen, wobei die Architektur durch ihr Raumangebot besonderen Einfluß auf deren ortsverändernden Aspekt, also die lokomotorischen Aktivitäten besitzt.

Alle drei Funktionen besitzen enge Strukturverflechtungen. Besonders basiert menschliches Verhalten immer auf geistiger Antizipation und umgekehrt kommen wir ohne Analyse der praktischen Lebenstätigkeit der Nutzer nicht aus, wenn wir den Bedeutungsgehalt, also die informationelle Funktion erforschen wollen.

Jede ganzheitlich bauliche Struktur, die solche Tätigkeitskomplexe ermöglichen und partiell determinieren und welche Architekten gern als Funktionen bezeichnen, wie kaufen, Essen, Erschliessen, Montieren – also Kaufhalle, Speisesaal, Verkehrsfläche, Montagehalle – setzen sich aus jeweils spezifisch ausgeprägten physischen, informationellen und praktischen Elementarfunktionen zusammen. Sie sind also bereits Funktionskomplexe. Die ästhetische Seite geht zum großen Teil in die informationellen Funktionen der Architektur auf. Und doch umfasst der Begriff der Information eine andere, aber unseres Erachtens wesentlichere Seite der Architektur. Wir empfinden Architektur nicht nur nach „Schönheit“ oder „Hässlichkeit“ oder ähnlichen Kategorien, sondern wir orientieren uns mittels baulicher Information in einer anderen Stadt oder in einem Gebäude; sie wirkt auf unsere Einstellung, auf die Motivation, auf die Werte; wir gewinnen durch Architektur Informationen für unser praktisches Verhalten.

Wenn wir sagen, dass Architektur nicht als Kunstwerk sondern als organisierende bauliche Hülle unserer Lebenstätigkeit gebaut wird, so heißt das auch, dass ihre informationelle Struktur kein davon los gelöstes künstlerisches Dasein zu führen und nicht nur langfristige ästhetische und kulturelle Werte zu vermitteln hat, sondern dass sie direkt praxiswirksam wird in dem sie motorischen Aufforderungscharakter besitzt.

Mit dieser Betonung der informationellen Prozesse, die alle psychischen Ebenen des Nutzers durchdringen, lenken wir die Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft von der Kommunikation.

Der Kommunikationsprozess ist dabei ein Aspekt oder eine Form der Dialektik von Produktion und Konsumtion, (Schema 2), die den Gegenstand als Objekt der Teilprozesse und als Mittel des Gesamtprozesses einschließt und (Schema3) der baulichen Spezifikation dieses Prozesses, in dem das Bauwerk in einem Herstellungsprozess entsteht und in einem Nutzerprozess wirkt. Der kommunikative Produktions- und Konsumtionsprozeß (Schema 4) umschließt die Phasen des Sendens und des Empfangens, die durch ein Kommunikationsmittel verbunden sind.

Schema2

Schema2

Schema3

Schema3

Schema4

Schema4

Die Behauptung ist nun, dass auch Architektur als solches Kommunikationsmittel unabhängig davon wirkt, ob es, aber heute um so besser, wenn es als solches konzipiert wurde.

Das Bauwerk ist dabei ein funktionskomplexer Informationsträger, der Architekt ist der Organisator architektonischer Information und der Nutzer ist der Verwerter dieser Information. Den Nutzer können wir uns als Wissenschaftler vorstellen, wenn er aus städtischen Grundrissen etwa politische und ökonomische Verhältnisse abliest, als Tourist, der von der Schönheit eines (allerdings meist historischen) Schönheit des Gebäudes verzückt ist, oder als Normalnutzer, der in seiner täglichen Lebenspraxis eine Vielzahl unterschiedlicher baulicher Informationen verbindet, viele davon unbewusst.

Diesen so genannten „Normalnutzer“ ist unsere besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Die Menschen tauschen ihre Informationen durch Zeichen aus, seien es Worte, Gesten, Grafiken usw.. Jede soziale Kommunikation ist Zeichenkommunikation, also ist auch Architektur ein System von Zeichen. (Schema 5)

Schema5

Schema5

Die kommunikativen Gemeinsamkeiten von Sender und Empfänger, der gemeinsame Zeichenvorrat und der Kode sind durch die gesellschaftliche Praxis gegeben und damit historisch determiniert. Der Kode gibt an, welche bauliche Einheiten mit welchen Bedeutungen verbunden sind.

Ein Zeichen ist ein materieller Gegenstand (Schema 6), dessen subjektives Abbild sich im Verlaufe des Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesses mit anderen gespeicherten psychischen Zuständen verbindet, die damit neben dem eigentlichen Abbild eine zusätzliche Information darstellen. Im gesellschaftlichen Rahmen ist das die allgemeine Bedeutung der Zeichen. Sie ist als Abbild natürlich selbst das Resultat eines Widerspiegelungsprozesses. Das objektive Pendant des Abbildes ist der Gegenstand der Bezeichnung.

Schema6

Schema6

Die Zeichenproblematik in der Architektur ist nicht auf den Bereich symbolhafter Hochbauten (Leipzig –Buch, Rostock-Segel) usw. zu beschränken und nicht auf Hinweisschilder, Reklame, Verkehrszeichen usw., die eigentlich gar keine architektonischen Zeichen sind, sondern sie bezieht sich auf fast alle Formen geistiger Aneignung – der Wohnung, Straßen, Plätze, die Stadt, Gebäude und Gebäudeteile. Ich kann hier leider keine Beispiele bringen.

Die Aufgabe der semiotischen Forschung ist es, Gesetzmäßigkeiten in dieser Bedeutungszuordnung, in der Anordnung und Zusammensetzung der architektonischen Zeichen, in ihrer gesellschaftlichen und individuellen Wirkung, in ihrer Entwicklung und Veränderung aufzuzeigen. Wir haben in diesem Sinne eine Reihe von Aussagen getroffen. Aber viele Probleme sind noch ungelöst. Die schrittweise Annäherung unseres semiotischen Problembewußtseins an die Zeichenrealität unserer baulichen Umwelt wird sicher auch helfen, das eingangs erwähnte Problem von Subjektivismus einerseits und Dogmatismus andererseits in Gestaltungsfragen zu lösen. Die Semiotik bietet dafür das Konzept von Gesetzaussagen in Form einer Grammatik an. Eine zu entwickelnde Grammatik des Bauens wird den Architekten nicht einschränken, sondern macht ihm seine Individualität in Formfragen kalkulierbar, weil er weiß, wann er verstanden wird. Sie ist regulativ und kreativ zugleich. Ich danke Ihnen.

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