von Olaf Weber
„Ein Faulsein, welches nicht den inhaltserfüllten Drang zur Arbeit erweckt, ist keine Muße, sondern sinnlos vergammeltes Leben.“ Diesen Satz Lothar Kühnes hatte ich vor langer Zeit meiner etwa 10-jährigen Tochter erzählt, sie ist heute über 50 und kann ihn immer noch aufsagen. Was er heute mit dem bedingungslosen Grundeinkommen gemein hat, darüber streiten wir uns trefflich. Ich sage: Nichts, sie sagt: Tun.
Ich weiß auch nicht, wo dieses Zitat bei Kühne zu finden ist, aber irgendwo muss es stehen. Ich habe es jetzt nicht gefunden, bin inzwischen blind.
Aber ich will mich gern an eine Begegnung mit Lothar Kühne erinnern, die einzige, die es gab. Ich weiß aber nicht mehr das Datum. Ich erinnere mich auch nicht mehr an den Inhalt des Gespräches, ebensowenig an den Ort. Es war ein unspektakuläres Bauwerk hinter der Humboldt-Universität. Ich habe also außer der Gewissheit, dass es stattgefunden hat, keine Erinnerungen an dieses Gespräch – aber vielleicht doch an etwas, das mir damals unbedeutend erschien, sich mir heute aber gedanklich vordrängt: das Ambiente.
Zum wissenschaftlichen Hintergrund: Ich fühlte mich in Weimar der Berliner Ästhetik-Schule („Ästhetik heute“) verbunden. Als Kühnes Buch „Gegenstand und Raum“ (1981) erschien, musste ich es natürlich sofort durchforsten. Ich habe das Exemplar noch heute mit Hunderten von Anmerkungen in meinem Bücherregal. Es versetzte unserem Weimarer semiotisch-psychologischen Ansatz (Architektur als Kommunikationsmittel, 1974) eine interessante, aber auch schwierige gesellschaftspolitische Dimension.
Wie wir wissen, kritisierte Kühne in Bezugnahme auf Marx immer wieder das Marktförmige der Gestaltung. Aber in der Praxis musste diese Kritik zu Kontroversen führen. Denn die architektonische Postmoderne folgte im Westen zwar zwangsläufig dem Marktgeschehen, doch der Dekorationalismus in der DDR war nicht rühmlicher, folgte nur anderen Triebkräften. Die Dekors an den Plattenbauten waren nur oberflächliche Verhübschungen, mit denen das Fehlen sozialräumlicher, kultureller und technologischer Vielfalt kaschiert werden musste. Ich glaube, dass Lothar Kühne an diesem Widerspruch zugrunde ging. Später erzählte mir Heinz Hirdina, den ich sehr mochte, von Lothar Kühnes Freitod. Er sagte aber, dieser hätte testen wollen, was er unter extremen Bedingungen aushalten konnte. Ich glaubte natürlich nicht, dass es ein Test war.
Also ich kam mit einem Kollegen eines Tages zu Kühne. Bruno Flierl hatte uns freundlicherweise miteinander bekannt gemacht. Wie gesagt, ich weiß nicht wann und wo es war. Irgendwie standen wir plötzlich in einem mittelgroßen Raum mit vielen Stühlen, vor allem an den Wänden, vielleicht ein Wartezimmer für Studierende. Aber es konnte auch ein Zwischenlager für Möbel sein, die der Hausmeister aus dem Heizungskeller geholt hatte, um sie noch einmal „aufzumöbeln“. Kaum ein Stuhl glich einem anderen. Man sah ihnen die erlebten Jahrzehnte ihres Gebrauchtseins an, eben die Gebrauchsspuren, die moderne Möbel nicht vertragen können. Farben gab es nach meiner Erinnerung nicht, auch nichts Textiles, keine Vorhänge oder anderes Gewirkte.
Das war natürlich nicht das Vorzimmer eines Direktors, auch nicht das erwartete Bild vom Büro eines sozialistischen Hochschullehrers, aber was war es dann? War es das bloß zufällig Entstandene, also das „Ungestaltete“? Ich bin heute davon überzeugt: Das war ein programmatisches Gesellschaftsmodell in der Gestalt eines Raumes.
Irgendwann ging die Tür zum Nebenzimmer auf und einige Studierende kamen heraus. Kühne lud uns hinein, indem er selber wieder in den Raum zurücktrat. Ein hagerer und blasser, eher großer Mann, glaube ich, mit einer Brille und schütteren Haaren, natürlich kein Anzug, sondern ein unauffälliger Pullover. Alles ohne erkennbare ästhetische Intentionen. Auch hier drängten sich die Möbel nicht vor, sie blieben auch nicht nur Hintergrund, sie waren abwesend. Erst auf den zweiten oder dritten Blick musste das Ungestaltete des Raumes als Wesenhaftes auffallen. Es war mir keinesfalls unangenehm, aber ich spürte auch nichts von der „Neuen Intimität“ der funktionalen Gestaltung, von der ich bei Kühne gelesen hatte.
Ich konnte das damals alles weder mit Kommunismus noch mit Funktionalismus in einen gültigen Zusammenhang bringen. Wie gesagt, ich kann mich nicht mehr an den Inhalt unseres Gespräches erinnern. Ich weiß nicht mehr, welche der markanten Sätze von Kühne damals gesprochen wurden. Im Kopf waren damals natürlich viele. Ich weiß aber noch, dass mir diese beiden Begriffe und dann noch ihr schicksalhaftes Zusammentreffen in einem einzigen Satz („Der Funktionalismus ist das Gestaltungsprinzip des Kommunismus“) ungeheuerlich groß und deshalb auch beängstigend vorkamen.
Ich habe damals über Funktionalismus viel nachgedacht. Das Bild schien mir einleuchtend, dass die Form der Funktion folgt, doch in welchem Abstand? Das war die entscheidende Frage. Die Distanz kann sehr, sehr knapp sein, dann sind sie fast identisch, aber zwischen Form und Funktion kann sich auch eine lange Leine befinden. Dann kann sich einiges an Kulturellem und Subjektivem dazwischen schieben, das die „Verhältniseigenschaft der Gegenstände“ (Kühne) mitbestimmt. Als es später darum ging, eine eigenständige „Funktion der Form“ (1994), die sich nicht cartesianisch bestimmen lässt, aber wirkmächtig ist, zu begründen, fehlte Kühnes provozierender und korrigierender Intellekt.
Kühne bedeutet für mich noch eine andere Assoziation. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und gestalterischer Enthaltsamkeit kam mir später nochmal nahe, als ich den utopischen Roman eines DDR-Schriftstellers las, der wegen des zugespitzten asketischen Ideals sehr spannend war: Auf einem Hochplateau in Südosteuropa versammelten sich Menschen in einer visionären Stadt, deren gegenständliche Umwelt durch technische Erfindungen und die Abwesenheit von allem Marktförmigen und Modischen äußerst reduziert war. Es blieb in meiner Erinnerung die Frage offen, ob mit der Reduktion der (falschen) Reize auch das subjektive sinnliche Erleben eingeschränkt war – oder ob es sich gerade unter diesen Bedingungen entfalten konnte.
Leider ist meine Kenntnis über Autor, Titel und Erscheinungsjahr dieses Romans so spärlich wie die Erinnerung an das Wann, Wo und Was meines Besuches bei Kühne. Die Leserin und der Leser möge mir verzeihen, dass ich in diesem kleinen Aufsatz nur Unkonkretes mitzuteilen hatte. Und da erlaube ich mir auch noch in die Runde zu Fragen: Wer kennt den erwähnten Roman und seinen Autoren? Ich würde es mir gern noch einmal in literarischer Erinnerung an diesen wichtigen Lothar Kühne vorlesen lassen.
Veröffentlicht in: Berliner Debatte Initial, 2/30. Jg. 2019, Die Ästhetik des Kommunismus- Lothar Kühne. Seite 73/74