Dali ist kitschy (2005)

Olaf Weber
Dali ist kitschy

Dali´s riesiges Werk – ein Rätsel und Kitsch – ein vager Begriff, eine Geschmacksache, sagen viele und reden nicht weiter darüber. Doch das Übersehen und Tolerieren des omnipräsenten Kitsches, das ist eine geistige Schwäche und selber kitschig. Und Dali wartet auf diesen Disput.
Das ist der Hintergrund, vor dem in diesem Aufsatz der Kitschbegriff untersucht und Dali generell unter Kitschverdacht gestellt wird. Der Leser muss selbst die Kitschmerkmale bei Dali entdecken – zum Beispiel, indem er durch die Ausstellung läuft oder einen guten Dali-Bildband neben diesen Text legt. Am Ende dieses Aufsatzes werden dann ein paar grobe Markierungen für die Beziehung von Dali und Kitsch vorgeschlagen.

Was scheint der Kitsch zu sein?

Kitsch ist ein Lockstoff, der blöd und sentimental macht. Er ist eine Lebenshaltung, die eine widerspruchsfreie und geschlossene Welt imitiert. Kitsch ist im Kopf, er ist eine gängige spießige Denk- und Verhaltensweise, die sich auch in abgelegene Sphären unserer Existenz eingeschlichen hat. Nur Auswüchse des kitschigen Bewusstseins haben sich in Kitschromanen oder Gartenzwergen vergegenständlicht. Kitsch-Elemente verbergen sich überall – im sozialen Verhalten, in der normalen Wohnung, in jedem Werbeclip und in der großen Politik.
Kitsch verspricht zwar das Rosa vom Himmel, befriedigt aber kein einziges Bedürfnis, es sei denn in der Form der Illusion. Im Kitsch trifft das Klebrig-Süße (das äußere Kitschpotential) auf die verdorbene Kitschdisposition der Wahrnehmenden. Einzelne Merkmale wie Bonbonfarben oder solche Methoden wie die Verniedlichung sind noch nicht Kitsch, aber sie sind kitschverdächtig. Die Kombination von vielen kitschverdächtigen Merkmalen macht das Ding noch verdächtiger, doch kann der Kitschzustand nur dann ausgerufen werden, wenn die kitschigen Reize tatsächlich dazu führen, dass die Wirklichkeit hinter einem betörenden Nebel verschleiert wird, dass es tatsächlich zu einem Realitätsverlust kommt. Kitsch muss hinsichtlich seiner Wirkung, also funktional definiert werden. Die Grenze zwischen Kitsch und Nicht-Kitsch ist in den verschiedenen Kulturen und bei jedem Einzelnen variabel. sie schwankt, ist subjektiv, doch gibt es eine klare Scheidelinie zwischen Erklärung und Verklärung, zwischen Gefühl und Rührung.

Kitsch ermüdet ohne Erquickung, sättigt ohne satt zu machen, betäubt ohne Rausch, erschlafft ohne Anstrengung, verdunkelt im Glitzern, verschleiert durch Auffälligkeit und er verklärt – wo er aber aufklärt, belebt und inspiriert, ist er kein Kitsch. „Kitsch“ ist dort kein Kitsch, wo es gelingt, das kitschverdächtige Reizmaterial aus der Scheinwelt in die freie Phantasie und von dort in die eigene Wirklichkeit hinüberzuleiten.

Kitsch – Eigenschaften.

Kitsch ist oberflächlich und falsch.
Während der Realitätsverlust die allgemeinste Wirkung (und Absicht) des Kitsches ist, wird der trügerische Schein zu seinem hervorragenden Mittel. Alles ist pseudo: Die Gefühle, die Konflikte, der Stoff, die Erfindung. Kitsch setzt auf Traumwelten, er vermarktet Massensehnsüchte, vor allem die nach einer heilen Welt. Den Bedürfnissen, die er erweckt und vorgibt zu befriedigen, versagt er die Erfüllung. Der bunte Zuckerguss oder die sachlichen Symbole vertuschen die Sache dahinter oder geben vor, die Sache selbst zu sein. Kitsch bespiegelt sich als funkelnde Oberfläche, sodass alle Hintergründe verschwinden.
Kitsch zwängt zwischen Schein und Wirklichkeit die Lüge. Irgendetwas ist immer unaufrichtig und obszön am Kitsch. Er ist ein ethisch-ästhetisches Imitationssystem, das auf dem betrügerischen Bankrott seiner Werte beruht. Der Kitschproduzent empfindet sich als wohltätiger Betrüger und hält den für armselig, der sich zu seiner Erheiterung nicht täuschen lassen will.
Kitsch liebt das Spiel mit dem Unechten, er täuscht Stoffe vor, die werthaltiger sind als die eingesetzten. Die vermeintliche axiologische Erhöhung des Billigen führt zum Imitations-Schwulst und ist etwas ganz anderes als das ästhetische Spiel von Schein und Wirklichkeit. Im Kitsch ist nur noch er selbst authentisch, im besten (seltensten) Falle kann er sich selber und zugleich die „Materialgerechtigkeit“ karikieren.

Kitsch ist simpel und trivial, er liebt die Sauberkeit und Ordnung.
Während Kitsch die Erlebnisse und Gefühle verwirrt, reduziert er den kognitiven Haushalt der Konsumenten. Die Formen sind gängig, die Botschaften eindimensional. Das Einfache und Schlichte wird zum Simplen und Banalen verwandelt.
Kitsch trifft die konformen Erwartungen eines Massenpublikums und hat kein Interesse an dessen ästhetischer Qualifizierung. Der gefällige und triviale Kitsch entfaltet seine Wirkung in einer Melange aus Naivität und Raffinesse. Kitsch ist eine affirmative Projektionsfläche für die eigene, zurecht gestutzte Rührseligkeit.
Kitsch liebt die reine Liebe und das reine Glück, auch die hygienische, ethnische und rassische Reinheit. Kitsch ist antiseptisch und entwirft makellose und perfekte Bilder der Welt, also falsche. Der Kitschmensch liebt alles Ordentliche, vor allem die Hierarchie in Staat und Familie. Ein überzogenes Sicherheitsbedürfnis befürwortet in einem scheinbaren Widerspruch zur Sentimentalität des Kitsches Härte und Strenge gegen diejenigen, die aus der „Normalität“ verbannt wurden. Kitsch setzt auf ein simples und dogmatisches Schwarz-Weiß-Schema, in seinen moralischen Attitüden teilt er die Welt in Gut und Böse, in Gott ergeben und satanisch. Polizei und Militär werden vor dem Stigma des Bösen glorifiziert und die Angst vor dem Bösen wird aus dem gleichen Interesse heraus geschürt, aus dem es gepäppelt und gewaltsam bekämpft wird.

Kitsch sentimentalisert die Gefühle zur bloßen Rührung.
Auch die sachlichsten Lebensbereiche werden auratisch mit Gefühlen durchschwemmt. Alles wird durch Kitsch dämonisiert und erotisiert. Kitsch ist nur ein „Gefühlchen“ (Nietzsche), doch die Gefühlsnot des Publikums ist groß und echt. Dessen Gefühle werden nicht erwidert, sondern zur Esoterik und Mystik verdünnt. Körperlichkeit und Schönheit werden summarisch aphrodisiert. Der Eros ergreift von allem Besitz und verblödet es umso mehr, je weniger das künstlich Erotisierte einen natürlichen Bezug zum Sex hat (z.B. Autos und Bleistifte). Die Instrumentalisierung des Erotischen ist immer kitschverdächtig.
Die Dominanz der Gefühlswelt hat zwei unterschiedliche Effekte: Einerseits werden starke Gefühle verniedlicht und domestiziert, andererseits gewinnt ein blutleerer Ästhetizismus an Farbe (CAMP). Wesentlich an Kitsch-Emotionen ist, dass sie sich verlieren, bevor sie die Lust an weitergehenden Assoziationen erwecken.
Das Oberflächliche am Kitschgenuss ist der kurze Zeitraum bis zur Enttäuschung. Es kommt nicht zum ästhetischen Genuss als der Schwebe zwischen Objektgenuss und dem Genießen des Genusses als Lust. Es bleibt bei einer folgenlosen Genüsslichkeit, die das Jammern und die Tröstung einschließt, letztlich bleibt es beim Selbstgenuss der induzierten Stimmung. Im Kitsch tritt das Unbewusste nicht als kreatives Potential oder als Phantasie auf, sondern als das mondhaft Ferne und das auratische Geheimnis.

Kitsch ist ein Klischee mit einem kleinen Tabubruch.
Kitschproduzenten sind Epigonen, Kitsch lebt von Nachahmungen und Reproduktionen. Eine Innovation ist immer pseudo und eigentlich schon verbraucht. Bilder, Dialoge oder Verhaltensweisen sind stereotype Muster, aber eine marginale Kleinigkeit ist jedes Mal auffällig, scheinbar neu und vielleicht sogar respektlos. Kitsch lebt von großen Tabus und dem kleinen Tabubruch. Der Kitschmensch überschreitet keck eine kleine unverfängliche Hemmschwelle, so hat er das Gefühl, mutig zu sein, ein normierter Kitsch-Revoluzzer. Der erlaubte und schickliche Rahmen bleibt eng, der Kitsch ist pseudo-avantgardistisch, er ist ein uniformierter Nonkonformismus.
In Ausführung des mechanischen Geistes der Industrie reduziert der Kitsch in Literatur und Film die agierenden Personen auf bloße Schablonen, auf Kitschidole, die einer Pseudo-Dramatik, aber keiner Entwicklung der Charaktere oder Umstände folgen. Auch Trends, Moden, Talks und Shows werden zunehmend einem rigiden Planungsapparat unterworfen, in dem auch Spontaneität inszeniert wird. Im Kitsch herrscht eine perfide Arbeitsteilung. Nicht mehr die kreativen Künstler treten in Erscheinung, sondern es werden Superstars implementiert, die von Managern und Vertragsautoren nach einem gewinnbringenden Schema kreiert werdenl

Der Gefühls-Brei will Widersprüche tilgen.
Kitsch verschleiert reale Konflikte und Interessenlagen zu einem homogenisierten Konglomerat. Kitsch ist stromlinienförmig, er passt sich allem, vor allem dem mainstream an. Kitsch vermeidet Brüche und harte Spannungen, die der psychagonischen Wirkung entgegenstehen und setzt auf Atmosphären und positiv gestimmte Räume, in denen das Fließende und Seichte zur Harmonie stilisiert wird. Auch Synästhesien können die Strukturiertheit der Wahrnehmung verflachen. Wer gerührt ist, der verdrängt die kognitiven Systeme, sodass die Überlagerung von Ton, Bild und Wort die Rezeption verschwimmen lässt, Synästhesien und Resonanzen führen im Kitsch zu einem sensorischen Eklektizismus, der verführerisch ist.
Kitsch springt ins Auge, er beschleunigt die Wahrnehmung und kürzt die Perzeption ab. Kitsch ist gierige Teilhabe am beschleunigten Besitz-Ergreifen und zielt auf einen sinnlosen Zeitgewinn. Gags, ausgelutschte Symbole und abgeschmackte Metaphern machen den Kitsch schnell, er ist das Gegenteil von Verinnerlichung und Muße.

Kitsch enthält eine Beziehungsstörung von Form und Inhalt, von Funktion und Gestalt.
Kitsch ist nicht plausibel, er sagt nichts aus oder zuviel, die äußerste Formschicht ist zu vordergründig, als dass der Kitsch als gelungene Gestaltung gelten könnte. Entweder der sentimentale Inhalt ist aufgeplustert (Schmalz), oder die Form dominiert überreich über einen banalen Inhalt (Schwulst).
Kitsch-Produkte erzählen etwas, das nichts mit dem Zweck der Dinge zu tun hat. Der narrative Inhalt hat sich gegenüber dem Utilitären verselbständigt. Die Dinge glänzen und plappern, haben aber nichts zu sagen – außer, dass sie kitschy sind, man darüber aber nicht sprechen solle. Kitsch überspielt seinen Betrug durch Witze. Sie täuschen über den autoritären Gestus des Kitsches. Zwischen billigem Spaß und erhobenem Zeigefinger ist Kitsch nicht lustig und Gags (erfundene, stereotype Lacher) ersetzen den Humor. Kitsch liebt auch die Dinge aus zweiter Hand, doch interessiert den Kitschmenschen daran nicht das Authentische (Kopien sind ihm auch recht), sondern seine Neigung zum Billigem, Nostalgischem und Auratischem.

Kitsch ist ein verlogenes Geschäft.
Kitsch trägt den Geist des Industriealismus. Ehrlosigkeit und Gewinnsucht sind wichtige Triebkräfte des Kitsches, den es in ausgeprägter Form erst im Kapitalismus gibt, d, h. im einer Gesellschaft, in der sich das Prinzip durchsetzt, dass der Zweck (d.h. der Gewinn) die Mittel heiligt. Mehr als bei anderen Gütern wird der ästhetische Schrott lediglich für den Ladentisch hergestellt, wo die Verantwortung des korrupten Produzenten endet. Das Kitschprodukt wird hinter der Maschine durch den Verkauf weiter erniedrigt. Beim handgemachten Kitsch ist ein Teil der Rührung schon als Absicht dabei.
Kitsch ist in ökonomischer und psychischer Hinsicht billig. Der wirtschaftliche Aufwand muss wegen des Massenpublikums gering sein, der geistige Aufwand wegen der Gefallsucht, der Naivität und dem politischen Konservatismus des Kitschmenschen. Dieser will die ihm eigentlich teuren Werte billig genießen. Edelkitsch soll noch teurer erscheinen, denn der Kitschmensch realisiert sich auf dem Markt.

Im Kitsch verschwindet die Wirklichkeit.
Kitsch ist der blaue Dunst oder der lustige Vorhang, der sich vor die Wirklichkeit schiebt. Der Kitschmensch traut eher dem Geschminkten als der unsicheren Wahrheit, er hat Angst vor dem Hässlichen und Komplizierten. Kitsch entfremdet und ist zugleich eine Droge gegen die Entfremdung. Während die Aufklärung zu entwirren sucht, verwirrt der Kitsch (Kunst aber entwirrt vielleicht durch Verwirrung).
Der Kitschmensch flieht vor der Gegenwart und vor sich selber, am liebsten flieht er in andere Zeiten oder Kulturen, also in Nostalgie und Exotik. Er verkitscht die Gegenwart und die Vergangenheit, er ist atavistisch und konservativ, und er verachtet die Utopie. Ebenso ist die Flucht in die Fremde verlogen, weil der Kitschmensch trotz aller Sensationslust nicht wirklich neugierig ist, er liebt nur dann das Fremde, wenn es assimiliert, also eigentlich schon das Eigene ist.

Kitsch läßt sich durch Politik und Religionen instrumentalisieren. Das Interesse am Kitsch kommt von Oben. Kitsch ist keine Subkultur, er ist keine Alternative zur herrschenden Kultur, sondern deren ausführendes Organ. Man kann aus dem Realitätsverslust anderer die eigenen Vorteile ziehen. Machthaber nutzen die verführerische Wirkung des Kitsches, der sich hemmungslos in das Bewusstsein einschleicht, zur Manipulation. Kitsch will vereinnahen und einflüstern, er lässt keinen (kritischen) Abstand zu. Während sich Kunst an ein sachkundiges und einfühlsames Publikum wendet, dieses noch kundiger macht und sensibilisiert, wenden sich bezahlte Profis, die nie gerührt sind, an Dilettanten, deren ästhetische Unmündigkeit durch Kitsch vertieft und verlängert wird.
Diktatoren wie besonders Hitler, auch Stalin und Saddam Hussein, aber auch Regierungen wie die Bush-Administration bedienen sich ausgiebig des Kitsches zur Machterhaltung. Kitsch bestätigt die bestehende soziale Schichtung, auch den sozialen Normendruck. Eine Wirkmethode des Kitsches ist es, das Milieu seiner Kundschaft auf den Glanz der Paläste, auf alles Edle, hochzustapeln. Lieschen M. liebt die Ölbarone. Armut wird ausgeblendet oder zum Gegenstand eines sentimentalischen Mitleides. Frauen erscheinen im Kitsch entweder als Kindsfrauen, die beschützt werden wollen, oder als Vamp, vor dem man die Männer schützen muss, aber kaum als selbstbestimmte Personen.
Religiöser Kitsch ist besonders weit verbreitet. Kitsch ist selbst eine ästhetische Form des Religiösen, alles wird mit Spiritualität, mit Wundern und Ritualen durchsetzt. Der schein-heilige Kitsch will selber angebetet werden, barbusig werden die Augen himmelwärts gewendet. Das Mysterium des Kitsches wird durch die Institution der Kirche in wunderliche Formen gebracht..

Dali und der Kitsch

Der große Künstler Salvador Dali ist ein großer Kitschmensch. Das versucht er zu vertuschen: „Nachdem ich kaltblütig eine vollständige Abhandlung rhinozerotischer und dynamischer Korpuskel gezeichnet hatte, die im Volumen das platte Konfetti Seurats zu ersetzen hatten, entstehen diese Korpuskel aus einfachen Pinselstrichen, jeder einzelne wie eine Tragödie von Aischylos, nachdem ich mit dem Dolch meiner Intelligenz „die kosmische Gänsehaut“ der Malerei geschenkt habe, die sich in wundervollem Schaudern sträubt und es mir erlaubt, die augen-blicklichen Wunder meines „objektiven Gehirns“ – das der Realität näher steht als je zuvor – zu malen, das tragische Schaudern der physischen Freude nach der Natur.“

Dieser Wort-Salat wirkt geheimnisvoll, doch fehlt das Geheimnis oder das Interesse, es zu entschlüsseln. Das ist ein Problem, das dem Surrealismus insgesamt immanent zu sein scheint. Dem Betrachter fehlt oft die Motivation, Bildinhalten zu folgen, wenn sie einen bestimmten Grad der Absurdität überschritten haben. Warum soll ihn das Verhältnis eines Regenschirmes, einer Nähmaschine und eines Seziertisches faszinieren, warum soll er die Metaphern zu enträtseln suchen, warum in Dali´s Unterbewusstsein eintauchen, wenn es ihm nicht gelingt, wenigstens einen kleinen Bezug zu seiner (ästhetischen) Erfahrung herzustellen und hinter dem fremden Unbewussten das eigene Bewusstsein zu aktivieren. Doch Dali behauptet, sein Surrealismus bzw. die „paranoisch-kritische Methode“ sei der eigentliche Realismus und das Unbewusste sei die eigentliche Basis der künstlerischen Kommunikation. Die wichtige Rolle des Unbewussten zu akzeptieren kann nicht heißen, die Kunst auf dem Unfasslichem zu begründen und damit die Komplexität der künstlerischen Kommunikation zu reduzieren. Auch Künstler, die wegen ihres Abstraktionismus mit einem antikitschigen Gestus auftreten, sind aus o.g. Grunde äußerst kitschverdächtig. Zum Beispiel verneint Jackson Pollock wie Dali den Zufall und mystifiziert das Unbewusste. Seine Bilder habe nicht er selbst, sondern „Etwas“ in ihm gemalt. Für Kitsch gibt es viele faule Rechtfertigungen, die manchmal einem übertriebenem Sendungsbewusstsein und manchmal einer kommerziellen Erfolgssucht erwachsen.

Wir müssen Dali in ein Ganzes von Kunst, Kitsch und Unterhaltung einbinden. Die Kunst ist eine Quelle der Bewusstseinserweiterung, der Kitsch hintertreibt die ästhetische Erkundung der Wirklichkeit, die Unterhaltung aber erfüllt die Gegenwart mit folgenlosen Zerstreuungen und Späßen. Dali ist ein großer Kitschmensch, Entertainer und Künstler. Warum alles drei? Weil Dali zugleich das kritische Potential durch den Firlefanz seiner Mystik schwächt, dabei unterhält und zerstreut. aber auch eine wunderliche Quelle der Erweiterung unserer sinnlichen Erfahrung ist. Kunst ist eine Inspiration von Welt, Unterhaltung ist folgenloser Zeitvertreib, im Kitsch aber wird das Banale vollstreckt. Spaß und Wehmut gehören zur Unterhaltung, Gags und Rührung zum Kitsch, Schmerz und Freude aber zur Kunst. Dali schwankt und tanzt zwischen diesen ästhetischen Weisen auf eine phantastische Art, dieses kreative Schwanken ist seine Genialität.

Die Geschichte der modernen Kunst ist eine Geschichte der Flucht vor dem Kitsch in die Nischen, die noch frei von Klischee und Rührung sind. Die Künstler haben panische Angst vor dem übermächtigen Kitsch. Werbung und Medien haben nach und nach alles vereinnahmt, sie haben das Historische, das Florale, das Bildhafte, das Gegenständliche, das Expressive, das Opulente, das Narrative und das Sinnliche usurpiert. Durch Werbung und Unterhaltung ist dieses ästhetische Material in den Augen der Künstler verschmutzt. Die Kunst und das Design haben sich in asketische Gefilde zurückgezogen, in Rationalismus, Funktionalismus, Abstraktionismus, Minimalismus oder Konzeptualismus. Die moderne Kunst ist in eine merkwürdige Defensive geraten, der Ausweitung des Kunstbegriffes steht die ungeheure Reduktion ihrer Mittel gegenüber. Dali ist eine Ausnahme (nicht die einzige), er ist auch ein Moderner, aber kein Flüchtender, er stellt sich dem Ansturm des Kitsches, nimmt ihn auf, flirtet mit ihm, verdreht und vernascht ihn in einem ausschweifenden Überkitsch, der den Kitsch als Milieu verwertet, ihn ästhetisch tilgt und zugleich huldigt, denn Dali liebt den Kitsch.

Durch Kitsch kann alles zum Fetisch werden. Auch die Neue Sachlichkeit kann verklärt und zum Ornament werden, auch Beethovens Neunte wird durch Ritualisierung verkitscht. Nach dem fühlsamen Kitsch-Training, das die Kulturindustrie jedermann verordnet, kann auch das sprödeste und das komplexeste ästhetische Material kitschy rezipiert werden. Bei Dali ist es aber anders, er ist selbst ein Teil der Kitsch-Kultur. Indem er den Kitsch benutzt, umwirbt und reproduziert er ihn und macht die kitschigen Codes salonfähig.

Es gibt Einfallstore für den Kitsch und Dämme gegen ihn. Auch hier ist Dali ambivalent. Er spielt auf der Klaviatur der Affekte und konterkariert zugleich das Kitschige durch die Flügel seiner Phantasie. Der Überkitsch funktioniert als Kitschkunst nämlich nur dann, wenn die dominante Kitschwelt mit Widerständen und Anti-Kitsch zersetzt wird. Als Kitschblocker treten die Antipoden der Kitscheigenschaften auf, zum Beispiel die kritische Distanz, das logische Kalkül, der sachliche Vergleich, die Verfremdung, der Bruch, das tiefe Gefühl, die historische Zuordnung u.a. Dali´s Sache ist das nicht, sein Kitschblocker ist seine ungeheure Kreativität. Dazu Gelbsucht und Giraffen, wie wir wissen.

Anmerkung: Das Zitat von Salvador Dali stammt aus einem Text von 1953 und ist dem Aufsatz von Michel Tapié „Die Dalísche Kontinuität“ aus dem Bildband „Salvador Dali – Retrospektive 1920-1980“ (München/ Prestel) entnommen. Andere Autoren, die mir viele Anregungen zum Thema geliefert haben und denen ich dafür herzlich danke, sind nicht zitiert, es sind u.a. H. Broch, K-H. Deschner, H-D. Gelfert, L. Giesz, K-P. Liessmann, L. Kühne.

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