Kitsch ist kitschy (2006/2009)

Der Kitsch ist süßer Kulturmüll und ihr Profit. Er ist nicht der obligate Tropfen Sentimentalität in jeder Kunst, sondern eine verschleiernde Machenschaft der Kulturindustrie, die uns die Taschen volllügt und dabei etwas heraus zieht.

Olaf Weber
Kitsch ist kitschy

Kitsch – das ist ein Begriff, dessen Definitionsversuche nicht annähernd die Kitsch-
Wirklichkeit erreichen können und er ähnelt darin dem Begriff der Kunst. Dieser
Unschärfe wegen wird aber besonders der Kitsch in die Sphäre der Geschmackssache verlegt. Doch das mit einem verzeihenden Lächeln verbundene Übersehen und Tolerieren des Kitsches ist, wenn nicht ein von Interessen geleitetes Kalkül, so doch eine geistige Schwäche und selber kitschig. Der Kitschmensch will im süßlichen Farbendunst nach seinem enteilenden Glücke haschen und stempelt alle diejenigen zu kopflastigen und Spaß verderbenden Störenfrieden, die den Kitsch als Kitsch benennen. Der Kitschmensch verwischt die Konturen und siedelt den Kitsch im Nebel verhangenen Niemandsland zwischen sich und den Dingen an. Das Gefallen (wie ich dieses Wort hasse, sagt Goethe) relativiert dabei alles und übereignet den Kitsch dem Klatsch. Er gilt als harmlose Garnierung des angenehmen Lebens, man lächelt mit dem Hinweis auf ein „Das Bisschen macht doch nichts“ darüber. Doch die Behauptung, ein Tropfen Kitsch sei in jeder Kunst, ist nur als Hinweis auf die allgemeine Unvollkommenheit menschlichen Tuns akzeptabel, nicht aber als Verweis darauf, dass der Kitsch noch einen anderen Wert hätte, als den fürs Geschäft. Die Nippes und Gartenzwerge sind Kleinigkeiten gegenüber dem heimlichen und darum unheimlichen Kitsch, der unser gesamtes Leben durchzieht und letztlich auch die Marktwirtschaft am Leben hält. Die Massenmedien und die Werbung sind Laboratorien des Kitsches, er ist eine Weltmacht. Kitsch ist überall, pausenlos, omnipräsent und: gefährlich.

Kitsch ist ein Lockstoff, der blöd und sentimental macht. Er ist eine Lebenshaltung, die eine widerspruchsfreie und geschlossene Welt imitiert. Kitsch ist im Kopf, er ist eine gängige spießige Denk- und Verhaltensweise und benutzt nur exemplarisch die Metaphern des Schummrigen, Herzigen, Seichten und penetrant Süßen… Dieses Zerrbild der Wirklichkeit mit Namen „Kitsch“ hat sich tief in die abgelegensten Sphären unserer Existenz eingenistet. Nur einige Auswüchse des kitschigen
Bewusstseins haben sich in Trivialromanen, Devotionalien oder Schnulzen vergegenständlicht. Kitsch-Elemente verbergen sich überall – in den Benefizkonzerten von Miss Tagesschau, in der Bauhaus-Tapete, im Hanuta-Werbeclip und in den Männerfreundschaften der großen Politik.

Kitsch hat viele Verkleidungen, man kann sie unmöglich alle aufzählen: Wohn- und
Schlafzimmerkitsch, erotischen Kitsch, Poesiealben, Heimatkitsch, Naturkitsch, sozialen Kitsch, Blut- und Bodenkitsch, Monumentalkitsch, patriotischen, politischen, religiösen und ideologischen Kitsch, Groschenhefte, mondänen Kitsch, Pfennigfuchser, Gemütlichkeitskitsch, Andenkenkitsch, Fernwehkitsch, Nostalgie, Schnulzen, Trivialliteratur, Kunstkitsch, Seifenopern, Schönheitsköniginnen…

Es gibt keinen wertneutralen oder positiven Kitsch. Hinter ihm steckt das „radikal Böse“, so könnte man Hermann Broch zustimmen, wenn „böse“ (außerhalb der kindlichen Sphäre) nicht selbst ein kitschiges Wort wäre. Kitsch ist nicht bloß eine künstlerische Schwäche, ein handwerklich Misslungenes oder ein ästhetisches Versagen, sondern ein raffiniert gemachter und funkelnder Kulturmüll. Über schlechtes Design und dilettantische Kunst wird hier nicht gesprochen, sie wären leichter entschuldbar. Kitsch ist auch nicht durch den Hinweis auf seinen Nutzen für Religion oder Zirkus zu rechtfertigen. Kitsch ist auch keine „Subkultur“ im Sinne einer Alternative zum Mainstream, sondern dieser selbst. Auch eine „demokratische Potenz“ des Kitsches in Hinblick auf seinen Massencharakter ist nicht zu erkennen, im Gegenteil, er verdummt und entmündigt die kitschsüchtigen Massen. Populäre Kultur müsste ganz anders ambitioniert sein.

Es gibt wohl natürliche Vorlieben für Himmelblau und Wuschelweich, doch nicht nach Kitsch. Im Kitsch können alle Ansprüche nur eine depravierte Erfüllung finden. Er befriedigt kein einziges menschliches Bedürfnis, es sei denn in der Form der Illusion. Er ist ein hohles Versprechen und eine Perversion des Zeitbewusstseins. Er drückt natürliche Bedürfnisse unnatürlich aus. Kitsch, so scheint es, entsteht durch die Einwirkung einer fremden Macht, die alle Verhältnisse der Menschen gegen sie verfälscht, so auch die ästhetischen. In einer Kultur der Menschlichkeit müsste es aber möglich sein, alle ästhetischen Ansprüche kitschfrei zu befriedigen. Designer und Künstler sind deshalb von ihrer gesellschaftlichen Funktion (und ihrer inneren Disposition?) her die Fachleute des Gegenkitsches, sie entwickeln Gestalt- und Wirkmuster, welche diejenigen affektiven Sehnsüchte, die irrtümlich auf Kitsch gerichtet sind, sehr viel direkter und unverfälschter erfüllen können.

Kitsch ist nicht an seinen Farben und Formen zu erkennen, auch nicht an bestimmten äußeren Wirkungen, nicht an Ergriffenheit und Tränen. Im Kitsch trifft das Klebrig-Süße (das äußere Kitschpotential) auf die verdorbene Kitschdisposition der Wahrnehmenden. Einzelne Merkmale wie Bonbonfarben oder solche Methoden wie die Verniedlichung sind noch nicht Kitsch, aber sie sind kitschverdächtig. Die Kombination von vielen kitschverdächtigen Merkmalen macht das Ding noch verdächtiger, doch kann der Kitschzustand nur dann ausgerufen werden, wenn die kitschigen Reize tatsächlich dazu führen, dass die Wirklichkeit hinter einem betörenden Nebel verschleiert wird, dass es tatsächlich beim Rezipienten zu einem Realitätsverlust kommt. Kitsch muss deshalb hinsichtlich seiner komplexen Wirkung, also funktional definiert werden. Kitsch wird nur im Vollzug eines Austauschprozesses zwischen zwei Kitschmenschen zum Kitsch.

Die Grenze zwischen Kitsch und Nicht-Kitsch variiert in den verschiedenen Kulturen und individuellen Einstellungen. Sie schwankt, ist subjektiv, doch gibt es eine klare Scheidelinie zwischen Erklärung und Verklärung, zwischen Erweiterung und Beschränkung des Bewusstseins, zwischen Gefühl und Rührung. Was aber für den einen eine Vernebelung des Blickes und eine Erschlaffung seines kritischen Denkens bedeutet, kann durch eine andere Disposition zu einer Quelle des Kreativen werden, also kein Kitsch sein.

Kitsch ermüdet ohne Erquickung, sättigt ohne satt zu machen, betäubt ohne Rausch, erschlafft ohne Erfolg, verdunkelt im Glitzern, verschleiert durch Auffälligkeit und er verklärt – wo er aber aufklärt, belebt und inspiriert, ist er kein Kitsch. „Kitsch“ ist dort kein Kitsch, wo es gelingt, das kitschverdächtige Reizmaterial aus der Scheinwelt in die freie Phantasie und von dort in das Verstehen der eigenen Wirklichkeit hinüberzuleiten.

Durch Kitsch kann alles zum Fetisch werden. Auch die Neue Sachlichkeit kann verklärt und zum Ornament werden, auch Beethovens Neunte wird durch Ritualisierung verkitscht. Nach dem fühlsamen Kitsch-Training, das die Bewusstseinsindustrie jedermann verordnet, kann auch das sprödeste und das komplexeste ästhetische Material kitschy rezipiert werden. Umgekehrt kann die Widerstandskraft eines kritischen Geistes der Schmeichelei des Kitsches standhalten, wenn er darauf vorbereitet ist. Eine allgemeine Kitschkompetenz als die Fähigkeit, mit den Kitschvorgaben selbstbestimmt umzugehen, ist aber völlig unzureichend entwickelt.

Es gibt Einfallstore für den Kitsch und Dämme gegen ihn. Als Kitschblocker treten die Antipoden der Kitscheigenschaften auf, zum Beispiel die kritische Distanz, das logische Kalkül, der sachliche Vergleich, die Verfremdung, der Bruch, das tiefe Gefühl, die historische Zuordnung u.a. So kann sowohl die ästhetische Vorlage durch eine antikitschige Organisation des ästhetischen Materials, als auch die Widerstandskraft der Konsumenten den Kitschzustand erschweren oder verhindern. Die Kitschkompetenz der Normalverbraucher und die Kitschresistenz der ästhetischen Eliten können den Kitsch unterbinden, doch ist zu vermuten, dass er systembedingt ist, denn er dient als Beruhigungsmittel und ist ein erstklassiger Wirtschaftsfaktor.

Der Kitschmensch ist ein solcher, der das Bedürfnis nach Kitsch in sich trägt und es ist selbstverständlich, dass er diesem Bedürfnis nicht genetisch obliegt, sondern dass er es im Lebenslauf erworben hat, Kitsch ist menschgemacht, also ein historisches Phänomen. Vorformen des Kitsches mag es seit dem Hellenismus oder immer gegeben haben, doch ist der entwickelte Kitsch ein an die Industriegesellschaft und die Warenästhetik gekoppeltes, verkaufsförderndes Schmeicheln („kitschen“ bedeutet im Volksmund verhökern).

Auch die bloße Verhinderung von Kitsch ist Kitsch. Wirkliche Veränderung ist immer die von „Erster“ Realität oder wird auf diese hinwirken. Kitsch aber ist Teil einer von langer Hand manipulierten Scheinwelt, er erwächst nicht aus einem an der inneren Natur geschulten Bedürfnis des Menschen, dessen stärkste Eigenheiten sich dort ausbilden, wo die ökonomischen Zwänge am schwächsten sind. Kitsch ist vor allem im Kapitalismus ein ästhetisches Element in der Machtpolitik der Herrschenden. Der Kampf gegen den Kitsch findet deshalb nicht vorrangig auf dem Gebiet der Ästhetik statt.

KITSCH – EIGENSCHAFTEN

Kitsch ist oberflächlich und falsch.
Während der Realitätsverlust die allgemeinste Wirkung (und Absicht) des Kitsches ist, wird der trügerische Schein zu seinem hervorragenden Mittel. Alles ist pseudo: Die Gefühle, die Konflikte, der Stoff, die Erfindung. Kitsch setzt auf Traumwelten, er vermarktet Massensehnsüchte, vor allem die nach einer heilen Welt. Den Bedürfnissen, die er erweckt und vorgibt zu befriedigen, versagt er die Erfüllung. Der bunte Zuckerguss oder die sachlichen Symbole vertuschen die Sache dahinter oder geben vor, die Sache selbst zu sein. Kitsch bespiegelt sich als funkelnde Oberfläche, sodass alle Hintergründe verschwinden.
Kitsch zwängt zwischen Schein und Wirklichkeit die Lüge. Irgendetwas ist immer unaufrichtig und obszön am Kitsch. Er ist ein ethisch-ästhetisches Imitationssystem, das auf dem betrügerischen Bankrott ästhetischer Werte beruht. Der Kitschproduzent empfindet sich als wohltätiger Betrüger und hält den für armselig, der sich zu seiner Erheiterung nicht täuschen lassen will.
Kitsch liebt das Spiel mit dem Unechten, er täuscht Stoffe vor, die werthaltiger sind als die eingesetzten. Die vermeintliche axiologische Erhöhung des Billigen führt zum Imitations-Schwulst und ist etwas ganz anderes als das ästhetische Spiel von Schein und Wirklichkeit der Kunst. Im Kitsch ist nur noch er selbst authentisch, im besten (seltensten) Falle kann er sich selbst und zugleich ein ästhetisches Dogma wie die „Materialgerechtigkeit“ karikieren.

Kitsch ist simpel und trivial, er liebt die Sauberkeit und Ordnung.
Während Kitsch die Erlebnisse und Gefühle verwirrt, reduziert er den kognitiven Haushalt der Konsumenten. Die Formen sind gängig, die Botschaften eindimensional. Das Einfache und Schlichte wird zum Simplen und Banalen verwandelt.
Kitsch trifft die konformen Erwartungen eines Massenpublikums und hat kein Interesse an dessen ästhetischer Qualifizierung. Der gefällige und triviale Kitsch entfaltet seine Wirkung in einer Melange aus Naivität und Raffinesse. Kitsch ist eine affirmative Projektionsfläche für die eigene, zurecht gestutzte Rührseligkeit.
Kitsch liebt die reine Liebe und das reine Glück, auch die hygienische, ethnische und rassische Reinheit. Kitsch ist antiseptisch und entwirft makellose und perfekte Bilder der Welt, also falsche. Der Kitschmensch liebt alles Ordentliche, vor allem die Hierarchie in Staat und Familie. Ein überzogenes Sicherheitsbedürfnis befürwortet, in einem scheinbaren Widerspruch zur Sentimentalität des Kitsches, Härte und Strenge gegen diejenigen, die der klein karierten Norm widersprechen. Kitsch setzt auf ein simples und dogmatisches Schwarz-Weiß-Schema, in seinen moralischen Attitüden teilt er die Welt in Gut und Böse, in Gott ergeben und satanisch. Polizei und Militär werden vor dem Stigma des Bösen glorifiziert und die Angst vor dem Bösen wird aus dem gleichen Interesse heraus geschürt, aus dem es gepäppelt und gewaltsam bekämpft wird.

Kitsch sentimentalisiert die Gefühle zur bloßen Rührung.
Auch die sachlichsten Lebensbereiche werden auratisch mit Gefühlen durchschwemmt. Alles wird durch Kitsch dämonisiert und erotisiert. Kitsch ist nur ein „Gefühlchen“ (Nietzsche), doch die Gefühlsnot des Publikums ist groß und echt. Dessen Gefühle werden nicht erwidert, sondern zur Esoterik und Mystik verdünnt. Körperlichkeit und Schönheit werden summarisch aphrodisiert. Der Eros ergreift von allem Besitz und verblödet es umso mehr, je weniger das künstlich Erotisierte einen natürlichen Bezug zum Sex hat (z.B. Werbung für Autos und Büromöbel). Hinter der vermeintlichen Schamlosigkeit und dem Exhibitionismus des Kitsches verbergen sich nur die sexuellen Verklemmungen des Kitschmenschen. Die Instrumentalisierung des Erotischen ist immer kitschverdächtig.
Die Dominanz der Gefühlswelt hat zwei unterschiedliche Effekte: Einerseits werden starke Gefühle verniedlicht und domestiziert, andererseits gewinnt ein blutleerer Ästhetizismus an Farbe (vgl. den noblen CAMP). Wesentlich an allen Kitsch-Emotionen ist, dass sie sich verlieren, bevor sie die Lust an weitergehenden Assoziationen erwecken, sie werden zum Zweck des Kitsches umgeleitet.
Das Oberflächliche am Kitschgenuss ist der kurze Zeitraum bis zur Enttäuschung. Es kommt nicht zum ästhetischen Genuss, als der Schwebe zwischen Objektgenuss und dem Genießen des Genusses als Lust. Es bleibt dagegen bei einer folgenlosen Genüsslichkeit, die das Jammern und die Tröstung einschließt, letztlich bleibt es beim Selbstgenuss der induzierten Stimmung. Im Kitsch tritt das Unbewusste nicht als kreatives Potential oder als Phantasie auf, sondern als ein mondhaft Fernes und deshalb Auratisches.

Kitsch ist ein Klischee mit einem kleinen Tabubruch.
Kitschproduzenten sind Epigonen, Kitsch lebt von Nachahmungen und Reproduktionen. Seine Innovationen sind immer pseudo und eigentlich schon verbraucht. Bilder, Dialoge oder Verhaltensweisen sind stereotype Muster, aber eine marginale Kleinigkeit ist jedes Mal auffällig, scheinbar neu und vielleicht sogar respektlos. Kitsch lebt von großen Tabus und dem kleinen Tabubruch. Der Kitschmensch überschreitet keck eine kleine unverfängliche Hemmschwelle, so hat er das Gefühl, mutig und frech zu sein, ein hohler Revoluzzer. Der schickliche Rahmen bleibt aber eng, der Kitsch ist pseudo-avantgardistisch, er ist ein uniformierter Nonkonformismus.
In Ausführung des mechanischen Geistes der Industrie reduziert der Kitsch in Literatur und Film die agierenden Personen auf bloße Schablonen, auf Kitschidole, die einer Pseudo-Dramatik, aber keiner Entwicklung der Charaktere oder Umstände folgen. Auch Trends, Moden, Talks und Shows werden zunehmend einem rigiden Planungsapparat unterworfen, in dem auch die Spontaneität inszeniert wird. Im Kitsch herrscht eine perfide Arbeitsteilung. Nicht mehr die kreativen Künstler treten in Erscheinung, sondern es werden Superstars implementiert, die von Managern und Vertragsautoren nach einem Gewinn bringenden Schema kreiert werden.

Der Gefühls-Brei will Widersprüche tilgen.
Kitsch verschleiert reale Konflikte und Interessenlagen zu einem homogenisierten Konglomerat. Kitsch ist stromlinienförmig, er passt sich allem, vor allem dem Mainstream an. Kitsch vermeidet Brüche und harte Spannungen, die der unterschwellig beruhigenden Wirkung entgegenstehen und setzt auf Atmosphären und positiv gestimmte Räume, in denen das Fließende und Seichte zur Harmonie stilisiert wird. Auch Synästhesien können die Strukturiertheit der Wahrnehmung verflachen. Wer durch die Nebel des Kitsches gerührt ist, der unterläuft die kognitiven Systeme, so dass die Überlagerung von Ton, Bild und Wort die Rezeption verschwimmen lässt. Synästhesien und Resonanzen führen im Kitsch zu einem sensorischen Eklektizismus, der auf Verführung zielt.
Kitsch springt ins Auge, er beschleunigt die Wahrnehmung und kürzt die Perzeption ab. Kitsch ist gierige Teilhabe am beschleunigten Besitz ergreifen und zielt auf einen bewusstlosen Zeitgewinn. Gags, ausgelutschte Symbole und abgeschmackte Metaphern machen den Kitsch schnell, er ist das Gegenteil von Verinnerlichung und Muße.

Kitsch enthält eine Beziehungsstörung von Form und Inhalt, von Gestalt und Funktion.
Kitsch ist nicht plausibel, er sagt entweder nichts oder plappert zu viel, die äußerste Formschicht ist zu vordergründig, als dass der Kitsch als gelungene Gestaltung gelten könnte. Entweder der sentimentale Inhalt ist aufgeplustert (Schmalz) oder die Form dominiert überreich über einen banalen Inhalt (Schwulst).
Kitsch-Produkte erzählen etwas, das nichts mit dem Zweck der Dinge zu tun hat. Der narrative Inhalt hat sich gegenüber dem Utilitären verselbständigt. Die Dinge glänzen und plappern, haben aber nichts zu sagen – außer, dass sie kitschy sind, man darüber aber nicht sprechen solle. Kitsch überspielt seinen Betrug durch Witze. Sie täuschen über den autoritären Gestus des Kitsches. Zwischen billigem Spaß und erhobenem Zeigefinger ist Kitsch nicht lustig und Gags (erfundene, stereotype Lacher) ersetzen den Humor. Kitsch liebt auch die Dinge aus zweiter Hand, doch interessiert den Kitschmenschen daran nicht das Authentische des Gebrauches (Kopien sind ihm auch recht), sondern seine Neigung zum Billigen, Nostalgischen und Auratischen.

Kitsch ist ein verlogenes Geschäft.
Kitsch trägt den Geist des Industrialismus und der Marktwirtschaft. Zwischen Markt und Kitsch gibt es eine strukturelle Verwandtschaft. Kitsch ist Bestandteil einer betrügerischen Vermarktungsstrategie. Ehrlosigkeit und Gewinnsucht sind wichtige Triebkräfte des Kitsches, den es in ausgeprägter Form erst im kapitalistischen Zeitalter gibt, d.h. in einer Gesellschaft, in der sich das Prinzip durchsetzt, dass der Zweck (d.h. der Gewinn) die Mittel heiligt. Mehr als bei anderen Gütern wird der ästhetische Schrott lediglich für den Ladentisch hergestellt, wo die Verantwortung des korrupten Produzenten endet. Das Kitschprodukt wird durch den Verkauf aber weiter erniedrigt. Beim Hand gemachten Kitsch ist ein Teil der Rührung schon am Anfang dabei, als verquaste Intention der Laien.
Nur die auf Profit basierende Massengesellschaft trägt das Billige als doppeltes Markenzeichen in sich: als jedermanns Ding und als Schund. Kitsch ist in ökonomischer und psychischer Hinsicht billig. Der wirtschaftliche Aufwand muss wegen des Massenpublikums gering sein, der geistige Aufwand wegen der Gefallsucht, der Naivität und dem politischen Konservatismus des Kitschmenschen. Dieser will die ihm eigentlich teuren Werte billig genießen. Edelkitsch soll noch teurer erscheinen, denn der Kitschmensch realisiert sich in seinem Streben nach höheren Werten auf dem Markt.

Im Kitsch verschwindet die Wirklichkeit.
Kitsch ist der blaue Dunst oder der lustige Vorhang, der sich vor die Wirklichkeit schiebt. Der Kitschmensch traut eher dem Geschminkten als der unsicheren Wahrheit, er hat Angst vor dem Hässlichen und Komplizierten. Kitsch entfremdet und ist zugleich eine Droge gegen die Entfremdung. Während die Aufklärung zu entwirren sucht, verwirrt der Kitsch (Kunst aber entwirrt vielleicht durch Verwirrung).
Die Intention der Weltflucht ist entweder rückwärts gewandt, z.B. auf die eigene Kindheit gerichtet (Regression) oder auf einen idealischen Zustand (Projektion). In jedem Falle werden dem Rezipienten Momente seiner Persönlichkeit entzogen, durch Kitsch verliert er nicht nur an kritischem Bewusstsein, sondern auch an Authentizität.
Der Kitschmensch flieht vor der Gegenwart und vor sich selber, am liebsten flieht er in andere Zeiten oder Kulturen, also in Nostalgie und Exotik. Er verkitscht die Gegenwart und die Vergangenheit und verachtet die Utopie. Ebenso ist die Flucht in die Fremde verlogen, weil der Kitschmensch trotz aller Sensationslust nicht wirklich neugierig ist, er liebt nur dann das Fremde, wenn es assimiliert, also eigentlich schon das Eigene ist.

Kitsch lässt sich durch Politik und Religionen leicht instrumentalisieren.
Das Interesse am Kitsch kommt dabei immer von Oben. Kitsch ist keine Subkultur, er ist keine Alternative zur herrschenden Kultur, sondern deren ausführendes Organ. Man kann aus dem Realitätsverlust anderer die eigenen Vorteile ziehen. Machthaber nutzen deshalb die verführerische Wirkung des Kitsches, der sich hemmungslos in das Bewusstsein einschleicht, zur Manipulation. Kitsch will vereinnahmen und einflüstern, er lässt keinen (kritischen) Abstand zu. Während sich Kunst an ein sachkundiges und einfühlsames Publikum wendet, dieses noch kundiger macht und sensibilisiert, wenden sich bezahlte Profis, die nie gerührt sind, an rührseelige Dilettanten, deren ästhetische Unmündigkeit durch Kitsch vertieft und verlängert wird.
Diktatoren wie Hitler, auch Stalin und Saddam Hussein, aber auch so genannte demokratische Regierungen wie die Bush-Administration bedienen sich ausgiebig des Kitsches zur Machterhaltung. Kitsch bestätigt die bestehende soziale Schichtung, auch den sozialen Normendruck. Eine Wirkmethode des Kitsches ist es, die Illusionen seiner Kundschaft auf den Glanz der Paläste, auf alles Edle, hochzustapeln um zugleich dieses Publikum sozial weiter zu demontieren. Armut wird ausgeblendet oder zum Gegenstand eines sentimentalischen Mitleides gemacht. Frauen erscheinen im Kitsch entweder als Kindsfrauen, die beschützt werden wollen, oder als Vamp, vor dem man die Männer schützen sollte, aber kaum als selbst bestimmte Personen.
Religiöser Kitsch ist besonders kitschy, weil der Kitsch selbst eine ästhetische Form des Religiösen ist, das sich mit dem Flitter von Spiritualität, mit Wundern und Ritualen umgibt. Der scheinheilige Kitsch will selbst angebetet werden. Er macht hinter dem Schleier der barbusigen Unschuld, welche die Augen himmelwärts gewendet hat, auf das Martyrium des Kreuzes aufmerksam. Der Kitsch ist eine Ersatzreligion und zugleich deren banalster Ausdruck.

Der gefährliche Kitsch und die harmlose Unterhaltung treiben die Kunst vor sich her.
Die Kunst ist eine Quelle der Bewusstseinserweiterung, der Kitsch hintertreibt die ästhetische Erkundung der Wirklichkeit, die Unterhaltung aber erfüllt die Gegenwart mit einfältigen Zerstreuungen und Späßen. Kunst ist eine Inspiration von Welt, Unterhaltung ist folgenloser Zeitvertreib, im Kitsch aber wird das Banale vollstreckt. Spaß und Wehmut gehören zur Unterhaltung, Gags und Rührung zum Kitsch, Schmerz und Freude aber zur Kunst. Kunst versucht, sich den Zwängen der Verwertbarkeit zu entziehen, Unterhaltung und Kitsch aber unterwerfen sich lustvoll ihrer Instrumentalisierung.
Die Geschichte der modernen Kunst ist eine Geschichte der Flucht vor dem Kitsch in die Nischen, die noch frei von Klischee und Rührung sind. Die modernen Künstler ergriff eine panische Angst vor dem übermächtigen Kitsch, denn Werbung und Medien haben nach und nach das Arsenal der Kunst vereinnahmt, sie haben das Historische, das Florale, das Bildhafte, das Gegenständliche, das Expressive, das Opulente, das Narrative, das Schöne, das Farbige und alles Sinnliche usurpiert. Durch Werbung und Unterhaltung ist dieses ästhetische Material in den Augen der Künstler verschmutzt und unbrauchbar geworden. Die Kunst und das Design haben sich in asketische Gefilde zurückgezogen, in Rationalismus, Funktionalismus, Abstraktionismus, Minimalismus oder Konzeptualismus. Die moderne Kunst ist bei ihrer Flucht vor der Kitschindustrie in eine merkwürdige Defensive geraten, der Ausweitung des Kunstbegriffes steht die ungeheure Reduktion ihrer Mittel gegenüber. Nur so ist „Antikunst“ als ein Synonym für Kitsch zu verstehen.

SECHS ANWENDUNGEN

KITSCH-KUNST: DALI UND JEFF KOONS

Im Gegenzug zum Reduktionismus der Moderne versuchen Künstler wie Salvador Dali oder Jeff Koons die psychischen Potentiale des Kitsches, in die Kunst zurück zu führen. Dali hatte sich als erster dem Austrocknen der Moderne widersetzt. Er ist auch ein Moderner, aber kein Flüchtender, er stellt sich dem Ansturm des Kitsches, nimmt ihn auf, flirtet mit ihm, verdreht und vernascht ihn in einem ausschweifenden Überkitsch. Dali ist Kitschmensch, Entertainer und Künstler zugleich, denn er tut dreierlei: Er schwächt das kritische Potential der Kunst durch den Firlefanz seiner Mystik, dabei unterhält und zerstreut er. Und drittens ist seine Kunst auch eine wunderliche Quelle der Inspiration. Dali schwankt und tanzt zwischen Kunst, Kitsch und Unterhaltung auf eine phantastische Art, dieses kreative Schwanken ist seine Genialität. Dali spielt auf der Klaviatur der Affekte, er ist selbst ein Teil der Kitschkultur, die er nicht wirklich konterkariert. Er macht die kitschigen Codes salonfähig, indem er sie benutzt und umwirbt. Doch irgendwie nutzt er den Kitsch auch als Sprengkraft gegen die etablierte Kultur. Man braucht aber offensichtlich einen sehr guten Geschmack, um den schlechten akzeptieren zu können.

Dalis Bilder wirken geheimnisvoll, doch fehlt ihnen das ergründbare Geheimnis. Absurdes ist nicht decodierbar und kitschverdächtig ist die Behauptung, der Surrealismus bzw. die „paranoisch-kritische Methode“ sei der eigentliche Realismus und das Unbewusste sei die eigentliche Basis der künstlerischen Kommunikation. Es ist kitschig, die Kunst auf dem Unfasslichen zu begründen und die Verantwortung für das eigene Schaffen an ein „Etwas“ zu delegieren, das die Bilder gemalt habe. Hinter dem Kitsch steckt manchmal ein übertriebenes Sendungsbewusstsein und manchmal eine kommerzielle Erfolgssucht.

JEFF KOONS inszeniert die Kunst als totalen Kommerz. Für ihn steht der Verkäufer an vorderster Front der Kultur: Drei Wassertanks verkauft er als die Heilige Dreieinigkeit. Das Banale ist für ihn der Einstieg in das Massenpublikum, das nur von Millionen-Auflagen beeindruckt ist. Die Kunst ist für Koons nur wirksam, wenn sie auf die Titelseiten der Illustrierten kommt, also bunt ist wie Madonna. Koons will nach der Ideologie des Kommerzes „nur“ Bedürfnisse befriedigen, „das muss doch erlaubt sein“. Kitsch ist für ihn kein Thema, weil Kunst Kitsch ist. Wo Dalis Absurditäten auf Eliten stießen, landet Koons auf dem Rummelplatz der Moden. Er spielt den Kitsch in die Hände einer ökonomisierten Welt.

POESIEALBUM

Ein Poesiealbum ist ein Buch ohne Poesie. Jedes gewöhnliche Schulheft und jeder Satz auf der Wandtafel hat mehr Poesie als ein Poesiealbum. Dabei waren die Vorformen dieses traurigen Missverständnisses noch Dokumente des Kunstverstandes. Die Wappen-, Ahnen- und Stammbücher blieben bei ihrer Umwandlung vom höfischen Gebrauch zum bürgerlichen noch individuelle, kunstfertige Gegenstände, die für unterschiedlichen Verkehr geeignet waren. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert waren sie noch wirkliche Poesiebücher, die vor allem von Studenten für schwärmerische Traktate ihres Gefühlslebens genutzt wurden. In der Industriegesellschaft wurde das Poesiealbum infantil. Aufgeklebte Glitzerbilder und aufgeblasene Verse machten aus dem kreativen Heft ein aufgemotztes kitschiges Produkt, das mit den Klischees und Schablonen der Massenkultur aufgefüllt und optisch durch Engel, Sternchen, Mickey Mouse und Vergissmeinnicht aufgeheitert wurde.

Kitsch hat die Eigenschaft, sich modernisieren zu können. Gegenüber seinem vorherigen Zustand erscheint er durch kleine Momente des Kreativen dann zunächst nicht mehr kitschig, bis die Grundeigenschaften der Scheinkunst wieder erkennbar sind. Heute ist das Poesiealbum durch das „Freundschaftsbuch“ ersetzt, das nicht mit dem „album amoricum“ verwechselt werden darf. Freundschaftsbücher enthalten neben den steckbrieflichen Angaben zur (Haut-), Haar- und Augenfarbe einen Fragebogen zu den Lieblings-Farben, Büchern, Filmen, Stars und Models, dazu Hobbys und Berufswünsche, sie sind also ein Test im Mainstream (in der Stromlinienförmigkeit), den ein Kind bestehen muss. Im Abfragen der Klischees der Kulturindustrie ist der ganze klebrige Kitsch auch dann enthalten, wenn das Freundschaftsbuch keine goldene Rose im roten Herzelein ziert, sondern ein Foto lachender Kinder. Gerade die Tatsache, dass Kinder leicht auf Kitsch hereinfallen, heißt aber nicht, dass sie ihn lieben.

MILITÄR

Kitsch ist in Form von Nippes süß und harmlos, aber bierernst und martialisch beim Militär. Die Kasernen sind durch und durch verkitscht. Das sieht man schon an den lächerlichen Uniformen, den Epouletten, den aufgeblasenen Mützen, den Abzeichen, Kordeln, Goldknöpfen, also an den Schnörkeln der Uni-Formen, an dem Formalismus der Gleich-Schritte, dem Kaspertheater der Begrüßungs- und Befehlsrituale usw. Die waffenharten Boys brauchen das Patriarchische am Kitsch, die Ordnung, besonders die Hierarchie. Alles ist falsch am Militär, vor allem die Behauptung, Konflikte, die es durch seine Existenz erst produziert und provoziert, lösen zu können. Auch ist die Behauptung eine Lüge, der Gegner sei im fremden Lande, denn die Generäle aller Länder bilden trotz ihrer konträren Schießbefehle eine verschworene Clique. Für die Soldaten, wie für die Zivilisten steht der Gegner immer im eigenen Land, er gehört zu den „eigenen“ Machteliten. Diese versuchen gegen die selbst inszenierten Bedrohungen, ein trügerisches Sicherheitsgefühl zu verkaufen, dessen Blendwerk der militärische Kitsch ist.

Das Militär ist klein kariert, seine Strukturen sind äußerst simpel, das korrekte Verhalten der Uniformträger ist kindisch, die Soldaten haben einen extremen Realitätsverlust, das Militär ist eine infantile Macht. Rechts gerichtete Politiker, die auf militärische Lösungen setzen, verhalten sich ebenso infantil, wie beispielsweise ein Präsident, der mit Jagdmotiven (aufstöbern, ausräuchern) den Kampf gegen Terroristen beschreibt und die internationalen Interessenkonflikte in der Kindersprache (gut, böse) artikuliert. Das Militär ist eine ästhetisierte Gewalt und der Kitsch darin hat nichts Menschliches, er ist kalt und arrogant.

WERBUNG

Werbung ist der Versuch einer Wertsteigerung ohne Wertsteigerung. Werbung ist immer unredlich, weil sie ein Gebrauchswertversprechen gibt, das von dem beworbenen Produkt nicht eingelöst werden kann. Werbung ist nur der Schein der Ware, der ein Bedürfnis nach dem eigentlichen Ding erwecken soll. Dem Konsumenten wird etwas angepriesen, was er (noch) nicht haben will. Werbung erfüllt also keine Bedürfnisse, sondern schafft sie – und zwar die nach den Produkten wie nach der Werbung selbst. Sie setzt psychagogische Mittel der Überredung ein und hält den Adressaten für unmündig – und macht ihn dadurch unmündig.

Neben dieser durch den verlogenen Schein zu charakterisierenden strukturellen Verwandtschaft zwischen Werbung und Kitsch gibt es das typische kitschverdächtige Vokabular der Werbung, wie die Falschheit des Erotischen, das Süßliche, die Vernutzung des Schönen, Sinnlichen, der Missbrauch von sozialen Gefühlen (McDonalds sammelt 1 Cent für Hungernde Kinder in Afrika) und ökologischem Bewusstsein (die Autoindustrie hat den Wald entdeckt). Wichtige und gültige Themen werden durch ihre Verwurstung in der Werbung verharmlost und von der Agenda gestrichen. Innerhalb dieser Kitschglocke der Werbung gibt es natürlich auch Antikitsch, z.B. könnten Kreativität, originelle Bildideen und Argumentationsmuster außerhalb der Warenästhetik und Konsumwerbung wirklich kitschfrei sein.

OSTALGIE

Die Nostalgie ist ein wehmütiges Klagen über das Vergehen der Vergangenheit, sie ist eine Form der Weltflucht, eine Ungestalt des Zeitbewusstseins. Auch die Medien gesteuerte Ostalgie versucht sich der Gegenwart kitschig zu entziehen. Bei diesem besonderen Vergangenheitsweh ist der Osten (der DDR-Sozialismus) durch die Mühle westlicher Vermarktungsstrategien gezogen worden und tritt in Form von Fragmenten des spießigen DDR-Alltags wie blödelnder Ost-Showstars auf. Der unbekümmerte Zugriff auf eine wehrlose Geschichte weckt weder auf der Ostalgie-Party noch beim Ossi-Quiz ein historisches und politisches Interesse an der DDR. Ostalgie ist die marktwirtschaftliche Steigerung des DDR-Spießertums auf einem noch kitschigeren Niveau. Die massenmediale Ostalgie respektiert weder die Gefühle (das Vergangenheitsweh) der Ost-Sozialisierten, noch werden deren Erfahrungen zur Lösung aktueller Probleme aktiviert. Statt einer Aufarbeitung der Bilanzen, der Fehler, Defizite und Leistungen des „Real-Sozialismus“ vorzunehmen, werden Versatzstücke dieses Systems zum Anbetungs- oder Verdammungsmuster stilisiert. Ostalgie verhindert ein produktives Erinnern, indem sie das historische Material in den Rachen der Unterhaltungsindustrie wirft oder sie ist eine betrügerische Werbung für West-Produkte (Spee in Henkel-Hand), die sich mittels einer anheimelnden Aura des untergegangenen Staates besser verkaufen lassen.

CELEBRATION–City

Im Kitsch sind die seichten Codes mit konservativem Denken und spießigem Verhalten immer verbunden, am meisten aber dort, wo das Kitschmotiv aus einer kollektiven Lebenslüge erwächst. Die Krise der modernen Stadt hat zu Versuchen geführt, die sozialen und ökologischen Probleme der Urbanisierung im Rückwärtsgang, aber als technisches Produkt des 21. Jahrhunderts zu lösen. Celebration-City ist ein Projekt des Walt-Disney-Konzerns für 20 000 Einwohner aus der weißen Mittelschicht der USA. Im Stile vorindustriellen Bauens wurde eine Kleinstadt in Florida geplant und gebaut, die schon deshalb Kitsch ist, weil sie eine Insellösung darstellt. Es gibt dort keine Autos, keine dreckigen Busse, keinen Hundekot, keine Trunkenheit, keinen außerehelichen Sex und keine Kriminalität. Dafür gibt es Vorschriften über die Höhe der Zäune und die Schnittlänge des Rasens, die Wahl der Säulenordnung (6 Baustile), die Farbe der Vorhänge usw., auch unterliegen die Atemtechnik, Gesundheitsprogramme und die regelmäßigen Besuche beim Nachbarn einer Vorschrift, der sich die Marionetten freiwillig unterwerfen. Alles Störende wird aus der Schlafstadt (und dem Bewusstsein) verdrängt, z.B. die Autos oder die Farbigen. Verkehrskollaps und Rassismus werden durch einfache Rezepte wie Monofunktionalität oder ethnische Segregation ausgemerzt. Der Dschungel der Großstadt wird in eine Friedhofsordnung verwandelt. Im Interesse der „Sicherheit“ wird alles kleinlich überwacht und kontrolliert. Die Demokratiedefizite werden durch Abschaffung der Demokratie gelöst (der gewählte Bürgermeister ist durch einen Beauftragten des Konzerns ersetzt worden). Die Probleme mit der Öffentlichkeit führen zur Privatisierung der Straßen und Plätze (sie sind ebenfalls Firmen eigen), letztlich zur Auflösung der Öffentlichkeit. Kitsch ist hier eine Form des Lebens selbst. Der Kitschmensch findet seine Scheinwelt manchmal in einem Getto, in einem selbst gewählten Gefängnis.

Anmerkung: Der hier vorgelegte Text entwickelte sich in Zusammenarbeit mit den Studierenden aus einem Seminar zum Thema „Kitsch“, das unter der Leitung des Autors an der Fakultät Gestaltung stattfand. Ergänzend sei hier auf Autoren zum Thema Kitsch hingewiesen, die die Diskussion bereicherten: u.a. H. Broch, K-H. Deschner, H-D. Gelfert, L. Giesz, K-P. Liessmann und L. Kühne.
Der hier abgedruckte Text entstand im Juli/August 2006 und wurde 2009 überarbeitet.

Olaf Weber: Kitsch ist kitschy. In: Jahrbuch der Fakultät Gestaltung. Das Weimarer Modell. S. 66 – 82. Weimar, Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2009

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