Ich kann kein Bauhaus mehr sehen (Bauhaus hoch n, 2009)

Olaf Weber
Ich kann kein Bauhaus mehr sehen (Bauhaus hoch n)
Ein Performance-Vortrag mit Franciska Braun (Sopran)
Künstlerische Mitarbeit: Anke Stiller
Auf dem 24. Forum Typographie „Bauhaus hoch n“ am 17. 09. 2009 in Weimar


bauhaus hoch n 2009 from Olaf Weber on Vimeo.

Drei Akteure auf der Bühne. Sie repräsentieren die akuten Elemente der Kunst – von Text, Gesang und Spiel wird das Vokabular dieser Performance entwickelt.

Der Redner beginnt mit seinem Vortrag, indem er einen Bogen über die realen Objekte seines Diskurses spannt und in sein ästhetisches Credo einführt. Seine letzten Sätze „Immer öfters fehlt Schönes als Nahrung. Blindheit ist ein Organ des Mangels im Reizüberfluss“ werden von der Sängerin übernommen und synchron mit dem Redner gesungen – darauf folgt die gesangliche Interpretation des gesamten Textes. Die Rede wird durch die (komplett improvisierte) Art des Vortrages sehr verfremdet, was den Inhalt sowohl zurück nimmt, als auch fokussiert und überhöht. Angestrebt wird eine Pendelbewegung zwischen Logischem und Alogischem, zwischen stringenter Wahrnehmung und freiem Assoziieren. Der Text selbst folgt dem Prinzip der Montage, er enthält argumentative, absurde und poetische Elemente, die Teilweise als kunstliedhafter bzw. opernhafter Gesang, als Sprechgesang oder in freier Intonation (stimmliche Modulationen mit Dehnungen, Pausen, Iterationen oder völlig offenem Sprachspiel) vorgetragen werden, oft durch Mimik und Gestik verstärkt – dabei bleiben die poetischen Passagen allerdings eher prosaisch. Ein wechselnder Sprachfluss und eine kreative Rhythmik sorgen für permanente Verunsicherung einer scheinbaren plausiblen Gedanklichkeit.

In den Vortrag sind einige Kernsätze zum Verhältnis von Kunst und Werbung eingestreut, sie werden im Charakter liturgischer Gesänge vorgetragen und sind im vorliegenden Text grafisch hervorgehoben.

Um das geistige Oszillieren zwischen den performativen Elementen durch eine optische Kontrolle aufrecht zu erhalten, wird der Vortrag als Fließtext auf den Hintergrund der Bühne projiziert.

Auf der anderen Seite der Bühne produziert der Autor inzwischen im „Blindflug“ aus farbigen Bau(haus)steinen Figuren – quasi plastische Vokabeln, die seine Mitspielerin durch das Zufallsprinzip dreier Würfel vorgibt. Die Geräusche der fallenden Würfel und das leise Sprechen der Bauanleitung versachlichen die ungewöhnliche Situation. Die (fast) mechanische Herstellung der aleatorischen Figuren antwortet dabei auf die Subjektivität der gesanglichen Performance.

Zu Beginn ist auf der Leinwand eine inszenierte Fotografie mit dem Titel „Ich kann kein Bauhaus mehr sehen“ zu erkennen – ein künstlerisches Projekt von Olaf Weber, Naomi Teresa Salmon und Lucian Pattermann anlässlich der offiziellen Eröffnung des Bauhausjahres 2009.

Verehrte Honoratioren, meine Damen und Herren, liebe Freunde,
ich freue mich natürlich sehr, auf diesem 14. Typographie-Forum vor ihnen sprechen zu dürfen und bedanke mich bei Jay Rutherford für die freundliche Einladung. Ich werde, obwohl ich wenig über das Bauhaus sagen will, mich ganz in seinen Dienst stellen und tue das, indem ich sogleich von der Typographie auf einige zentrale, lebenswichtige, vielleicht sogar lebensbedrohliche Probleme einer zeitgemäßen Gestaltungstheorie hinleite und später die Forderung nach einer neuen Ästhetik stellen werde – nach einer nachutopischen, nachfossilen, non-profit und non-Boni-Ästhetik. (In der Art eines Wahlkämpfers:) Ja, und das GIBT es nämlich, und das WIRD es nämlich geben , meine Damen und Herren!

Ich bin blind, leider. Ich bin blind geworden durch eine Zivilisationskrankheit namens Retinitis Pigmentosa Venustas, sie ist dadurch bestimmt, dass die Retina (Netzhaut) durch Pigmente zugedeckt und vermüllt wird. Grund dafür ist wahrscheinlich ein struktureller Mangel an Schönheit. Der Mangel an Schönheit, an Venustas, vergilbt im Laufe der Zeit das Sehpurpur und führt auf diese Weise zu einer Unempfindlichkeit der Rezeptoren, zum Vertrocknen der Synapsen und zur Stromlosigkeit des Auges.

Immer öfters fehlt Schönes als Nahrung. Blindheit ist ein Organ des Mangels im Reizüberfluß.

Das menschliche Auge ist vom Standpunkt der Ästhetik immer schön. So nehmen wir die Versalien niemals bloß als etwas Neuronales wahr, vielleicht als bioelektrische, wahrscheinlich aber immer schon als poetische Spannung. In der mikroskopischen Struktur der 6 Millionen Stäbchen und Zäpfchen liegt das Potential zur atomistischen Betrachtung der Welt, aber auch zu ihrer Erkenntnis und Begeisterung. Die Wahrheit ist so grell, man kann sie nur riechen und singen. In solche Ganzheiten wie den Kategorien und Emotionen gehen auch holistische und detailbesessene Bilder des Schönen ein. Am Ende des Vortrages wird eine gesellschaftliche Schaltung vorgestellt, welche diese Makros wieder in handhabbare Details verwandelt.

Uraltes Bauhaus

Im alten Bauhaus, vor 90 Jahren, erhielt die Ästhetik eine kulturrevolutionäre Stimulanz, die Form hatte eine erregende Funktion, der neue Stil, der rechte Winkel, war die Speerspitze einer Lebensreform und Ausgangspunkt unzähliger und weitreichender Ausschreitungen. Heute, im Zeitalter der großen Gefäße und des Stilpluralismus, wirken andere Formalia und die Ästhetik sitzt im Bremserhäuschen, wo sie aufpasst, dass farbliche Signale nichts bewirken. Und die Globalisierung der Krankheit schreitet und schreitet. Die niemals saturierte Gesellschaft hat kein oder zu viele Organe für ästhetische Zeichen. Es ist egal, in welcher Schriftart das Belanglose und Kraftlose gesagt, in welcher Mundart das Weitschweifige geschrieben wird. Die Ästhetik, die Typographie sind am Ende.
Vergesst dieses uralte Bauhaus!

Volkskonservatismus und Bauhaus

Eine Avantgarde ist wohl kaum in der Lage, in der Breite der Bevölkerung positive ästhetische Wirkungen auszulösen – das Beharrungsvermögen tradierter Geschmackskonserven lässt das nicht zu – trotzdem ist der Verzicht auf Avantgarde auch für jede Breitenkultur tödlich. Die Avantgarde schafft Verwirrung, die Antiavantgarde aber bedeutet das Ende der Kunst und Kultur. Deshalb sind antiavantgardistische Kampagnen vor allem als populistische und demagogische Versuche zu verstehen, die sogenannte Volksseele im Sinne politischer Instrumentalisierung zu missbrauchen. Das Bauhaus hat das in Form vieler Angriffe deutschnationaler, nationalsozialistischer, deutschvölkischer, völkischer und volkskonservativer Kräfte zu spüren bekommen. Das Niveau Kaiser Wilhelms II., der gegen die »Rinnsteinkunst« der Sezessionisten wetterte, wurde nur noch von dem antiavantgardistischen Kulturkampf der Nazis gegen den „Kulturbolschewismus“ des Bauhauses übertroffen.

(gesunde, nordische Kunst, entartete Mulattenkunst, Klosettkunst, Kloakenkunst, expressionistische Hirnschwäche, Hottentottenkultur …, 68er, pathologische Kleckser, Pinscher, Ferkelkunst, ..)

Heute, im 90 ten Jahre der Gründung des Bauhauses, finden in Weimar wiederum Attacken auf Erscheinungen des Avantgardismus statt, – Im Wahlprogramm der NPD zur diesjährigen Kommunalwahl in Weimar wird etwa „mehr Bodenständigkeit“ und eine Kunst in den „Grenzen von sittlichem Empfinden, Ästhetik und guten Geschmack“ gefordert – was auch immer das heißen sollte. Noch schlimmer ist, dass sich eine Volkspartei im Weimarer Stadtrat nach Verlautbahrungen ihres Vorsitzenden an einem neuen „Volkskonservatismus“ orientieren will. Dieser Volkskonservatismus hatte in der Weimarer Republik eine Kumpanei mit den Nazis und ist heute eine extrem populistische und antiavantgardistische Ideologie. In Weimar stellt sich der Antiavantgardismus zum Beispiel in Form von Generalangriffen auf das „Deutsche Nationaltheater Weimar“ dar, das mit dem Mut von Intendanz und Regisseuren ein teilweise unkonventionelles Programm bietet. Die summarische und meist ungerechtfertigte Kritik an Theaterexperimenten beschwört nicht nur den Geist der Bauhausgegner von damals, sie ist in ihrer engen konservativen Attitüde auch ein Angriff auf die Freiheit der Kunst und die Unabhängigkeit des Theaters.

– Werbung ist ein Teil des Marktes, Kunst hängt an seinem Tropf.

Während die konservativen Gegner vor 90 Jahren mit ständigen Angriffen, besonders dreist in der sogenannten „Gelben Broschüre“, das Bauhaus verleumdet hatten und es wirtschaftlich zu zerstören suchten, sind die Konservativen heute davon begeistert, dem nunmehr etablierten und harmlos vermarkteten Bauhaus ein Museum als Denkmal zu setzen, damit es die Wirtschaft ankurbelt. Die Geschichte wiederholt sich eben auch in den Formen der Komik.

Eros am Haus

Auf ihrem Sofa
noch im ärmellosen Kleid der Avantgarde
zur Hälfte asketisch, zum Teil
nur Bauch: die Alma. „Das Bauhaus“
wäre auch nur Stil, aber
plötzlich im Plural, wie Männer so sind, wie
der „Werfel den Gropius
auf einen Würfel biegt“, der
Kokoschka das Fräulein Moos
als Mahler liebt
dass endlich die Moderne siegt
und auch Kandinsky,
seine Knie.

Funktionalismus als Notnagel

Das Bauhaus folgt nicht der Funktion, die Funktion nicht der Form und wir nicht dem Slogan Sullivans. Der Schnabel des Spechtes, der Hals des Schwanes, der Schwanz der Kröte, sie alle folgen der genetischen Eingebung und einem aleatorischen Prinzip, sie sind Originale. In der Natur folgt ihre Form in der gleichen Weise einer Funktion wie die Funktion einer Form folgt. Form und Funktion sind dort identisch.

Ein quer und um die Ecke liegendes Fenster ist dagegen eine generöse Erfindung, es folgt der Gebäudeecke und dem Zeitgeist. Bei einer Holzschraube folgt die Form tatsächlich und hauptsächlich der Funktion des Hineindrehens, wem denn sonst? Aber in allen anderen, den normalen und komplizierten Fällen der Gestaltung gibt es zwischen Form und Funktion eine mehr oder weniger lange Leine, an die alles Mögliche angehängt ist – Geschmack, Geschwindigkeit und Politik.

– Werbung ist Mittel kostspieligen Regierens, Kunst ist subventionierte Opposition.

Funktionalismus ist Nonsens. Jede Gestaltung ist fraglich, keine Form ist gut genug. Funktionalismus ist eine Chimäre, eine kartesianische Chimäre, eine asketische Chimäre, eine die Welt als Sauhaufen nicht anerkennende Chimäre. Na hoppla, der Funktionalismus ist also in seinem analytischen Bestandteil sinnvoll, in der Untersuchung der vom Nutzer kommenden Anforderungen an das Produkt, in der Negation bloßer Konventionen und in der Möglichkeit eines gestalteten Anthropozentrismus. Vom Maschinen-Denken und kaltem Rationalismus befreit, kann dieser Ismus dazu beitragen, eine herrschende irrationale Logik aufzuheben.

– Werbung ist unfrei, Kunst ist unfrei.

Funktionalismus als bloße Sachlichkeit ist Todsein. Das Weimarer Bauhaus war Anarchie und Avantgarde. Es war das Lebendigste, was Weimar je beherbergt hat. Das vom Bauhaus initiierte, konsequent am Menschen zu trainierende Gestaltungsprinzip wäre der akzeptable Ausgangspunkt dafür, das Bauhaus ins 21. Jahrhundert herüberzuleiten. Aber das kommt nicht voran, weil irgendetwas verhindert, dass sich die Produkte tatsächlich den Nutzern anschmiegen und nicht der Dividende.

Nonsens als Mitte der Gesellschaft

Der Nonsens ist die skurrile Steigerung des Absurden, eines der Grundzustände unserer Gesellschaft. Er ist die auf den Kopf, also auf die Füße gestellte Welt. Wir können die absurde Wirklichkeit, die sich in den gigantischen Blasen der Hedgefonds oder dem Bezahlfernsehen äußert, nur in der Bauchlage erfassen, am besten unter Krokodilstränen wegen der großen Fresse einiger Tiere.

– Werbung schafft die Bedürfnisse, die sie nicht befriedigt. Kunst befriedigt überhaupt nichts.

Nonsens ist sichtlich bemüht, aber nur soweit, als er vor der Grenze zum Nichts stehen bleibt. Die Kunst verhindert den Sprung in den Abgrund. Darüber hinaus lösen sich die weichen Arme und ein befreiender Hand und Fuß betritt das geisterreiche Ufer. Nonsens klingt sehr grotesk, verwendet die Codes einer anderen Logik, bricht mit einer und produziert sogar neue Frauen. Die Buchstaben lösen sich von den Sinngehalten und fügen sich zu brauchbareren Kontexten. Männliche alogische Rezepte für die Wahrheit werden von Kindern und Fasanen übernommen und in deren surrealen Bildern enthauptet. Die Pseudologik der Macht löst sich in Milchsuppe und Milchbeinen auf.

Die Typographie, sagt er, ist eine Praxis für schlanke Models. Die Buchstaben sind die dritte Haut des Menschen. Zum Beispiel ist das A ein Gewinde im Rückgrat, das X aber hat vier Umgangsformen für es es es sesesssssssssssss Nummer Nummer und Blöcke. Sie fressen die ideologischen Ladenhüter, schlafen aber mit Utopien. Buchstaben sind unisex, sie vermehren sich durch Druck oder durch Tastendruck. Nichts hat sich in diesem Jahrtausend so stark vermehrt wie Buchstaben. Die Zahl der im www gespeicherten Buchstaben übersteigt die Speicherkapazität einer einzigen Milchstraße, es gibt aber 42-mal Tausend Galaxien. Die Semantik siegt über die Logik. Eine Typologie wäre eine Wissenschaft von dem Individuellen als Masse und die Typographie verwirklicht das. Immer sind die Buchstaben die dritte Haut des Menschen.

– Die Wirkung von Werbung ist unbekannt, die Wirkung von Kunst ist unbekannt.
Kunst frei und Schönes

Die Geschichte der modernen Kunst ist eine Geschichte ihrer Flucht vor Werbung und Unterhaltung in die Nischen, die noch frei von Klischee und Rührung sind. Die modernen Künstler ergriff eine panische Angst vor der übermächtigen Verschönerungsindustrie, die nach und nach das ästhetische Arsenal der Kunst vereinnahmt hat, sie hat alles usurpiert: das Historische, das Florale, das Bildhafte, das Gegenständliche, das Expressive, das Opulente, das Narrative, das Schöne, das Farbige und alles Sinnliche. Durch Werbung und Unterhaltung ist dieses ästhetische Material in den Augen der Künstler verschmutzt und unbrauchbar geworden. Die Kunst und das „gute“ Design haben sich in asketische Gefilde zurückgezogen, in Rationalismus, Funktionalismus, Abstraktionismus, Minimalismus oder Konzeptualismus. Die moderne Kunst ist bei ihrer Flucht vor der Meinungs-, Werbe- und Unterhaltungsindustrie in eine merkwürdige Defensive geraten, der Ausweitung des Kunstbegriffes steht die ungeheure Reduktion ihrer tradierten Mittel gegenüber.

Während sich Kunst an ein sachkundiges und einfühlsames Publikum wendet, dieses noch kundiger macht und sensibilisiert, wenden sich bezahlte Profis, die nie gerührt sind, an rührselige Dilettanten, deren ästhetische Unmündigkeit durch Kitsch vertieft und verlängert wird.

– Kunst verweigert irgendwas, Werbung steigert immer dasselbe.

Wenn es Fragen geben sollte, dann diese: Wie kann sich die Kunst den Attraktionen von Unterhaltung und Werbung wieder annähern, ohne instrumentalisiert zu werden? Wie können umgekehrt Werbung und Unterhaltung einem ästhetischen Bildungshintergrund zugeordnet werden?

Braus des Herbstes banges Schweigen
und wartet auf sie Ostertag;
Wie eine Statue er da scheinet
Liegen goldenklar,
Zu genießen und zu freuen sich
Es lebt ein Ries‘ im Wald,
Liebeswarme, weiche Arme,
fragt die Sarazenin im Gedräng der großen Stadt,
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
Dann schlug er sinnlos hin.
der sehr süße Birnen trug,

Roslyn Meadows santana.jessie@yahoo-mailing.com

Kitsch ist die Dividende des Schönen

Während der Funktionalismus versachlicht, trägt der Kitsch zur ästhetischen Erderwärmung bei. Der Kitsch erwärmt die Herzen und lässt uns in seinem Schwulst und Schund ersaufen.

Der Kitsch ist süßer Kulturmüll und ihr Profit. Er ist nicht der
obligate Tropfen Sentimentalität in jeder Kunst, sondern eine
verschleiernde Machenschaft der Kulturindustrie, die uns die
Taschen voll lügt und dabei etwas heraus zieht.

Der Kitsch, der die Wirklichkeit verschleiert, versteckt sich heute selbst in Überzügen des Modernen, des Sachlichen, sogar des Natürlichen. Die Nippes, Schnulzen und Gartenzwerge sind Kleinigkeiten gegenüber dem heimlichen und darum unheimlichen Kitsch, der unser gesamtes Leben durchzieht. Die Massenmedien und die Unterhaltung sind Laboratorien des Kitsches, er ist eine Weltmacht.

Kitsch ist der Lockstoff zu einer Lebenshaltung hin, welche die Illusion einer widerspruchsfreien und geschlossenen Welt enthält, also einer unveränderlichen. Dieses Zerrbild der Wirklichkeit hat sich tief in die abgelegendsten Sphären unserer Existenz eingenistet. Kitsch-Elemente verbergen sich überall – in den Benefizkonzerten von Miss Tagesschau, in der Bauhaus-Tapete, im Hanuta-Werbeclip und in den Männerfreundschaften der großen Politik.

Der Kitschproduzent empfindet sich allerdings als wohltätiger Betrüger und hält denjenigen für armselig, der sich zu seiner Erheiterung nicht verblöden lassen will. Die Melange aus Naivität und Raffinesse führt dazu, dass auch die sachlichsten Lebensbereiche auratisch mit Gefühlen durchschwemmt werden. Alles wird durch Kitsch dämonisiert und erotisiert. Kitsch ist nur ein „Gefühlchen“ (Nietzsche), doch die Gefühlsnot des Publikums ist groß und echt. Dessen Gefühle werden aber nicht erwidert, sondern zur Esoterik und Mystik verdünnt.

Kitsch ermüdet ohne Erquickung, sättigt ohne Befriedigung, betäubt ohne Rausch, erschlafft ohne Erfolg, verdunkelt im Glitzern, verschleiert durch Auffälligkeit und er verklärt – wo er aber aufklärt, belebt und inspiriert, ist er kein Kitsch. „Kitsch“ ist dort kein Kitsch, wo es gelingt, das kitschverdächtige Reizmaterial aus der Scheinwelt in die freie Phantasie und von dort in das Verstehen der eigenen Wirklichkeit hinüberzuleiten.

Kitsch lebt von großen Tabus und dem kleinen Tabubruch. Der
Kitschmensch überschreitet keck eine kleine unverfängliche
Hemmschwelle, so hat er das Gefühl, mutig und frech zu sein, ein
hohler Revoluzzer im Dienste der etablierten Macht, deren
Herrschaft er eine ästhetische Legitimation hinzufügt.

Die Wirtschaft des Details

Es geht ums Ganze. Wir müssen beim Detail anfangen, beim Detail der Schrift, der Farbe, des Bankensystems, der Steuern, der Eigentumsverhältnisse. Es geht ums Ganze, um Kleinigkeiten, um Placebo-Effekte. In den letzten 200 Jahren haben wir entweder auf die Gesellschaft oder das Individuum gesetzt, also auf jeweils hochkomplexe Makros. Das war falsch. Wir müssen das Detail fassen, aber vom Detail das Bissige, das Relevante.

Der Bonus ist die Steigerung der Dividende. Die Dividendengesellschaft ist ein Zustand, der alles menschliche Tun zuoberst nach den Kriterien kurzfristiger finanzieller Verwertbarkeit misst. Der Wirt setzt sich zu später Stunde an den Tisch des homo oeconomicus. Das deutsche Finanzsystem bereichert die schon Bereicherten. Der Tempovirus überhitzt den globalen Verschleiß. Die Schönheit war immer käuflich. Die HYPO- REAL-ÄSTHETIK ist aber nur noch eine Ästhetik der Münzen und Scheine – und ihrer Rückseiten. Der Konsumismus und die Wegwerfgesellschaft gehören endlich in hohem Bogen… Die Konsumideologie, also das Gebot einer permanenten Steigerung des Verbrauches als Sog für die Produktion, ist zugleich die Bremse für die Erhöhung von Lebensqualität. Und wie wir wissen, ist der Kitsch in seinen perfiden Modernismen das ästhetische Programm in der Oberherrschaft des schnöden Mammons.

Dagegen würde die mikroskopische Wahrnehmung der sozialen und ökologischen Krise eine ganz neue Ästhetik erfordern, eine solche, die den Anstieg der Armut und des Meeresspiegels stoppt. Das alte Zeitalter von Kohle, Öl und Gas geht zu Ende. Die neue, postfossile Ästhetik ist diejenige Form- und Farbgestaltung, die das Desaster vorführt und den Begriff „Wachstum“ aus der ökonomischen Falle befreit und ihm einen völlig „neuen“ Sinn gibt. Die nachfossile Ästhetik, die zu etablieren schon heute erforderlich ist, kreiert solche Gestalteigenschaften, die das Wachstum am Produkt ökologisch und sozial definieren und dabei schön, ausdrucksvoll, einfach und – geil und cool sind.

– Werbung wird in Zeitschriften und Papierkörben, Kunst in Museen und Depots gesammelt. Oder umgekehrt.

Das relevante Detail der Typographie ist dasjenige, das die größte Wirkkraft auf die Korrektur von Welt, also auf Außerästhetisches besitzt. Typographie steht also außerhalb der Schrift. Nur im Rahmen einer solchen Ästhetik kann man noch einmal wiederholen, dass nämlich die Buchstaben die dritte Haut des Menschen sind, dass es also ohne Typographie nicht geht.

Olaf Weber
Ich kann kein Bauhaus mehr sehen
Ein Performance-Vortrag mit Franciska Braun (Gesang)
Künstlerische Mitarbeit: Anke Stiller
24. Forum Typographie 2009

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