Wahrnehmung und andere Gedächtnisinhalte (2008)

Olaf Weber im Interview mit Wolfram Höhne, April 2008
Wahrnehmung und andere Gedächtnisinhalte

Bevor wir uns an die Produktion dieses Filmes setzten, haben wir viele Bücher zum Thema „Wie mache ich einen Film“ gelesen. Einer der Autoren, Hans Richter, hat geschrieben, dass er Schaulust zu den primitivsten der allgemeinen Bedürfnisse der Menschen überhaupt zählt. Wenn man einen Film machen will, kommt man ohne sie aber nicht aus, bei Verzicht geht keiner ins Kino. Schaulust muss notgedrungen befriedigt werden. Es gibt aber auch die Aussage: Ich glaube nur, was ich sehe. Dieser Satz traut dem Visuellen wiederum sehr viel zu. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Es ist naturbedingt, dass wir 80 Prozent aller Informationen visuell aufnehmen. Also der überwiegende Anteil an Umweltkontakten funktioniert über das sehende Auge. In der heutigen Mediengesellschaft werden über den Naturzustand hinaus noch ganz andere Präferenzen gesetzt, das Auge äußerst strapaziert und in ganz außergewöhnlichem Maße bevorzugt, so dass die zitierte Aussage ganz der Mediengesellschaft geschuldet ist. Dass wir von dem Optischen so überwältigt werden liegt an dem Interesse der Medien und den zugrunde liegenden technischen Möglichkeiten. Die vielen Kameras in unserer Welt brauchen Bilder. Sie produzieren sie und mit ihnen zugleich das Bedürfnis und die Pflicht, sie anzusehen. Unser Wahrnehmungshunger wird also vor allem durch die dominant optisch agierenden Sensations- und Spaßmedien gestillt.

Da stellt sich die Frage, ob die Kameras unsere Welt tatsächlich erweitern? Mir ist der Satz – von wem auch immer – in Erinnerung geblieben, durch die Erfindung des Mikrofons sei das Sprechen nicht einfacher geworden.

Ja, das ist richtig, die Kamera leiht uns ja noch ein Auge zusätzlich oder mehrere Augen. Wir können durch die Kameras an vielen Orten zugleich sein, das heißt durch die Medien, die natürlich hinter den Kameras stecken. Das ist eine Vervielfachung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten und die Frage ist, ob wir uns durch diese Vielfalt besser in der Welt zurecht finden, oder ob diese nur dazu beiträgt, dass wir durch die Fülle der Bilder erdrückt werden und Wesentliches nicht mehr von Unwesentlichem, den banalen Schein nicht mehr von der Essenz, die uns wirklich angeht, unterscheiden können.

Du hast ja schon angedeutet, dass die moderne Welt wahrscheinlich seit der Erfindung der Fotografie eine gewaltige Bildproduktion ausgelöst hat. Es gibt in der Theorie den Begriff der Despotie des Auges. Warum vertrauen wir Bildern so leicht und nehmen andererseits Prognosen weniger ernst? Die Umweltkatastrophe wird uns seit mehreren Jahrzehnten prognostiziert, aber in die öffentliche Meinung kommt sie durch die Medien erst dann, wenn ein Ereignis stattfindet, wenn z.B. der Hurrican „Katrina“ Bilder erzeugt. Warum vertrauen wir den Bildern mehr als dem Wort, und ist das überhaupt so?

Wir vertrauen den Bildern auch aus historischen Gründen. Solche Gefahren, die sich in der Alltagspraxis ergeben, erkennt man mit dem Gesichtssinn am schnellsten. Das Vertrauen an das Auge ist sehr groß, wir tragen es in uns als genetische Information. Das ist gewissermaßen auch die elementarste Beziehung zur Welt – vom ersten Augenaufschlag am Morgen bis zum tagesmüden Schließen der Augen zur Nacht.
Das Auge, vielleicht ist das hier interessant, hat zum Gehirn eine extrem leistungsstarke Verbindung. Es ist das einzige Sinnesorgan, das entwicklungsgeschichtlich direkt aus dem Gehirn hervorgegangen ist. Es ist sozusagen eine Ausstülpung des Gehirns, während die anderen Sinnesorgane, die wir haben, alle Spezifikationen von Funktionen der Haut sind. Deshalb hat das Auge eine ganz enge Beziehung zum Gehirn und zu den spezifischen Leistungen des Denkens. Daraus könnte man schließen, dass das, was man sieht, auch Lust auf das Denken über das Gesehene macht. Aber, das ist halt nicht immer so.
Im zweiten Teil deiner Frage ging es um die Katastrophen, die nur durch eindringliche Bilder wahrgenommen werden. Das ist sicher richtig. Aber auf der Ebene von Vulkanausbrüchen und Überschwemmungen funktioniert die Katastrophenwahrnehmung noch wie beim Neandertaler, der plötzlich einem wilden Tier gegenüber steht, nur ist diese Gefahr für ihn selbst gegenwärtig, während der Tsunami dem Fernsehzuschauer fern und eigentlich nur theatralisch ist. Die Erderwärmung ist aber nicht so evident, sie ist kein spektakuläres Ereignis der Betroffenheit und des Mitleides, sondern eine schleichende Katastrophe, die sich als solche den Augen nicht erschließt, sondern begrifflich erklärt werden müsste, wie es einige Mahner seit Jahrzehnten versuchen. Diese Erwärmung ist also kein mit Bildern beklebtes Ereignis, sondern etwas nachhaltig Schlimmes und die eigentliche Katastrophe ist, dass das vorausschauende Denken ohne Bilder offenbar nicht funktioniert. Das ist ein Defekt unserer Kultur und ein strukturelles Defizit unserer Medien, nicht aber eine Folge unseres natürlich angelegten Visualprimates. In unserer Zivilisation ist offenbar die Denklust nicht ähnlich entwickelt wie die Schaulust.

Es scheint also eine Entwicklung vom einfachen Anglotzen über das Sehen bis zum Verständnis zu geben, bei der diese Kluft zwischen Kultur und Natur durch den Menschen läuft. Du hast das jetzt sogar biologisch beschrieben. Wir sitzen in dem Geschäft des Herrn Gneis in Weimar, in dem Design-Gegenstände verkauft werden. Von Lucius Burghardt kommt der Satz „Design ist unsichtbar.“ Hier kommt es mir aber gerade so vor, als ob alles hochgradig auf Sichtbarkeit angelegt ist. Werden wir gerade betrogen?

„Design ist unsichtbar“ ist eine schöne Metapher, die anregt, über das Wesen des Design und die Gestaltbarkeit der Welt überhaupt nachzudenken. Aber natürlich lebt Design davon, dass wir es anschauen und auch betasten. In dem Satz von der Unsichtbarkeit des Designs steckt meiner Ansicht nach etwas ganz anderes, als die Behauptung der Unsinnlichkeit der Dinge. Ich lege sehr viel Wert darauf, dass alles womit wir uns umgeben, also unsere Artefakte, auch als gegenständliches Pendant unserer Sinne organisiert wird. Diese Aufforderung, darüber nachzudenken, ob Design nicht doch etwas Unsichtbares ist, zielt auf eine höhere Ebene des funktionalen Denkens. Das Beispiel ist ein Wartehäuschen an einer Bushaltestelle. Wenn ein Designer den Auftrag bekommt so ein Häuschen zu entwickeln, kann er über die Form nachdenken – mach ich das rund, gerade, eckig, schräg, welche Farbe hat das… Das sind noch relativ äußere und formale Fragestellungen, er kann auch über das Material nachforschen, welches ist das Geeignete oder ökologisch verträglichste, gibt es Technologien, die fortschrittlicher sind, billiger, besser… Das ist schon in die Tiefe gegangen. Wenn er noch gründlicher nachdenkt, fragt er: Was sind das für Busse, die hier vorbeifahren, wie steigt man ein und aus? Wenn er noch weiter geht, fragt er nach dem Taktplan und der Wartezeit. Danach fragt er sich, ist die Busverbindung überhaupt das Richtige hier, welche Rolle spielt der öffentliche Nahverkehr überhaupt in der Stadt, müsste man Bus durch S- oder U-Bahn ersetzen? Wie kann man überhaupt Mobilität derart reduzieren, dass man das Bushäuschen nicht mehr oder in einer ganz anderen Form braucht. Wenn man den Satz „Design ist unsichtbar“ beherzigt, kommt man von einer beschränkten Aufgabe, zu ganzheitlichen Überlegungen, zu systemischen Lösungen, die komplexe gestalterische, urbanistische, soziale und ökologische Fragestellungen enthält. Aus der beschränkten ästhetischen Aufgabe ist eine den Rahmen sprengende geworden, die bis zur Frage nach der Planbarkeit unserer Umwelt und Gesellschaft reicht. Da wird Design unsichtbar, aber nicht in dem Sinne, dass man mehr aus Glas baut, was eine ziemlich simple Antwort wäre, sondern, dass man tiefgründige Fragen stellt und darauf Antworten findet.

Wenn ich das richtig verstanden habe, war das ein Plädoyer für eine Konkretion im Denken. Hegel unterscheidet abstraktes vom konkreten Denken. Das Zusammenführen der einzelnen Gesichtspunkte läuft im Grunde immer auf die eigene Lebenswirklichkeit hinaus. Hieße konkretes Denken den gesellschaftlichen Zusammenhang aus einer Einzelfrage herzustellen?

Es ist sicher sinnvoll, vom Konkreten so weit es geht in allgemeine Zusammenhänge vorzudringen, umfassendere Fragestellungen zu entwickeln, als sie vielleicht vom Auftraggeber gewollt waren, aber dann sollte ein Designer wieder zurückkommen zu seinem konkreten Arbeitsgegenstand, zur konkreten Aufgabe einen Bogen schlagen um am Schluss dieses Wartehäuschen vielleicht auf eine andere Weise zu konzipieren, auch wenn auf diesem Umweg nicht viel Veränderungspotential lag, das er streifen konnte und er auf die kleine Aufgabe vom Buswartehäuschen zurückgeworfen wurde. Aber vielleicht gibt es für ihn trotzdem eine andere Sicht und er wird zu einer anderen Form und Gestalt finden. Das ist der Weg vom Konkreten zum Abstrakten und wieder zum Konkreten hin. Ich glaube, diese Schleife ist der Kern dieses Problems.

Ich fand die Vorstellung „Design ist unsichtbar“ deshalb so sympathisch, weil ich einen Gegenstand in meinem Besitz weiß, der mich ständig an seine Existenz erinnert. Und zwar ein Sofa, das zwar zu den schönsten im Ikea-Katalog zählte, aber letztlich immer wieder durch Unbequemlichkeit, mangelnde Verarbeitung usw. auf sich aufmerksam macht. Aufmerksamkeit ist der nächste Punkt. Wir hatten festgestellt: Sehen als Vorgang ist wahrscheinlich naturbedingt. Doch aus dem Sehen wird ein zielgerichtetes Sehen und es entsteht Aufmerksamkeit. Wo kommt diese Aufmerksamkeit her, geht die von den Objekten aus, von der Attraktion der Objekte oder ist sie im Bewusstsein selbst angelegt?

Aufmerksam werden wir durch einen äußeren Reiz, der auf ein subjektives Interesse stößt. Dabei wird das reizauslösende Objekt dadurch attraktiv, dass es mit verschiedenen Ebenen des reizverarbeitenden Systems kongruent ist, also der Leistungsfähigkeit des Auges, des Sehzentrums, auch den Erwartungen und Einstellungen der wahrnehmenden Person. Attraktiv wird ein Wahrnehmbares, das auf unser Interesse stößt. Es muss dabei nicht unbedingt optisch sehr auffällig sein, etwa durch eine grelle Farbe oder eine obstruse Form, auch etwas sehr Dezentes kann durch einen kontrastierenden Hintergrund auffallen oder durch eine semantische Stärke, das heißt, durch dominante Assoziationsketten, die starke Bedeutungsfelder evozieren. Immer ist es etwas Individuelles, das ein individuelles Interesse hervorruft. Der Begriff des Interesses ist ganz wichtig, wenn man an Aufmerksamkeit denkt: was ist die innere Situation des Subjektes, was sind die Inhalte seines Denkens, die Daseinsform überhaupt und welches Interesse hat das Subjekt in der konkreten Wahrnehmungssituation gegenüber dem Objekt.

Laufen wir Gefahr, dass die Aufmerksamkeit, die vom Objekt ausgeht, unsere subjektive Sicht und Interessen zu unterlaufen droht?

Durchaus. Das hängt von den Interessen derer ab, die diese objektive Wirklichkeit, die uns umgebende künstliche Welt, gestalten, entwerfen, entwickeln, bezahlen usw., deren ästhetisches und wirtschaftliches Interesse bestimmt das Ergebnis. Unser eigenes Interesse bestimmt dann unseren Umgang mit diesen Dingen und da sind wir in gewissem Sinne auch frei, wir können das Vorgefundene brechen und können selbst wahrnehmend gestalten.

Gibt es nach deiner Meinung den Versuch, Aufmerksamkeit zu instrumentalisieren?

Ja, massiv. Die Werbung versucht ja nur Aufmerksamkeit zu erzeugen, um uns einen Gebrauchswert zu suggerieren, den das Ding dann nicht hält. In Werbung steckt also immer schon eine Art von Unehrlichkeit, um nicht Lüge zu sagen – das steckt immer in diesen großen Versprechungen. An der Werbung ist nicht nur die Produktwerbung problematisch, die den Kreislauf von Produktion und Konsumtion antreibt und damit den Verbrauch von endlichen Ressourcen anheizt und die Menschen einem Konsumzwang aussetzt. Das weitaus unmoralische an der Werbung sind die versteckten Botschaften, die ganze Wertehierarchien und Lebensstile als das non plus ultra suggerieren. Das sind die effektivsten, die problematischsten, die gefährlichsten Manipulationen, die ganz unterschwellig in das Unterbewusstsein hineinragen. Viele unkritische Mediennutzer übernehmen den vorgesetzten lifestyle ganz selbstverständlich. Nicht nur Werbung, auch Spielfilme und andere Medienartikel transportieren lifestyle-Modelle Und das ist das Fatale, dass gerade dort Suggestion ist, wo wir sie nicht vermuten und wo wir einen gründlichen gesellschaftlichen Diskurs bräuchten.

Eine von der Industrie betriebene Ästhetisierung des Lebens könnte man sagen?

Ja, von der Industrie und besonders problematisch, wenn es durch die Meinungsindustrie geschieht, durch das Kartell der Medien, die im öffentlich-rechtlichen Bereich noch relativ offen sind. Die privaten Medien haben neben dem Interesse, das sie vorgeben, nämlich Information und Unterhaltung zu liefern, ein starkes Eigeninteresse. Sie sind ökonomische Gebilde, wollen Geld verdienen, Profit machen und stehen in politischen Auseinandersetzungen tendenziell auf einer bestimmten Seite. Das muss man sagen, auch wenn es im Detail unterschiedliche Färbungen der verschiedenen Medien gibt. Über allem steht aber das strukturelle Interesse der Medien als Kapitaleigner.

Da würde ich gern noch einmal nach dem Bewusstsein fragen, was das denn sein könnte und dir gleich zwei Vorstellungen davon geben. Die erste besagt, das Bewusstsein meine eigene Sicht auf die fertige Welt ist, von der ich ja immer nur einen Teil zu sehen bekomme, die sich ständig ändert und von mir kaum erfasst werden kann. Oder, zweitens, ist Bewusstsein das, was mir die Zensurbehörde meines Gehirns zu verinnerlichen erlaubt. Also wie stark speist sich das Bewusstsein aus der Außenwelt, wie stark aus der Innenwelt?

Wenn wir noch mal Ja sagen zu dem Satz „Bewusstsein ist bewusstes Sein“. so drücken wir damit aus, das es darum geht, die äußere Realität möglichst adäquat geistig zu reproduzieren, das heißt ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen, dass uns dazu verhilft, uns möglichst gut in ihr zu orientieren und uns effektiv zu verhalten. Aber was ist Wirklichkeit? Was wir anfassen können, existiert, jede andere Aussage darüber ist nicht nur ein Abbild, sondern auch Konstruktion von Realem.
Es gibt verschiedene Zensurbehörden, von der einen sprach ich gerade, von der äußeren in der Medienwelt. Die andere ist in unserem Kopf. Goethe stellte schon fest, dass man nur sieht, was man weiß. Man will nur akzeptieren, was man kennt, man konzentriert und orientiert sich aus einer neuronalen Schwäche heraus auf das schon Bekannte. Natürlich sehen wir auch Überraschendes und Neues, aber der Satz zeigt, dass das, was schon im Kopf ist, dasjenige prägt, was noch hinein kommt – dass alles schon inszeniert ist. Bewusstsein schafft also auch neues Bewusstsein. Da besteht die Gefahr eines Zirkels: nicht mehr aus einer Denkart herauskommen, nicht mehr offen für neues sein sondern ideologisch oder grüblerisch reagieren.
Wir müssen uns die Wahrheit erarbeiten. Das ist schwer und liegt daran, wie Nietzsche“ schrieb, dass wir kein Organ für die Wahrheit haben. Wir haben ein Organ für Melodien und Sprache – das Ohr, wir haben ein Organ für Bilder- das Auge, aber für die Wahrheit haben wir nichts, nur die Anstrengungen unserer Sinnen- und Kopfarbeit und letztlich die kontrollierende Reibung an der Praxis.

Also das Gehirn allein reicht nicht.

Nein das Gehirn allein reicht nicht, wir würden grübeln, also uns denkerisch im Kreis herum drehen. Wir brauchen die inputs von außen brauchen alle Arten von inputs, die wir nur irgendwie bekommen können – obwohl uns das Sehen bereits eine unendliche Vielfalt und Überfluss an Informationen beschert. Insofern ist Sehen oder Wahrnehmen überhaupt ein riesiger Reduktionsprozess. Millionen von Pixeln, bits und bites müssen wir in einem gigantischem Vereinfachungsprozess auf weniges zusammenschrumpfen und das, was an Bildern und Sinngehalten übrig bleibt, müssen wir mit der Praxis konfrontieren, damit es unsere Erfahrungen bereichern kann.

Jetzt möchte ich doch auf etwas Kritisches zurückkommen. Was ist das Gift am Sehen? Du hast dich lange Zeit mit Semiotik beschäftigt. Macht der Semiotiker aus dem Visuellen wieder eine Sprache, indem er bildhafte Wirklichkeit in einzelne Zeichen aufzulösen versucht? Misstraut der Semiotiker dem Visuellen?

Den Begriff der Sprache verwenden wir im eigentlichen Sinne nur für unsere Verbalsprache. Wir können von Bildsprache sprechen, von der Sprache der Musik, der Architektur usw. das sind aber alles nur Metaphern. Sprache liegt nur dort vor, wo relativ wenige Elemente wie Wörter, auch Laute oder Buchstaben) in einer bestimmten Konstanz miteinander sinnvoll kombiniert werden. Mit dieser Begrenzung kann man eine Unendlichkeit von Gedanken ausdrücken, Dabei sind immer auch Konventionen dabei, also codes – ohne die ist kein Verständnis möglich.

Könnte man sagen, das Bild hat viele Elemente, aber wenig Aussagemöglichkeit?

Natürlich sind Aussagen, die wir mit Worten bilden nicht eindeutig, wir wissen ja, dass es neben den eigentlichen Kernbedeutungen auch sehr viele Nebenbedeutungen, Konnotationen gibt, die mitschwingen, wenn wir bestimmte Begriffe nennen oder Sätze bilden. Das Bild hat aber einen direkten Bezug zur Außenwelt, der Begriff dagegen zum Denken. Bilder haben manchmal sehr starke Kernbedeutungen, manchmal sehr schwache, in letzten Fall überwiegen die labilen und weitschweifigen Konnotationen, die dann an die erste Stelle rücken.
Im Falle von Bildsymbolen wie etwa Verkehrszeichen, sind die Nebenbedeutungen extrem eingeschränkt: „Vorfahrt auf der Hauptstrasse beachten“ – da ist so ziemlich klar, wie ich mich verhalten soll und was das bedeutet. Wenn eine Sprache hinzu kommt, wenn z.B. auf dem Verkehrsschild „STOP“ steht, ist es noch eindeutiger. Da ist durch die Kombination von Bild und Sprache, die Doppelkodierung, eine größere Eindeutigkeit entstanden und man muss wirklich anhalten. Während bei „Vorfahrt auf der Hauptstrasse beachten“ man sich ja noch unterschiedlich verhalten kann. Man kann abbremsen, langsam fahren, man kann auch stehen bleiben – man hat einen größeren Freiraum. Bilder sind prinzipiell interpretationsbedürftig, während Sprache manchmal schon die unmittelbare Handlungsanweisung enthält. Dann ist die Sprache quasi bis zu Handlung durchgestellt: „Bleib stehen!“, „STOP“.

Erst durch die Konventionalisierung wird diese Bildvisualität wiederum zur Sprache und außer dem gesprochenen Wort, was wir klassischer Weise als Sprache verstehen, gibt es diese Bildsprachen.

Ja, nur: unsere Verbalsprache ist die universelle Sprache. Wir können uns mittels dieser Sprache über Bilder, Musik, Architektur, also alle anderen Sprachen unterhalten. Mittels der Musik geht das nicht. Ich glaube, es war Schönberg, der einmal gesagt haben soll, dass er mit musikalischen Mitteln nicht von seinem Loch im Strumpf erzählen kann. Jede Sprache verfügt über ein spezifisches Ausdruckvermögen, die Architektur kann zum Beispiel hervorragend über die sozialräumlichen Verhältnisse etwas aussagen, Mode informiert über den Kampf der Geschlechter usw. Im Reigen der Sprachen ist unsere Verbalsprache die klarste und neigt zu Definitionen und auch zu Gebrauchs- und Handlungsanweisungen.

Noch einmal zur Ambivalenz der nonverbalen Wirklichkeit. Unser Projekt geht ja an dem Ronneburger Uranbergbaugebiet los, wo heute die Bundesgartenschau grüne Wiesen zeigt. Jetzt gibt es verschiedene Gesichtspunkte, die man in Bezug auf die radioaktive Belastung der Region betrachten kann: Was die einen leicht erhöhten Grenzwert nennen, bezeichnen andere als 14 000 Tote des kalten Krieges, die im Laufe des Uranabbaues gestorben sind. Es scheint also, dass diese Situation oder der Fakt des Radioaktiven, eine vollkommen gegensätzliche oder widersprüchliche Interpretation zulässt. Kannst Du erklären, wie es zu solch extrem unterschiedlichen Interpretationen kommt?

Solche extrem unterschiedlichen Auslegungen entstehen nicht durch die Ambivalenz der Sprache, sondern durch die der Tatsachen. Wenn man die Radioaktivität nicht wahrhaben will, denkt man sie sich weg. Wir haben auch für diese Strahlung kein Organ, um sie direkt zu spüren, wir können nur ihre Folgen wahrnehmen, voraussehen, ahnen und somit auch davor warnen. Es ist nur die Frage, inwieweit wir dieses Problem in Gesamtzusammenhänge und in genügend umfassende Kausalfelder einordnen. Man muss dieses Thema vor dem historischem Hintergrund des sich anbahnenden kalten Krieges nach dem zweiten Weltkrieg betrachten. Der Wettlauf der Systeme um Energieressourcen, politische und militärische Vormachtstellungen usw. Man darf nicht vergessen, dass sich ein 50jähriger Systemwettbewerb anbahnte und die Amerikaner bereits zwei Atombomben abgeworfen hatten.

Mir persönlich kommt es so vor – ohne die Zeit aus eigener Anschauung zu kennen, als hätte es damals ein stärker ausgeprägtes technokratisches Bewusstsein gegeben und Fragen nach Nachhaltigkeit oder Folgen von Technik rückten erst viel später ins Bewusstsein.

Ja, es gab damals eine dominant technokratische Sicht, d.h. ein solches Bewusstsein, das die Ursachen und Wirkungen nur sehr eng sieht und die größeren kausalen Zusammenhänge nicht hinterfragt. Natürlich gab es auch damals schon unbestechliche Mahner, aber die öffentliche Meinungsmacht beiderseits der Demarkationslinie wollte die Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklung nicht wahrhaben. Das kam in Ansätzen erst viel später, als man sich langsam der Gefahren, die sich hinter der Atomwirtschaft verbergen, bewusst wurde. Diese Fragen sind ja heute auch keineswegs ausdiskutiert, wir haben immer noch das Problem, das die Endlagerung überhaupt nicht geklärt ist und die Risiken der Kernspaltung je nach Interessenlage unterschiedlich bewertet werden. Es gibt dabei unter Kennern keine Sprachprobleme, sondern eben Interessenkonflikte. Gegenüber der Öffentlichkeit werden diese Differenzen allerdings gern durch nebulöse und verharmlosende Umschreibungen vertuscht.

Ich wollte zu guter Letzt auf ein Thema kommen, womit du persönlich Erfahrungen gemacht hast, das Thema des blinden Sehers, das in der Philosophiegeschichte vorkommt. Immer wieder behaupten historische Schriften, dass einem erst einmal Hören und Sehen vergehen müsse, um die Hintergründe und das, was wichtig ist, zu erkennen. Man findet es bei Hegel aber auch die Bibel geht mit dem Satz los: Am Anfang war das Wort. Im Johannes-Evangelium gibt es Stellen, wo das Sehen als Anfälligkeit für das Falsche beschrieben wird, Verheißung würde ich das mal nennen. Du hast damit praktische Erfahrungen und mich würde es interessieren, ob es sich dabei um einen leichfertigen philosophischen Gedanken handelt, oder ob der Verlust des Sehsinnes tatsächlich Potentiale eröffnet.

Blindheit ist Verlust, die Mär vom blinden Seher, der durch seine Blindheit besondere spirituelle oder metaphysische Fähigkeiten besäße, ist erfunden. Der weit verbreitete Glaube daran kommt den ’Blinden’ aber als gewisse Bevorzugung gegenüber anderen Behinderten zugute.
Der Verlust des Sehsinnes bleibt aber Verlust, dass sich dadurch neue Potentiale eröffnen, das ist sicherlich wahr. Ein Verlust kann eben auch ein Gewinn sein. Die Sinnenfreude des Alltags kann vielleicht in Ausnahmefällen als Ablenkung empfunden werden, bei mir ist sie eine leider nur noch eingeschränkte Quelle der Erkenntnis. Natürlich kann der Verlust der Optik, also von 80 Prozent der Inputs, auch zu einer bestimmten Konzentration auf das Innere führen. Zum Erkennen der Wahrheit braucht man aber beides, die Außenwelt und das richtige Denken, also die Abbildung der realen Kausalitäten in unserer Logik. Bestimmte Partikel unserer Außenwelt kann ein Blinder zum Beispiel durch einen Blindenstock erkennen. Er ist eine Verlängerung des Sinnesorganes, nämlich des Armes, der Hand und der Finger, die nun bis zum Fußboden hinunter reichen. Wegen ihres handicaps müssen Blinde ihr Gedächtnis über das normale Maß hinaus trainieren, während Sehende nur eine zwanzigstel Sekunde, einen Augenaufschlag also brauchen, um sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Ein Blinder dagegen muss die Sachen konkret verortet wissen. Auch Geburtsblinde haben ein räumliches, strukturales Bild, ein inneres Gefüge der Wirklichkeit. Man kann vielleicht sagen, dass bei Blinden das allgemeine Gedächtnis durch die vielen erinnerten Räumlichkeiten belastet, das operative Bewusstsein aber durch geringere Wahrnehmungsimpulse entlastet wird.

Du hast beschrieben, dass du, um deinen Alltag zu meistern, die Erinnerung brauchst. Aus der Erinnerung erwächst das Wissen. Wenn man Blindheit als Metapher nimmt, könnte man dann damit erklären, dass man durch Erinnerung, Herstellung von Verbindungen und Systematisierung des Wahrgenommenen zu einer Weltanschauung kommt?

Ja, das Wahrgenommene muss in Bewusstsein- und Gedächtnisinhalte überführt werden. Was dort ankommt, darf nicht isoliert bleiben. Ein Wissen, was im Kopf nicht in das Bestehende einzuordnen ist, bleibt ohne Anwendung und ohne Potential. Was wir sehen, müssen wir also ständig in unser bestehendes Bewusstsein hineinfiltern. Die Rückwirkung auf das Sehen ist das, was man metaphorisch als blind meint, wenn man sagt, Verliebte seien blind – sie wollen ganz einfach Bestimmtes nicht sehen.
Die andere Sache ist die: unsichtbar werden Dinge dadurch, dass sie optisch nicht präsent, vielleicht versteckt sind, ein Tuch darüber gelegt oder zig Klafter tief in der Erde verbuddelt oder in den Weltraum geschossen wurden. Schlachthöfe und Müllhalden werden so vor den Augen des Stadtbewohners versteckt. Oder dass sie eben Formen haben, die nicht erkannt oder interpretierbar, dass die Bedeutungen nicht entschlüsselbar sind. Das kann bei künstlich geschaffenen Artefakten so sein, bei den Zeichen, die wir setzen. Immer sind die Zeichen aber nicht nur Vehikel der Kommunikation, sondern auch Projektionsflächen unseres Wissens, unserer Erfahrung und Emotionen. Das meiste, das wir erleben, holen wir aus unserem Kopf.

Auf der anderen Seite gibt es die Idee einer unmittelbaren Wirkung z.B. von etwas Ästhetischem. Als Professor für Ästhetik hast du viel mit dem Moment ästhetischer Wahrnehmung zu tun. Gibt es überhaupt diese Unmittelbarkeit ohne Sprache als sezierendes Element, das diese Unmittelbarkeit auseinander nimmt und ins Verhältnis zu bringen sucht?

Wahrnehmung ist zunächst einmal immer unmittelbar, direkt, nimmt das auf, was zu sehen oder zu hören ist und interpretiert es im zweiten Akt. Aber der zweite Akt ist so weit in den ersten hineingewachsen, dass man im normalen Leben keine Unterscheidung zwischen Ding und Bedeutung des Dinges oder auch Zeichen und seinem Sinn macht. Es wird eins, es verschmilzt. Ästhetische Wahrnehmung wird aber erst dann so richtig interessant, wenn wir zwischen Form und Inhalt trennen und gleichzeitig eine besondere Sensibilität für die spezifischen Beziehungen zwischen beiden entwickeln. Die Wahrnehmung ist ein komplexer Erlebnisraum, in dem die Außen- und Innenwelt des Menschen auf die vielfältigste Weise zusammentreffen.

Es wird immer wieder behauptet, dass Kunst durch Unmittelbarkeit wirkt, demzufolge nicht der Vermittlung durch die Sprache bedarf. Ein Großteil deines Wissens über Gestaltung erfährst du aufgrund deiner Erkrankung jedoch nur über die Vermittlung durch andere. Hat das Dein Verhältnis zur Kunst verändert?

Ja natürlich, ich sehe keine Farben mehr, keine Details und das ist sicher ein großer Verlust. Mir kommt entgegen, dass es oft konzeptionell zugeht in der modernen Kunst und ich habe festgestellt, dass doch viel auf diese verbale Weise vermittelbar ist. Wenn in meinen Seminaren Studenten mit Bildern arbeiten, müssen sie die Bilder auch immer beschreiben und erklären. Es ist auch für alle Sehenden ein gutes Training, das Visuelle ins Sprachliche umzusetzen. Mit meiner Enkeltochter war ich kürzlich in einer Rebecca-Horn- Ausstellung in Berlin gewesen und sie beschrieb mir die ausgestellten Objekte sehr genau. Manchmal mit kleinen Interpretationen, die ihr möglich waren, sie war damals vierzehn Jahre alt. Diese Ausstellung ist mir immer noch so gegenwärtig, wie kaum eine andere, die ich noch vor einigen Jahren selbst gesehen hatte. Das beweist mir, dass Kunst, moderne Kunst, die vom Konzeptionellen ausgeht, relativ leicht aus ihrer Bildsprache in unsere natürliche Sprache zu übersetzen ist. Die radikalen Konzeptkünstler, die sagen, das die Werke nur noch erdacht und nicht mehr ausgeführt werden müssen, machen eigentlich Kunst für Blinde oder besser: Kunst für Blinde ist Konzeptkunst.

Nun gibt es ja auch das metaphorische Bild, das sprachliche Bild. Ist es möglich, dass wir ohne Bilder nicht auskommen?

Die Dominanz und der Charakter des Bildes haben sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Das feste, durch Architektur repräsentierte Bild des Mittelalters hat sich zum Virtuellen Bild im digitalen Zeitalter vervielfältigt und zugleich verflüchtigt. Dazwischen war es nur scheinbar durch Gutenbergs Erfindung geschwächt. Das Ende des Bildes ist überhaupt nicht abzusehen, auch nicht des über Sprache vermittelten Bildes. Die Literatur ist ja voll von bildlichen Darstellungen, die in den Buchstaben stecken. Hinter den Phänomenen der Farben und Formen verbirgt sich das eigentliche Bild mit seiner komplexen Codierung, seinem affektiven Ausdruck, seinen Assoziationen, Mythen, Symbolen und all dem, was dem Bild schon anhaftet. Dieses Bild kann auch sprachlich vermittelt werden. Die Verbalsprache ist ein sehr geeigneter Mittler von Bildern. Die Wort-Bild-Kombination, wie wir sie von der Werbung kennen, eröffnet viele ästhetische Möglichkeiten, aber auch Risiken weitreichender Manipulationen und psychagoner Entmündigung der Rezipienten. Aber das ist ein anderes Thema.

Wahrnehmung und andere Gedächtnisinhalte. Im Interview mit Wolfram Höhne
2008 (unveröffentlicht)

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