Digitale Baracken (2006)

Olaf Weber
Digitale Baracken – „Zone interdite“

Untersagte Zonen sind Denkverbote, wie weiße Areale im Gehirn, blinde Flecken auf der Netzhaut, Tinitus im Ohr. Es sind politisch geplante Störungen der öffentlichen Wahrnehmung.

Diese untersagten Zonen destruieren das öffentliche Bewusstsein, es sind mit physischer Gewalt ein- und ausgegrenzte Sperrgebiete, deren Betreten mit militärischer Macht untersagt wird und über deren Inhalt auch außerhalb keine Informationen gesammelt werden dürfen. Die Geheimhaltung macht die schwarzen Löcher zu Nicht-Orten und Dystopien. Es sind moralische Un-Orte, nämlich Menschenrechts freie Lokale. Sie sind illegal, doch irgendeine Macht erklärt sie für legal und ihr Betreten für verboten.

Die Schweizer Künstler Mathias Jud und Christoph Wachter haben in einem Netzkunstprojekt solche „Zone interdite“ auf unserem Globus als über 1200 giftgrüne Punkte markiert und dabei festgestellt, dass viele davon von den USA und einigen mit ihnen sicherheitspolitisch kooperierenden ehemaligen Ostblockländern bzw. deren Geheimdiensten verwaltet werden. Zwei „Zone interdite“, nämlich das Ausbildungslager der Alkaida im Sudan und das Gefangenenlager Guantanamo der US-Amerikaner auf Kuba haben sie unter eine elektronische Lupe genommen. Sie haben die öffentlich zugänglichen Informationen (Pressefotos, Aussagen ehemaliger Gefangener, Bewacher und offizieller Besucher) zu einer 3-D-Animation zusammen gefügt.

Phänomenologisch vorgehen heißt, sich an den Sachen selbst orientieren, also sich nur von Evidenzen leiten lassen, die aus dem unmittelbaren Bewußtseinserleben entstammen. Erkenntnistheoretisch ist bedeutsam, dass die Gegenstände bereits in der natürlichen Wahrnehmung abgeschottet sind, sie präsentieren sich uns nicht als ganze Einheit, sondern zeigen sich uns nur in Seitenansichten. Aber die Perspektive macht nicht wirklich die Unwahrnehmbarkeit der Sache aus. Ein viel größeres Problem ist die komplexe Medialität der Wahrnehmun im elektronischen Zeitalter geworden, d.h. die Fragwürdigkeit der der Authenzität, der Vermittlung, der Medienkompetenz usw. Die Wahrnehmung ist durch eine intentionale Selbstinszenierung der Systeme, durch Selektion und Färbung der medialen Inhalte extrem fremdbestimmt, wobei wirtschaftliche Interessen eine große Rolle spielen. Schließlich kommen – wie bei den untersagten Zonen – die unmittelbar machtpolitisch hintergründeten Verwerfungen der Wahrnehmung durch Zugangsbeschränkungen hinzu. Die Frage der Evidenz ist in digital organisierten harten Konkurrenzgesellschaften also ein gar nicht transparentes Thema.

Das Überraschende ist, dass es trotz der permanenten, teilweise automatisierten Bilderproduktion ein Mangel an Bildern gibt, aber es fehlen nicht visuelle Reize überhaupt, es fehlen relevante Abbilder der Wirklichkeit. Eine der Reaktionen auf die vielfältigen eidetischen Reduktionen der Welt kann die Rekonstruktion von Bildern aus ihren Resten sein. Die beiden Künstler verstehen ihre Arbeit als einen Nachweis darüber, dass es Bilder gibt und dass man sie finden kann. Das ist eine absurde, aber auch hoch dramatische Aussage inmitten der opulenten Bilderflut einer Welt, die sich offenbar versteckt. Kunsthistorisch ist bemerkenswert, dass sich die beiden Künstler selbst in die Tradition der europäischen Landschaftsmalerei einordnen, deren Sinn darin bestand, Orte ästhetisch neu zu entdecken. Welcher verharrmlosender Vergleich besteht aber doch zwischen den methaphorischen Entdeckunen eines Poussin oder Peuker (oder Pisarro) und den Entlarvungen der Lagerbilder von Guantanamo.

Der virtuelle Lagerrundgang zwischen den Baracken und Wachtürmen inmitten der von stacheligen Maschendraht segmentierten Areale von Guantanamo ergibt das Bild einer unbewohnten Geisterstadt, in der es kaum dingliche Artefakte gibt, keinen Schmutz keine Seife, keine Handtücher, kein Toilettenpapier, auch keine Pflanzen und keine Risse im beton. Kunst ist Verfeinerung des Sichtbaren. Das Grauen aber schaut nur aus der abstrakten Struktur, die Oberflächen dagegen sind glatt und farbig. Mit der Maus navigieren, weiterlaufen, klicken, wie in einem Coputerspiel. Nur dass kein Verbrecher hinter der nächsten Ecke hervorlugt und die Knarre zückt. Das ist die nüchterne Ästhetik des Spiels.

Was macht der Betrachter mit seiner Souveränität? In welche Richtung richtet er sein stets gerichtetes Bewusstsein? Ist die Darstellung das, was die Dinge sind, ohne Schrägsicht, ohne Bevormundung, nur so?

Die Medien verleugnen die politische Brille, die ihnen das kapitalistische System oder einzelne Interessengruppen und Ideologien aufgesetzt hat, dagegen will die zeitgenössische Kunst die Intentionalität des Bewußtseins in ihren Werken tilgen und verspricht die freie Wahnehmung. Als ob das Sichtbare die Erscheinung des Gegebenen wäre und nicht das weiter zu hinterfragende Alltägliche. Als ob wir die Sinnhaftigkeit den Dingen und Erscheinungen nicht mühsam beilegen müssten.

Wie kann man sich ursprünglich in der Welt erfahren? Wie kann man nur sehen, was passiert, wie ohne Enthaltung innehalten? Wie kann man die natürliche Erscheinung von der zeitbedingten Reflexion oder gar der Interessen gestützten Manipulation unterscheiden? Wie kann eine persuasive Botschaft die Autonomie der Erfahrung des anderen respektieren.

Mathias Jud und Christoph Wachter haben den Umgang mit verfügbarem Bildmaterial, welches das Militär, das politische System und die Medien atomistisch zerstückeln, so dass sich aus diesen Pixeln und Einzelperspektiven keine Weltbilder entwickeln lassen, bemerkenswert cool durchgespielt. Es ist wichtig, vernebeltes Terrain zurück zu erobern. Das ist die ganze Arbeit, die schwierige, Guantanamo schließen dagegen nur ein längst überfälliger politischer Mausklick.

Abbildungen
1. Guantanamo. Computeranimation von Mathias Jud und Christoph Wachter. Blick ins Lager .
2. Guantanamo. Computeranimation von Mathias Jud und Christoph Wachter. Inneres einer Baracke .
3. Havanna. Blick vom Castillo de los Tres Reyes del Morro (ehem. Spanische Kolonialfestung und Gefängnis unter Batista) in Richtung Guantanamo.
4. Havanna. Blick vom Hotel „Ambos Mundos“(zeitweiliger Wohnsitz von Ernest Hemingway) in Richtung Guantanamo.

Digitale Baracken – „Zone interdite“. Beitrag zur Festschrift zum 60 . Geburtstag von Gerd Zimmermann. Verlag der Bauhaus-Universität Weimar, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert