Nachtgedanken zur Kunst (2006)

Nachtgedanken zur Kunst
(Nach einer Diskussion, zu schnell geschrieben)

„Kunst kann man nur bestimmen, wenn man ins Staunen gerät.“ (M. Duchamp)

Nicht alles ist Kunst. Der Slogan „alle sind Künstler“ war eine hübsche Provokation des Künstlers Beuys zur Markierung einer neuen Gesellschaft. Der Kunstmarkt hat daraus die unverschämte Legitimation gezogen, alles das zur Kunst machen zu können, woraus ein Gewinn zu schöpfen ist. Der Kunstbegriff ist durch Vermarktung und Mystifikation im bürgerlichen Kunstbetrieb desavouiert worden, aber es gibt doch etwas Eigentümliches, für das wir einen Begriff wie etwa „Kunst“ brauchen.

Wer hat die Definitionshoheit über die Kunst? Bestimmt der Markt und die dort agierenden wirtschaftlichen Kräfte darüber, was Kunst ist, oder destilliert die Kunstwissenschaft den Wert von Kunst, möglicherweise sogar eine „exakte“ Ästhetik, die ein objektives ästhetisches Maß bestimmen will oder geht der Inhalt des Begriffes Kunst aus einem gesellschaftlichen Diskurs hervor, der vor allem diejenigen einschließt, die die Kunst produzieren und diejenigen, die sie in ihrer Lebenspraxis brauchen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Kunst ist also eine hoch politische Frage. Gehört die Definitionsmacht den Institutionen des Geldes, der Wissenschaft oder der Demokratie?

Zunächst ist eine Unterscheidung wichtig: Das Künstlerische ist etwas anderes als das Kunstwerk und als das Betriebssystem Kunst. Ersteres (das Künstlerische) ist das am schwersten zu bestimmende, ist es die Eingebung, der göttliche Funken, ein gewisses Vibrieren oder Zucken der Neuronen oder eine psychische Schicht? Das Kunstwerk ist aber das, was von dieser Disposition zur Kunst als materielles Substrat nach außen dringt und anderen für deren geistige Aneignung zur Verfügung steht. Das Betriebssystem Kunst verwandelt letztlich das Werk in ein Produkt und bietet es auf dem Markt an. Der Markt zerstört oder verfälscht den ästhetischen Wert, indem er ihn in den Tauschwert verwandelt. Der Tauschwert (Marktwert) ist das irrationalste Moment im gesamten Kunstprozess, er funktioniert nach Regeln, die von den Eigenschaften des Kunstwerkes völlig verschieden sind. Adorno hoffte noch, dass Kunst zum Statthalter der nicht vom Tausch verunstalteten Dinge geworden sei.

Anmerkung: „Kunstwerk“ klingt altmodisch, es ist das „Kunstobjekt“ oder das „Kunstereignis“, die „Arbeit“, wie Künstler sagen.

Anmerkend sei hier darauf hingewiesen, dass der einfache Austausch von Kunstwerken über Geldbeziehungen noch nicht Markt war. Der heutige Kunstmarkt ist hingegen eine Institution, die das Geld nicht als Mittel des Austausches, sondern im Selbstzweck benutzt und sich für die Eigenschaften des Kunstwerkes nur insofern interessiert, als sie zur Gewinnmaximierung geeignet sind.

In diesem Zusammenhang von Künstlerischem, Kunstwerk und Kunstsystem soll nachfolgend das Kunstwerk im Zentrum stehen, aber nicht in der Isolation von den anderen Elementen, am wenigsten in der Vernachlässigung des Kontextes, aus dem es entstanden ist und in den es hinein wirkt. Im Gegenteil, das Kunstwerk ist am besten in seinem eigenschaftlichen Verhalten gegenüber den Rezipienten, die aber nicht nur Augen und Ohren haben, sondern soziale Wesen sind, zu bestimmen. Dieses Verhalten des Kunstwerkes ist aber seine Funktion.

Kunstwerke kann man nicht an formalen Eigenschaften erkennen, nicht an Farben, Proportionen oder Formen. Man kann Kunst formalästhetisch beschreiben, aber nicht phänomenologisch definieren. Das andere, eine pragmatische Registrierung nach dem Muster, Kunst ist das, was in den Museen hängt oder sich auf dem Kunstmarkt durchgesetzt hat, ist keine Definition, sondern eine Denkfaulheit. Was sich dort durchsetzt, wird von pekuniären Interessen, mithin von Machtstrukturen des Kunstmarktes bestimmt. Kunst so zu definieren heißt, sie durch vormehmlich außerkünstlerische Gewalten festzulegen und sich diesen freiwillig zu unterwerfen.

Es ist zunächst notwendig, den Kontext zu bestimmen, in dem Kunst funktionieren solle. Das übergeordnete System kann wie gesagt der Kunstmarkt sein, dann würde Systemoptimierung darin bestehen, die Eigenschaften des Kunstwerkes nach dem zu erhoffenden Gewinn auszurichten. Man kann sie aber auch an der komplexen Lebenswirklichkeit der Menschen orientieren. Das würde der Kunst eine Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaft zugestehen. Gegenwärtig stellt sich angesichts der Dominanz des Marktes die Ausrichtung der Kunst auf das Leben als utopische Forderung dar, Das Betriebssystem Kunst müsste ein gesellschaftliches Korrektiv werden, statt glatt zu funktionieren.

Ein Frosch und eine Kurbelwelle können inerhalb ihrer angestammten Kontexte keine Kunswerke sein. Der Frosch, weil er ein Teil der Natur ist, und die Kurbelwelle, weil sie in ihrem Motorengehäuse nicht sichtbar ist. Damit sind zwei notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für Kunst genannt, ihre Künstlichkeit und ihre Wahrnehmbarkeit. Zwischen Frosch und Kurbelwelle gibt es ein unendliches Arsenal von ästhetischen Phänomenen. Es sind sichtbare Eingriffe in die Wirklichkeit, Artefakte, die man wegen der Dominanz des Ideellen in der Kunst auch als spezifische Informationsträger bezeichnen kann. Sie können Kunst sein oder nicht. Aber diese Unterscheidung zu machen ist bereits umstritten. Es ist nicht klar, ob durch den Versuch, das Spezifische der Kunst gegenüber anderen Artefakten zu bestimmen, ihre Entfaltung gehemmt wird, weil ihr Potential gerade in der Grenzerweiterung steckt. Solcherart Offenhalten soll aber keine Mystik befördern, die das Kunstwerk von seiner realen Funktion abhebt und durch Verklärung für den Kunstmarkt herrichtet.

Noch einmal: Es könnte nahe liegen, die Kunst auf der Ebene definieren zu wollen, die das Gemeinsame von einer antiken Plastik, einem Gemälde von Michelangelo und einer Aktion von Beuys beschreibt. Ein solches Unterfangen nüßte versuchen, die transhistorische Permanenz von großer Kunst zu analysieren. Doch das ist heute nicht besonders dienlich, weil die Variablen der zeitgenössischen Kunst ihre Konstanten bei weitem übertreffen.

Im folgenden soll nun die Funktionalität von Kunst weiter besprochen werden. Das Funktionieren eines Sozialsystems wie der Kunst darf man aber nicht mechanistisch missverstehen. etwa in der Art, wie ein Zahnrad funktioniert, als determiniertes Übersetzungsverhältnis. Im Versuch, die Funktionen der Kunst zu beschreiben wird die Jetztzeit betrachtet, und zwar kritisch, wozu kleine Rückblicke nötig sind, aber auch idealische Ausblicke auf morgen. Funktionen der Kunst sind auch nicht als die „Aufgaben“ an die Künstler zu versteheh, die eine Gesellschaft, schon gar nicht eine Diktatur dekretiert, sondern als Selbstverständnis der künstlerischen Eliten (das sind auch die intensiven Konsumenten) von ihrem Gegenstand. Insofern muss an dieser Stelle auch der „zwecklose Zweck“ und das „interesselose Wohlgefallen“ an der Kunst bzw. das Autonomiethema erwähnt werden, erfährt aber hier keine weitere Ausführung. Kunst ist eben ein großes „Umsonst“.

Dysfunktionalität

So viele Wirkebenen der Kunst zu beobachten sind, so viele Funktionen kann man deklinieren. Im Individuum zum Beispiel alle neurologischen, psychischen und Verhaltens-Ebenen, in der Gesellschaft alle kulturellen, sozialen und politischen Ebenen. Diese Aufzählung kann beliebig erweitert und ausdifferenziert werden. Im Allgemeinen werden in der Kunstwissenschaft an dieser Stelle solche Wirkkräfte genannt wie die abbildende, die gnoseologische, die kommunikative, die erzieherische, die wertbildende, die hedonistische, die soziale … Funktion. Eine solche Aufzählung und Gliederung soll hier nicht weiter verfolgt werden.

Solche Funktionen haben alle Artefakte und Kommunikationsmittel auch. Das Spezifische der Kunst ist es aber, dass diese Wirkweisen von ihr selbst auf eine eigenartige Weise gestört, gebrochen und verunsichert werden. Ein Kunstwerk will wahrgenommen werden, stört aber zugleich den Mechanismus der Wahrnehmung. Es will Werte vermitteln, verweigert aber sofort ihre Akzeptanz. Es transportiert Wirklichkeit, irritiert aber deren Wahrheitsanspruch. Es löst Gefühle aus, doch pendelt die Emotion permanent auf verschiedenen Ebenen des Bewusstseins. Diese Dysfunktionalität konterkariert sich letztlich selbst, so dass die Funktionalität der Kunst in einem Wirkungsraum vibriert, in dem verschiedene Ebenen von Zeichen und Fiktionen agieren. Während der Designer eine möglicherweise auch widerspruchsvolle Anforderungsstruktur auf ein Ergebnis hin optimiert, kreiert der Künstler einen sich selbst negierenden Anspruch an die Leistung seines Produktes.

Das Dys: Empfindsamkeit und Störung

Kunst ist ein Amalgam von Künstlerischem und Politischem. Ihr lebenspraktischer Wirkzusammenhang ist am Ende dieser Pole. Durch das Politische gewinnt Kunst ihre polarisierende und pulsierende Kraft zur Verzauberung oder Entzauberung der Welt. Während Dekoration, Werbung und Unterhaltung zwar ästhetische Innovationen produzieren kön nen, sind sie gesellschaftlich weitgehend neutralisiert und affirmativ. Kunst ist nicht unbedingt durch ihre politischen Inhalte aufwiegelnd, sondern allein schon durch ihre Sperrigkeit in einer stromlinienförmigen Welt der erzwungenen und oberflächlichen Versöhnung. Kunst verweigert vor allem die Teilhabe an dem pluralistischen Einheitsbrei der globalen Kulturindustrie. Sie sperrt sich gegen den Sog auf die Mitte, die wie ein schwarzes Loch alles zum Nichts macht. Gegen die verlogene Ideologie vom „Dienst am Menschen“ steht immer noch Adornos Aussage, dass Kunst human in dem Augenblick wird, da sie den Dienst kündigt. Die Inhumanität gegen den Menschen kann einen Trend zu ihm bedeuten. (Brecht: Der Mensch ist gar nicht gut, drum hau ihm auf den…).

Indem die Kunst Erfahrungen von Dysfunktionalität vermittelt, kann sich eine subjektive Kultur der von Medien beherrschten Alltagskommunikation entziehen. Sie kann scheinbare Sicherheiten verletzen und damit zur „Entgiftung der Wirklichkeit“ und zur künstlerischen Entfremdung der entfremdeten Welt (Macuse) beitragen.

Kunst ist vor allem methodisch ein Instrument der Destruktion und des Subversiven, sie ist Widerstand des Geistes gegen Herrschaft an sich. Diese Herrschaft wird durch den Fetisch des Scheins gewährt, der alle realen Widersprüche vernichtet und seine ganze Kraft darauf verwendet, Scheinwidersprüche zu implementieren und mit der großen Geste der Versöhnung die Idee der sozialen Gerechtigkeit ästhetisch zu tilgen. Von der Schlichtung der Widersprüche zu deren Artikulation. Von der (Schein)Lösung zur Evidenz des Problems, wie es heißt. Kunst kann dazu beitragen, den Blick vom Pseudo-Disparaten, Paradoxen und Heterogenen der Medieninszenierungen auf die reale Dysfunktionalität der Kunst und von dort auf die Antagonismen der Wirklichkeit zu lenken.

Das Dys: Freiheit und Individualität

In der Massengesellschaft sei die Kunst das letzte Refugium des Individuums, ein Ort der Freiheit, eine Oase der Selbstbestimmung. Ja, der Künstler kann morgens aufstehen, wann er will. Will er aber erfolgreich sein, muss er sich genau auf die Bedingungen des Kunstmarktes einlassen, er muss das genaueste Gespür dafür haben, was in der Welt der bürgerlichen Kunst in Mode ist und sich darüber hinaus beziehungsreich vermarkten. Der erfolgreichste Künstler ist deshalb der unfreieste.

Aber Kunst produzieren heißt auch, sich selbst produzieren, sich selbst finden und auch, sich entlasten. Solche befreite Arbeit kann subjektiv auch innerhalb des etablierten Kunstsystems erlebt werden, indem der Künstler Zeitgeist und Stil verinnerlicht. Aber die volle Kunst als „Diskurs mit meinem Herzen“ (F. Villon) ist das nicht.

Der Innovationszwang in der Moderne als Pendant zum Fortschrittsfetisch in der Industriegesellschaft verpflichtet den Künstler entweder zu einem individuellen, noch nicht da gewesenen Stil oder zu einer permanenten und evidenten Innovation seine Werke. In der Konzeptkunst herrscht nicht mehr der Stil, sondern die Erfindung. Jedes Konzept muss den Rang einer originären Erfindung haben, das Kunstwerk wird zum Patent, dessen unerlaubte Nachahmung die Strafe des Epigonentums nach sich zieht. So kann das zwanghafte Experimentieren neurotisch werden.

Das Anthropologische an der Kunst verpflichtet den Künstler zu unendlich vielen Rücksichtnahmen, von optischen Gesetzen über symbolische Konventionen bis zu den Werthierarchien und Memorien der Gesellschaft. Zugleich vermag er es aber auch, diese mit einer Radikalität in Frage zu stellen, die den Designern nicht zukommt. Der Künstler ist auf dem Pfad der Kunst ein Pionier und ein Avantgardist, doch sperrt er sich auch jeden Innovationszwang und verharrt vielleicht in mutigen Konventionen. Seine Progression ist kein allgemeiner Fortschritt.

Das Dys: Entgrenzung

Die Entgrenzung von Kunst landet im Orbit. Die Grenzerweiterung ist vor allem durch Pendelbewegungen der Stile, Moden und Konzepte vollzogen worden. Jeder Stil bekam seinen Mangel und wurde durch die Unzulänglichkeit des neuen Stiles ersetzt. Auch subjektiv mag das gelten. „Kunst drückt einen Mangel aus, an dem der Künstler leidet“, hatte Nietzsche gesagt. Malewitsch. Pollock. Duchamp. Klein. Mangione, Sol LeWit … sind Apologeten dieses permanenten gesellschaftlichen Mangels. Die Grenzerweiterung der Kunst ist auch eie Destruktion der ästhetischen Form und zugleich eine Flucht vor der ungeheuren Expansion der Werbung und Unterhaltung, die immer mehr das Sinnliche, das Erotische, Narrative, Bildhafte… usurpieren. Vor allem ist die Geschichte der Moderne eine einzige Flucht vor dem Kitsch, der als verlogene Ästhetik immer mehr das gesellschaftliche Leben durchdringt. Die Entgrenzung der Kunst ist insofern selbst pseudo und kitschig, weil sie ihren Mangelcharakter vertuscht. Sie ist auch eine Flucht in die Nischenkultur einer allgemeinen Abstraktion.

Das Dys: Der Denker

Kunst war früher dem Handwerk verwandt, heute der Philosophie. Sie kann nur aus einem Überschuss und Vorrat an Denk- und Gefühlskraft erwachsen. Das Wahrnehmen und das Denken sind in der Kunst direkt aufeinander bezogen. Die Sublimierung der Sinnlichkeit (vgl. Wärmeströme – Beuys) verhält sich zur Entsublimierung der Vernunft dysfunktional, das heißt, Kunst kann gegenüber der Gehirnwäsche (privater) Medien ein Korrektiv darstellen, indem sie den Menschen überempfindlich und damit fähig macht, den Medienreizen zu widerstehen, um gegen deren Sentimentalität die Widersprüche „tränenlos austragen“ zu können (Adorno). Kunst ist ein verstockter Verstand.

Das Dys: Wirklichkeit und Illusion

Kunst ist Lust an Lüge, an Undeutlichem und Symbolischem. Kunst macht unsichtbar, kann aber das Wesentliche sagen. Ob Lupe oder ein gebrochener Widerhall, jedenfalls ist Kunst ein Reflex auf Wirklichkeit. Was aber ist Wirklichkeit?

Bei Goethe war Kunst noch „erhöhte Natur“. Heute ist Natur auf die Molekularebene der Zellen reduziert oder in einigen Genen authentisch. Die Landschaften sind kultiviert oder zersiedelt, der menschliche Körper ist Objekt der Wunschmedizin geworden, er lebt längst in einer überwiegend künstlichen Welt der Artefakte und Fiktionen, zu der die Kunst selbst gehört. Die in ihr dargestellte Welt ist deshalb auch schon Kunst oder künstlich. Das neue Rohmaterial der Kunst wurden so das Pissoir und der Flaschentrockner. Duchamp war die erste klare und revolutionäre Antwort auf die Künstlichkeit der Welt. Die Pop-Art hat die Ästhetik der Werbung, der Plakate und Dosen zu ihren Sonnenblumen deklariert. Video- und Computerkunst sind weniger durch neue künstlerische Mittel, sondern durch ihre neuen Sujets, die künstlichen Welten, entstanden. Das Virtuelle ist so die Abbildung der artifiziellen Existenz, wie einst die gemalten und fotografierten Bilder die Abbilder der ersten Ebene der Wirklichkeit waren. Weil aber das Interessanteste an der Künstlichkeit die Kunst ist, ist sie zunehmend ein selbstreferentielles System geworden: Kunst ist Urteil über Kunst. Kunst kommt von Kunst.

Aber das Draußen? Wenn Kunst nicht einfach Kompensation von Welt sein soll, also die Illusion von besserer Wirklichkeit, so muss sie das Reale schutzlos hinterfragen. Schiller wollte noch durch Kunst die Wirklichkeit aus dem Menschen heraustreiben und ihn dadurch veredeln. Auch für Nietzsche war Kunst Schutz vor dem Wirklichen und sollte zu einer Mäßigung gegenüber diesem Wirklichen beitragen.

Die Kunst als Form und Reflexion gesellschaftlichen Lebens ist nicht folgenlos. Der Kunstbetrieb weist ihr einen Platz als legitimierte Spielwiese für Intellektuelle aus, doch organisiert sie als eine Macht ohne Gewalt zunehmend Eingriffe in gesellschaftliche Zusammenhänge. Beuys wollte, dass die Kunst der Ethik näher stünde als der Ästhetik und so in das Leben selbst eindringt. Kunst wird damit nicht dem Leben identisch, auch deshalb nicht, weil die Erfahrung der Moderne zeigt, das Kunst, so sehr sie ins Leben vorstieß, ebenso strikt von der Institution Kunst wieder eingefangen wurde. Die Dysfunktionalität der Kunst organisiert diese Ausbrüche und sorgt dafür, dass die letzte, noch verbliebene Bindung der Kunst an die Wirklichkeit nicht diejenige an den Markt bleibt.

Das Dys: Schönheit

Kunst als „gelungene Kunst“ ist Unsinn oder einfach marktförmig, weil dieses Dekret suggeriert, dass es einen großen Konsens gäbe über den Charakter von Kunst und nur die Vollkommenheit der Ausführung nicht sicher sei. Aber die Offenheit von Kunst ist nicht bloßer Stilpluralismus, sondern muss einen radikalen Diskurs über ihre Funktionen enthalten. Die gelingende Kunst affirmiert gesellschaftliche Herrschaft und verspricht nur Aussicht auf Versöhnung und Entspannung. So gesehen war der Aufstieg der Ästhetik unter der Flagge des Schönen eine Domestizierung der Kunst.

Nur Schönes erfüllt sich als Gelungenes. Aber das Schöne ist wie das Sinnliche und Bildhafte von der Unterhaltung und Werbung beschlagnahmt. Dort gilt auch nur die Schönheit der Pupille. Sie gibt es nur für 1/10 Sekunde. Das ist die Zeit, die das Wahrnehmungssystem braucht, um eine Erscheinung als gelungen, angenehm, sympathisch, schick… zu erkennen. Dabei wird das Wahrgenommene auf die gespeicherten Mustern gescant und bewertet.

Eine ganz andere Schönheit ist das, was Schiller meinte: „Nur durch das Morgenrot des Schönen drangst Du in der Erkenntnis Land“. Hier ist Schönheit etwas zur Aufklärung Dienliches, etwas, das in das „Reich der Freiheit“ führt. Es ist eine politische Schönheit. Dysfunktionalität
usw.

Nachtgedanken zur Kunst
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