Die Zeit oder Muße (2004)

Olaf Weber
Die Zeit oder Muße
Tagträume einer Lebens-Kunst

  1. Warum Zeit?
  2. Be-Schleunig
  3. Ent-Schleunigung schnell
  4. Design, vor allem Kunst
  5. Rhythmen
  6. Muße als Modell als stimmhaftes Ja.
  7. Die Muße hat keine Zeit

Warum Zeit?

Zeit ist nur Form, wie Raum.
Beide erstrecken sich über ein Selbstgedehntes, das ein Kontinuum wäre, würden es nicht Ereignisse wie Körper strukturieren. Erst durch Teilung wird Zeit zur Zeit.
Alles Geschehen ist ein zeitliches Nacheinander, Der Mensch misst die Zeit = Dauer. So wird Zeit zur Zahl.
Zeit und Leistung sind umgekehrt einander. So wird Zeit bezahlt. So heißt Zeit ist Geld.
Der Mensch weiß auch vom Tod, so wird Zeit bedeutsam.
Zeit folgt dem Sog der Zukunft. So entstehen Zeiten.
So weit, so gut?

Man kann Zeit gewinnen oder verlieren, man kann Zeit sparen. Doch was gewinnt oder spart man? – Nur eine Option, denn Zeit ist Potential, ist die versteckte Kraft, ein Beispiel des Möglichen, sie lebt im Virtuellen.

Zeit ist nichts, also der Raum zwischen zwei Ereignissen und Zeit ist alles, der Raum zwischen zwei Erinnerungen.

Alles Eigene hat seine Eigenzeit. (Die Mücke: Mücken gibt es im Wattenmeer der Nordsee, die nach dem Ei für das Schlüpfen, dem Dasein als Larve, der Mutation zum Insekten, der Kopulation, der Eiablage und dem eigenen Tod nur 3 Stunden zur Verfügung haben, die Sonne aber wird erst in 300 Mill. Jahren erkalten. Alles Dingliche, alle Handlungen und Ereignisse, haben eine ihnen innewohnende Tendenz zur Dauer und einen wiederkehrenden Puls. Zeitmaße und Rhythmen überformen alles – den Kosmos und die Kunst. Ein Artikel, den ich über „Zeit oder Muße“ verfasse, kann nicht eine oder Hundert Seiten lang sein, sondern nur zwanzig.

Der Mensch ist mit dem kompliziertesten Zeitsystem ausgestattet, in dem sich physikalische, chemische, biologische, psychische, kryptische … und … kulturelle Zeitmaße und Rhythmen durchdringen. Die Eigenzeit der Individuen wird von deren spezifischer (innerer) Uhr ausgesteuert. Zeitlogik und Zeitgefühl sind die humanen Begrifflichkeiten der alternden MenchenZeit, die sich subjektiv und relativistisch gibt. Von Einstein, der auch mal jung war, berichtet ein Vergleich, mit dem er Lieschen M. seine Relativitätstheorie erklärte: Mit einem hübschen Mädchen auf einer Parkbank sitzen – da sind zwei Stunden sehr kurzweilig, aber mit nacktem Hintern auf einem heißen Ofen sitzen, da sind zwei Minuten sehr lang. Die Subjektivität von Zeit führt zu Dissonanzen. Die Zeit verbindet die Akteure und entfremdet sie. So steht dem Inneren Maß und Rhythmus das äußere Zeitregime entgegen – der Eigenzeit die Terminzeit und der biologischen, mentalen und kulturellen Zeit die Maschinenzeit. Deren Uhren ticken mechanisch und elektronisch. Ganz genau.

Die Uhr ist die mathematische Antwort auf die Arbeitsteilung. Koordination verlangt nach verbindlicher und genauer Zeit. Vor dieser Zeit war Warten angesagt, im Altertum und dem Mittelalter mussten die Amplituden der Sonne (Auf- und Untergag, Zenit) für die Tageseinteilung ausreichen. Duelle fanden im Morgengrauen statt. Heute stehen die hastigen (Nicht)Ereignisse im Terminkalender und die Folgen zeigen sich im häufigen Blick auf die Uhr. Wer viele Uhren hat, so sagt man, dem fehlt die Zeit, der hungert nach Muße. Und Wecker reißen gar die Augen aus dem Kopf. So gefährlich kann Zeit sein.

Nach einem Geschwindigkeitsrekord für Autos (über 1000 km/h auf dem Salt-lake (USA) verunglückte der Fahrer, als er bei 60 km/h aus dem Wagen aussteigen wollte. Wir bewegen und verhalten uns in verschiedenen Zeitsphären, in denen unterschiedliche Geschwindigkeiten und Rhythmen herrschen. Die Multi-Temporalität ist die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Zeitvorstellungen zu wechseln, um auf neue Situationen mit dem angemessenen Tempo zu reagieren. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft führt aus Strukturen, die monochrom organisiert waren, zu polychromen Kulturen.

Be-Schleunigung

Nehmen wir Nürnberg-Fürth, die Ärzte haben gewarnt. „Dem Reisenden reißt es den Kopf ab“, sobald er ihn gedankenlos zum Fenster hinaushält. Das war 1832. Blümchen, heißt es pflücken während der Fahrt ist verboten, Und Vorsicht ist immer geboten. Um 1900 war es Vorschrift, dass (in geschlossenen Ortschaften) vor jedem Automobil ein Mann mit einer roten Fahne vorweg lief – als Exempel. Das ist außer Mode gekommen, obwohl die Gefahren im Straßenverkehr drastisch zugenommen haben. Die Eisenbahn hat einen neuen Blick nach draußen ermöglich, Bäume werden zu NanoSekunden und Landschaften werden die neuen Details. Oder gar nichts. Der ICE ist eine schnelle Röhre im Tunnel hinter der Lärmschutzwand. Der Blick ist darin nach innen gerichtet, aber ohne Versenkung. Man hört auf seine Uhr und auf die Zeitung.

Wir leben in einer verkürzten Zeit des rasanten Wachstums technischer Effizienz. Mobilität ist vom Tempo nur die Sichtbarkeit, Darunter liegt tiefe, dauernde Zeitnot. Die Hast ist das Zwangsgefühl der Beschleunigung. Warten macht unruhig und unglücklich, gilt selbst als Unglück. Unruhe ist ein Gespür für Zeit-Dissonanz und stellt sich ein, wenn die innere Uhr mit den äußeren Ereignissen nicht übereinstimmt, es geht zu schnell oder zu langsam oder im falschen Takt.

Das HörenSagen jagt die Banknoten um den Globus und schreiend springt die Werbung vorneweg hinterher. Der schnellste Flug zu fremden Kontinenten dauert aber ewig und ein Computer, der mit Millionen Rechenoperationen pro Sekunde schuftet, ist immer noch so krötenlangsam, dass wir viel Kaffee trinken müssen. Nur der entspricht dem Maße von uns selber.

Beschleuniger sind neben Ölen und Fetten die Konkurrenz und der Wettbewerb, die Lokomotorik, die Globalisierung, das Digital und die Medialisierung. Kredite sind Motoren der Wirtschaft, Banken die großen Beschleuniger. (Seit Goethes Tod) Seit der Herrschaft der Industrie besteh ein Wachstumsgebot, das einen permanenten und ansteckenden Zeitdruck verursacht. Die Folge ist eine allgemeine Beschleunigung der Beschleunigung, das expotentielle Wachstum, Dem Kapitalismus ist es ökonomisch angeboren, denn das Kapital ist nichts anderes als Zeit, nur als Körper. Auch Sonderangebote, Termingelder, Sommerschlussverkäufe, limitierte Rabatten, Zeitarbeit oder Altersvorsorge sind Elemente der Beschleunigung.

Geschwindigkeit ist eine strukturbildende Kraft. Die stofflichen Mobiles werden In der virtuellen „entmaterialisieren Welt“ durch gigantische Informationsströme ersetzt. Mehr als Barrels werden Byts um den Globus verschoben. Virtuelles, mächtiges Geld kreiselt milliardenschwer um den Globus und sucht eine Anlage. Die enorme Temposteigung in den Kommunikationskanälen und Netzen verlockt zur globalen „Echtzeit – real time“ (alles muss sofort, kann überall geschehen – wie es die Zauberfee macht). Die Verwandlung der Zeit zur Ökonomie und deren Dominanz über das ganze Leben produziert einen enormen Geschwindigkeits-Schub, Der gemächliche K. hat sich zum TurboKapitalismus gemausert, der kaum noch wahrnehmbar ist (wegen speed).

Zeit wird immerzu in Geld verwandelt, nur wenig Geld zurück in Zeit. Deshalb ist Zeit knapp. In der Arbeit verdichtet sich Zeit zu Geld und Waren. Im Überfluss an Waren wird der Mangel an Zeit sichtbar. Die Waren haben keine Zeit, können nicht warten und stehen doch nach den Käufern Schlange. Im Kreislauf Waren kauft der Preis die Zeit.

Die Gegenwart wird immer kurzatmiger, stirbt langsam in „Echtzeit“. Jemand will die Paradoxien unserer Zeit als „rasenden Stillstand“ P.V. markieren: Das metaphorische Erstaunen über einen dunklen trägen Moloch, der ekstatisch auf das Wachstum beharrt. Das Problem liegt aber nicht nur im Tempo, sondern in dessen Zuschnitt. Gerade das Falsche scheint zu erstarren und wiederum das Falsche gerät in Schwung. Die rasante Mobilität blockiert zum Beispiel die Entwicklungen regionaler Kreisläufe. – Aber Tempo „muss sein“, vor allem im Konservativen: Weil alles so schnell geht, verändert sich nichts. Raserei und Starrsinn gehören zu ein und demselben Zeitbild. So kränkelt die Zeit, apathisch und flüchtig zugleich.

Konsum-Werbung beschleunigt auf zweierlei Ebenen.

  • Solche Begriffe wie „Konsumterror“ und „Kaufrausch“ zeigen, dass Wörter schon verbraucht sein können, bevor das Problem, das sie verkörpern, erledigt ist. Suggestive Anreize (wegwerfen und nachkaufen) beschleunigen das Wechselspiel von Produktion und Konsumtion und wollen das auch.
  • Werbung beschleunigt die Wahrnehmung, indem sie den schnellen Blick in der Reizfülle der Bilder trainiert. Die Werbung lehrt dem Auge das schnelle, selektive Sehen, das bloß 10 Millisekunden dauert um zu wissen, was man braucht.

Ent-Schleunigung

„Entschleunigung“ meint keine einfache Verlangsamung von Vorgängen, sondern eine kulturelle Bewegung mit dem Ziel, die praktische Differenz zwischen technischer und humaner Zeit zugunsten letzterer zu entscheiden. Ein Kulturkampf zwischen Be- und Entschleunigern ist nur ein ideologisch gesetzter und mental gesteuerter Widerstreit zwischen Tempophilie und Tempophobie. Verlangsamung und Reduzierung sind als Elemente der Entschleunigung auf eine subtile Weise immer auch Steigerung und Anstrengen, nur eben auf der Seite der humanen Zeit. Entscleunigung schließt alle Tempi von Teilmengen ein – wenn sie das dem Menschen innewohnende Zeitregime unterstützen. Doch die Kräfte einer ungezügelten, technisch und wirtschaftlich inspirierten Rotation sind übermächtig. Sie produzieren einen immer größeren Problemdruck. Die Entschleunigen muss sich deshalb langsam beeilen.

Die Idee der Natur, wie wir sie uns vorstellen, also in den Kategorien von Freiheit, Vielfalt, Lebendigkeit, Einfachheit, Transparenz und Selbstgenügsamkeit, verhilft dem Natürlichen zum Eindruck von Ruhe und Gelassenheit, das Künstliche wird dagegen in Gänze als beschleunigend empfunden. weil jeder Eingriff in einen der „Naturzustände“ das Gleichgewicht des Natürlichen verunsichert und weitere Eingriffe und schnellere Antworten verlangen. Das Artifizielle forciert also die Reaktion auf die eigene Performance. Während künstliche Räume auch in der Reduktion (wie dem Minimalismus) aufregend und innovativ sind, wirkt der natürliche Raum beruhigend und entspannend. Artefakte wirken nur dann ähnlich sanft und lindernd, wenn sie Maße haben, die der Natur entlehnt sind oder wenn sie aus natürlichen Materialien bestehen, wenn sie die Sinnfälligkeit einer praktischen Handhabung besitzen usw. also der menschlichen und außermenschlichen Natur sehr nahe sind.

Überforderungssyndrome und die falschen Antworten darauf sind überall erkennbar. Kurse für Manager bieten meditative Gehirngymnastik in den Stresspausen und Rezepte dafür an, das Zeitmanagement im Terminkalender noch effizienter und unbarmherziger zu gestalten. Ist das die „letzten“ Mobilitätsreserve des Industrialismus, dessen rasante Beschleunigung an die Grenze der Belastbarkeit des Menschen getreten ist? Offensichtlich gibt es mehr als zur technischen Geschwindigkeit einen Widerspruch der Akkumulationsgeschwindigkeit des Kapitals zu den Reproduktionsbedingungen der Natur und des Menschen. In dieser Situation kann ZEITMANAGEMENT zweierlei sein: Es kann zur Effizienzsteigerung in der (entfremdeten) Arbeit beitragen oder Hilfe bei der Organisation von selbstbestimmten Leben (des Gewinns von Freizeit) sein.

In die Freizeit, als der von Erwerbsarbeit freien Zeit, springt zunehmend ein anderer Teil der Industrie, nämlich die Freizeit-, Spaß- und Unterhaltungsindustrie mit ihren Angeboten hinein und macht sie arbeitsförmig, denn auch die Freizeitindustrie besitzt die Tendenz, freie Zeit in fremdbestimmtes Leben zu verwandeln. Viele Angebote und Waren, auch anscheinend „zeitsparende“ Maschinen (wie Küchenmaschinen und Autos) können die „Menschenzeit“ verknappen. Die gesteigerten Geschwindigkeiten verursachen eine Sinnsuche am Ziel: Die Suche nach der gewonnenen Zeit.

Im Credo der Moderne „less is more“ steht das „Weniger“ zur Debatte. Weniger Tempo, Raum, Aufwand? Meist bezog sich die Reduktion nur auf die Menge an Gestaltungsmitteln, besonders der Tilgung der Ornamente, doch diese Nüchternheit war nur ein (windschlüpfriges) Kompensat zum dinglichen Überfluss und der Zeitverknappung. Die Komplexitätsreduktion der Formen zum Elementaren hin geht Hand in Hand mit der Beschleunigung und dem Anhäufung von Dingen. Ein moderner Haushalt besteht aus über 10 000 Dingen, aber Experimente haben gezeigt, dass einige Hundert von ihnen ausreichen würden, um die Zeit sparende Funktion der Dinge mit dem Zeitaufwand für ihre Beschaffung und Pflege in ein günstiges Verhältnis zu setzen.

Angesichts eines Übermaßes an dinglichem und zeitlichem Zwang und seiner permanenten Erhitzung durch Werbung entwickelt sich der Typ einer Ästhetik des Verzichtes, der aus einer ökologischen Lebenskunst mit dem Ziel eines besonnenen Lebens abgeleitet ist. Genießender Gebrauch wird dem platten Verbrauch entgegen gehalten. Verzicht wird positiv als behutsamen Umganges mit allem, was den Menschen umgibt gedeutet. Behutsamkeit ist im Praktischen dasselbe wie Empfindsamkeit im Rezeptiven. Sie kommt nicht asketisch, sondern sinnlich. Eine Reduktion des etablierten Wohlstands-Konsums ist eine Voraussetzung für die Entfaltung der Sinne und die Sublimierung des eigenen Verhaltens, Das Engagement für diese Art der Selbstentfaltung durch Begrenzung ist Teil einer Kultur der Gelassenheit. Behutsamkeit nach außen und Innerlichkeit sind die zwei Ausdehnungen dieser Kultur.

Dem Diktat der Maschinenzeit und des Kalenders steht der Versuch gegenüber, in der genehmen Lebenspraxis die individuellen Zeitmaße zu entfalten und durchzusetzen. Die eigene Eigenzeit braucht die soziale Korrespondenz mit den Zeitmaßen anderer, aber Zeit ist vor allem subjektiv und darin unabdingbar für alles, für äußere Effizienz, für innere Zufriedenheit und ein letztlich gelungenes Leben. Das persönliche Zeitregime respektiert andere Zeitsystem und lässt den Dingen ihr adäquates Maß. Einen Text beispielsweise, den ich für 20 min. schreiben kann, sollte ich nicht auf 20 Seiten ausdehnen und die Leser, die einen 2-stündigen Text erwarten, sollen nicht um diesen Genuss gebracht werden.

Die Zeit-Individualität wird durch asynchrone Kommunikation gestärkt, in der die Empfänger ihren eigenen Takt dadurch durchsetzt, dass sie den Zeitpunkt des Abrufes der gesendeten und gespeicherten Information selbst bestimmen. In den digitalen Netzen verbrauchen die Nutzer andererseits viel Zeit für Filterarbeit, durch die unwahre, irreführende oder nichtssagende Informationen getilgt werden. Dort verursacht gerade die geschätzte Anonymität und das Fehlen anerkannte Autoritäten eine Verlässlichkeitslücke und eine permanente Verunsicherung gegenüber Aussagen, deren Referenzen und Autoren unbekannt bleiben. In der vor-medialen Zeit wurde Zeit durch die Beschaffung, heute durch die Vernichtung von Information verbraucht.

Kunst, vor allem Design

Kunst und Design unterscheiden sich in ihren chromatischen Eigenschaften grundlegend. Design ist affirmativ, gefällig und stromlinienförmig – auch wenn das Ding ein rechterwinkliger Kasten ist. Der mainstream glättet alles und die gestalterischen Maßnahmen dienen wesentlich dazu, das Produkt den technischen, praktischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Vorgaben anzupassen – auch dann, wenn kleine, doch stets dem normativen Denken entspringende Überraschungen und Abweichungen eingebaut werden. Design schmiegt sich den Konditionen an und gibt ihnen nach, Wirklich innovatives Design ist ein solches, dass auf innovative Rahmenbedingungen mit Verfahren reagiert, die genau diesem Innovationsniveau entsprechen. Design verflüssigt Widerstände und dient so der allgemeinen Beschleunigung. Alles wird durch Design beschleunigt: Die Produktion, der Verkauf, die Handhabung und die Wahrnehmung.

Kunst ist dagegen wesentlich Entschleunigung. Kunst verunsichert, sublimiert und hinterfragt. Damit stellt sie sich zwischen die Ereignisse und zwischen die Dinge. Kunst verlangsamt durch Reibungen, Auf- und Ausbrüche, Verunglimpfung, Widersprüche, Vieldeutigkeiten usw. Kunst ist eine Zeit fressende Stimulanz, die eine Lebenszeit spendende Energie enthält. Sie stellt sich vor die äußerlichen Zeitstrukturen, das ist ihr subversives Potential. Vielleicht gab es auch Zeiten, in denen die Kunst als Beschleuniger wirkte, z.B. in der Antike oder im Mittelalter. Heute ist diese Funktion von der Technik und der Ökonomie übernommen worden – mit dem Effekt, dass die beschleunigenden Mittel über die gedachten Ziele menschlichen Handelns dominieren.

Der Kunst im Bremserhäuschen pfeift der Wind. „Künstler“ ist ein hektischer Beruf, wenn Kunst Erwerbsarbeit ist. Kunst hat sich diese abbildend der Tempogesellschaft angepasst und karikiert diese zugleich. Mit ihrer antipodischen Kraft verbraucht sie einen Teil der kinetischen Energie der Gesellschaft, fügt ihr aber in gelungenen Zeiten potentielle hinzu.

Das permanenter Innovationsgebot der Industriegesellschaft ist auch zur Auflage für ihre Kunst geworden. Die Kulturgeschichte der Moderne ist geprägt von Pendelbewegungen, deren Amplituden und Taktfrequenzen sich ständig erhöhen. Jede neue Kunstrichtung musste sich im Umwerten der vorangegangenen noch extremer als diese gebärden. Die raschen künstlerischen Innovationen haben in der Phase der konzeptionellen Kunst den Charakter von Erfindungen angenommen. Kunst ist Erfindung und Kunstwerke sind Patente geworden. Die Singularität ist nicht mehr an individuelle Handschriften o.ä. gebunden, sondern an einen patentierfähigen Gedanken, der nur ein einziges Mal neu, also kunstfähig ist. Die Kunstpatente freilich vergibt kein Amt, aber der gesamte institutionelle Kunstbetrieb.

Die Gegenwart beträgt 3 sec. (= Zeit zwischen Reizauslösung und seiner Verinnerlichung). Nur 10 Millisekunden (ein Augenaufschlag) werden gebraucht, um etwas als „schön“, „attraktiv“ oder „interessant“ zu identifizieren . Doch dieser Augenblick ist nicht ausreichend für die Rezeption von Kunst. Wie kommt man also jenseits der allgemeinen Entschleunigungs-Funktion der Kunst zur „gedehnten Gegenwart“ der künstlerischen Wahrnehmung? Gibt es auch spezifische ästhetische Mittel und Verfahren zur Entschleunigung?

  1. Verlangsamung (Zeitlupe)
  2. Unterbrechung (Pause, Störung, Moratorien)
  3. Verlängerung (Dehnung, Streckung, Schlaufen)
  4. Wiederholung (Iteration, Zyklen)
  5. Rückkopplung (retardierende Momente, Interaktion)
  6. Linearisierung (Nacheinander statt parallel)
  7. Semantische Überladung (Metapher, Polysemantische Fig.)
  8. Metamorphosen des Codes (poetische Wendungen)

Die Mittel der künstlerischen Entschleuniger haben natürlich überhaupt keine definierte Wirkung. sie sind mal so, mal ambivalent, mal reziprok. In den Medien und Genres können spezifische Verfahren entschleunigen. Zum Beispiel ist ungeklärt, ob die Asynchronität von Bild und Ton im Film die Wahrnehmung verzögert oder nicht. Künstlerische Symbole laden konnotative Assoziationen und filigranes Material auf und verlangsamen dabei. Dagegen vereinfachen, verkürzen und beschleunigen die politischen Signets, Ikonogramme, Werbesymbole, Fahnen und dgl.

Atmosphären schieben sich als Färbungen und Stimmungen in alle Bilder. Sie sind ein Zusatz des gestimmten Raumes, der auch zwischen die Dinge und unsere Wahrnehmung tritt. Atmosphären entschleunigen durch einen semantischen Nebel, dessen Konnotationen den Blick verlangsamen und die Sicht verändern.

Das Schnelle ist mit dem Lauten, Hartem, Energetischem, Fernem und Kaltem, das Langsame mit dem Leisen, Weichem, Energiearmen, Nahem und Warmen verwandt. Im Dunkeln und Stillen vergeht Zeit sehr langsam – es fehlen Reize, um die Zeit zu strukturieren. Im Alter vergeht Zeit immer schneller – weil alles schon einmal da war.

Künstler arbeiten jahre- gar lebenslang an einem Werk, andere brauchen nur einige Minuten, ebenso unterschiedlich ist die Lebensdauer von Kunst – eine Performance erlebt nur die Echtzeit, doch gusseiserne Skulpturen leben etwas länger, manches wird zur Ewigkeit hin restauriert. Letztlich widmet sich auch der Kunstbetrachter seinem Gegenstand in unterschiedlicher Intensität und Dauer zu. Zeitregime bestimmen also alle Phasen – das Werden, Sein und Wirken von Kunst.

Nur Qualität entschleunigt, das gilt für Schmuck und Ornamente ebenso wie für andere Gestaltungsmittel des „Überflusses“ wie der polierten Exaktheit der Maschinenästhetik oder dem Aufwand für Eurythmie und Symmetrie. Nur ästhetische Potentiale können Wahrnehmung aufhalten. Die schmucklose Moderne des Wirtschaftsfunktionalismus ist ein Ausdruck des Ökonomiemus und des Rasanten, doch minimalistische Reduktionen können etwas anderes, sie können sehr viel Energie und Aufmerksamkeit an sich binden und ästhetische Prozesse verlangsamen.

Langsam ist vieldeutig. Verzögert die künstlerische Aura oder die Ambivalenz von Symbolen den Rezeptionsprozess? Wirken Sinnlichkeit, Bildhaftigkeit, Parallel- und Metakommunikation als Beschleuniger? Nichts ist außerhalb der Zusammenhänge entscheidbar. Auch extreme Langsamkeit kann als Kontrast und Verblüffung innerhalb der Event-Kultur beschleunigend wirken. Ruhe kann als Sujet, als Bildcharakter, als Atmosphäre und als Wahrnehmungsmuster auftreten. Ewigkeit, Vergänglichkeit, Tod und Tun sind eherne Motive der Kunst. Und sie selbst hat ein Verfallsdatum!

Rhythmen

Rhythmen sind Strukturierungen von Zeit.
Wartekultur Achterbahn der Zeitgefühle
Die Kunst des richtigen Augenblickes beherrschen, einen ausgeprägten Sinn für die Zeit entwickeln, nicht durch das allgemeine Beschleunigungsgebot alles gleich t

Lineare Zeit, Zyklische Zeit.
In vorindustrieller Zeit waren Arbeit und Freizeit noch nicht getrennt, sie waren durch Pausen und Arbeitsrhythmen miteinander verwoben.

Pendeln zwischen Anspannung und Entspannung – Pulsieren,
Neue Polychromie Palette der Zeitkulturen – Vielfalt der Zeitformen.
multivalente Zeit – wiedergewonnene Subjektivierung der Zeit.
Arbeitsförmig organisiertes Leben.

Muße als Modell als stimmhaftes JA

Melancholie und Schwermut sind Zeitkrankheiten, bei deren Auftreten das Gefühl für das Kommende verloren gegangen ist. In der Hast fehlt die Empfindung für Dauer, in der Langeweile die Wahrnehmung der Gegenwart. Konflikte mit der Zeit führen oft zu lähmenden Zuständen.

Zeit wird verdichtet oder gedehnt. Ihre Energie pulsiert als Spannung und Entspannung. Muße ist auf der Seite der Dehnung und Entspannung zu finden. Alltäglich deutet Spannung auf Arbeit, Entspannung auf Freizeit. Aber.

Ökonomisch dient die Freizeit der Reproduktion von Arbeitskraft und der Vertilgung deren Produktionen durch Konsum. In der Freizeit besteht ein allgemeines Konsumtionsgebot für das, was durch Erwerbsarbeit geschaffen wurde. Muße ist da, um nicht faul sein zu müssen. Faulsein ist an die Erwerbsarbeit gekettet, sie ist selbst Arbeit. Freizeit ist Arbeit im Interesse der Freizeitindustrie. Erzwungene Nicht-Arbeit ist aber ebenso Muselosigkeit. Arbeit zu Freizeit ist wie Unterhalt-Industrie zu Unterhaltungsindustrie. Kein Ausblick auf Muße also so.

In einem zweiten Sinne ist Arbeit Leistung im Sinne von Anstrengung, Mühe und Sisyphus. Aber die Freizeitindustrie ist noch anstrengender. Büroschlaf und Extremsport machen deutlich, dass Kraftentfaltung und Schlappheit sich auf Arbeit und Freizeit gleichermaßen beziehen können. Auch das ist keine Muße. Muße enthält die subtilste Form der Anstrengung, eine solche, die nur als eine andere Farbe erscheint.

Muße ist das Bedürfnis, sich mit der Zeit zu versöhnen. Der Müßige lässt die Zeit tief in sich hinein, so hat er sie. Er ersetzt das Ticken der Uhr durch sein eigenes Zeitmaß und seine Rhythmen. Die sind ihm innerlich so absolut, wie seine Behutsamkeit gegen alles Äußere. Er will nichts verändern und verändert vielleicht alles. Muße ist tätiges Ruhen, eine schöpferische Unproduktivität, eine Vertiefung des Leichtsinnigen, die eigentliche Wende. Dieses Nichtstun ist kein Faulsein, sondern die Abwehr des Faulseins. Es ist endlich keine Kompensation zu etwas anderem (z.B. der Erwerbsarbeit), sondern ein gewissliches Spiel mit der eigenen Zeit, mit der Eigenzeit. Stumpfsinn und Muße sind im Nichtstun dasselbe, doch Stumpfsinn ist Verlust, Muße aber Gewinn an humaner Zeit.

Muße kommt aus Gelassenheit, Muße ist die Innerlichkeit des Nichtstuns. Sie reduziert die Verbindungen zur Außenwelt, kappt die Netze und Fallstricke, kehrt die Wirklichkeit ins Innere zurück. Meditation lehrt die Genügsamkeit und Gemächlichkeit. Keine großen kleinen Ziele, keine Absichten, Handlungen. Muße schafft den Innenraum für freies Assoziieren, sie verdünnt die Stofflichkeit des Gehirns, sie destruiert den Geist. Sie schafft Platz wofür? So ist sie die Schwester der Freiheit.

Muße verinnerlicht sanft, nicht durch mönchische Selbstpeinigung, Muße ist nicht asketisch, sie ist vom Hedonismus des gelungenen Lebens erfüllt. Genuss ist hier stoffliche Inspiration, eine Bequemlichkeit, eine Wahrnehmung. der man sich hingeben kann. Genuss ist ein Hinausdrängen der Empfindung auf etwas, das man sich einverleiben möchte – im eigenen Maße der Zeit, in den eigenen Amplituden, im Rhythmus der Geburt und der Logik, im Selbstgenuss.

Muße ist nicht streng, ihr fehlt jede Anstrengung. Schwitzen ist auch als Wort hässlich. Sitzen und Schwelgen ja. Schwelgen ist gut, ist keine Begeisterung. Doch der Gleichgültigkeit widerstehen, das ist auch Muße, ist Anarchie, ist Lust. Freude und Genuss sind die Feuer der Muße, doch ein genügsamer Genuss ist gemeint, ähnlich der Heiterkeit des Schlummers unter dem Fliederbusch. Die Natur geht auch nicht aufs Ganze. Eine Biene nimmt von jeder Blüte immer nur ein wenig, damit stets ein Rest übrig bleibt. Muße führt nicht zum opulentem, zerfasertem Leben. Nur das sich selbst genügende, einfache Leben schafft Raum für Höhepunkte.

Muße verfeinert den Genussapparat, sie differenziert die erweckten Luststoffe in der Hingabe an den Gegenstand des Genusses. der auch durch die Tatkraft der Nahsinne (tasten, schmecken, riechen) einverleibt wird, Das ist ein Prozess, in dem sich diese Sinne zu Experten der Muße sublimieren. Im liebevollen Umgang, im behutsamen und vergnüglichen Erproben der eigenen Möglichkeiten, im Maß halten und Maß finden erweist sich die Muße als Zeitmodell. (Dagegen zwanghafter Genuss. Rauschzustand. Und zerstörerischer Verbrauch im zwergenhaften Genuss des Vielen)

Muße kann nichts Hässliches sein, kein Verstimmungen und keine Verkrampfungen des Stoffes oder der Form. Muße ist die Kontemplation zum Schönen hin. Das Schöne ist der deutlichste Ausdruck der Muße, die selbst im Schönen sehr fleißig sein kann . Muße ist eine Versenkung zur Harmonie der Dinge oder wenigstens deren Erscheinungen und im meisten des ganzen Lebens. So zielt sie auf die innerste Natur des Menschen, ist überhaupt ein Wesentliches an ihm. Der Mensch wird zur Muße hin geboren, sie ist sein Grund und sein Grund. Muße will keinen zeitlichen Wechsel mit Unrast, sondern ihre Dehnung auf das ganze Leben. Sie ist etwas Absolutes – der Mensch weiß manchmal davon, also überlässt er der Maschine und dem Laser das andere, die Hektik und den Zwang. Muße ist ein eigentümlicher Wohlstand, ein Zeit-Wohlstand.

Wie das Faulsein zur Arbeit und die Trägheit zur Leistung passt, so gehört zur Muße die Kreativität. Das Schaffen ist nicht ihr Prospekt, doch entsteht in der Muße gerade jener Zustand der Leichtigkeit und Freiheit, in dem sich etwas Grund-Neues entwickeln kann, das sich jenseits des üblichen Innovationsgebotes entfaltet. Der Müßige wird keine auftragsgemäße Neuheit produzieren, doch kann er vielleicht die Tiefe des Möglichen ausloten und etwas erahnen, dass irgendwann auch die Ebene des Geformten erreichen kann. Im zarten Erlebnis der Muße grummelt manchmal Ungeahntes.

Muße ist ein zweckfreies Treiben, ein Spiel mit Musen. Die Künste sind die nahen Verwandten der Muße, doch treten sie eher als Genussmittel auf, denn als Schwester Erkenntnis, sie sind hier vielmehr eine hohe und weise Form der Unterhaltung. Der Genuss der schönen Kunst begünstigt die Muße, aus der ein Schaffensdrang erwachsen kann, der keinesfalls zum Ebenmaß des „Schönen“ führen muss, sondern vielleicht sogar bittere, kontrastreiche und harte Fakten produziert.

Zeit ist schneller als alles andere. Selbstheilungskräfte brauchen Zeit, weil die Muße abseits steht. Komm Muße. Wir tuen dir nichts. Wir tuen nichts. Wir verschlechtern nichts. Den Tätern unsere Muße aufzwingen, das wäre Heilung.

Die Zeit oder Muße.
Tagträume zur Lebens-Kunst
Unveröffentlichtes Manuskript 2004.

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