Olfaktorische Denkmalpflege (2001)

Olaf Weber
Was ist olfaktorische Denkmalpflege.

Ein Performance-Vortrag

Ich trete ans Rednerpult, hebe die Arme und bewege sie dreimal – quasi Luft einsaugend – zu meiner Nase. Dasselbe wiederhole ich an den beiden Seiten der Bühne. Ein Jagdhund („Weimaraner“) wird auf einer tuchbedeckten Tafel hereingetragen und neben dem Rednerpult abgestellt. Eine antike Säule ergänzt das Arrangement. Nach einer Weile kommt eine Assistentin und versprüht sehr sparsam Raumspray und andere Gerüche. Sie bewegt sich in unauffälligem Gleichmaß.

Wer hat Jakob Michael Reinhold Lenz auf einer nächtlichen Moskauer Straße leichentot und
es war eine Winternacht des Jahres 1792,
da war er ein vergessener Schriftsteller, fast
vergessen, auch von Goethe, Goethe.
Tot bist Du, sagt man, wenn der letzte aufhört, sich
Deiner zu erinnern, wenn andere tot sind also. Lenz,
Du bist nicht tot, nur damals.
Als Du noch nicht schwierig schienst,
als Du der Jugendfreund des gleichen Großen warst.
Wie suchtest Du die Nähe und hast auch Ferne
nicht gefunden, nur diese Ferne zu Dir selbst. Doch
auch nicht die. Das Zentrum,
wo ist, war der Frauenplan. Die große Flucht von Goethe weg
hinweg. Das Leben. Wo
sind Deine Spuren, wenig.
Nichts, wenig Spuren das. In Weimar, Baden Berka, im fernen Livland, in Moskaus leeren Straßen. Verstreutes gab es und Papiere. Hie und da ein Bündel, Stapel in Archiven oder wenig Freundes Haus.
Lenz war ein Dichter, nicht nur das. Er war in heute wunderlichster Zweisamkeit auch so was Mann, der was verstand von kriegerischem Zeug und von Logistik, Militär, was hinführt zur Gewalt. Nicht ohne Relevanz das was deshalb. Zarenhofes Dienste waren nicht erreichbar.

Nachdem die Öffnung russischer und baltischer Archive,
nun tauchten Dinge auf zur Einsicht führten dass
ein Drittes könnte ihn beschäftigt haben und vielleicht
das Wichtigste im einsam Schaffen Lenzens.
In Riga fand ein glühender Verächter Goethes einige,
von Schweiß und Blütenstaub vergilbte Blätter eines Manuskriptes, das Lenz beim Heimwärtslaufen hin zum fast verstoßnen Vaterhause fasste, das blieb verschlossen ihm, die zweidrei Seiten aber sind gerettet und sind (nun bin ich endlich da, beim Thema, anders als gedacht), sie sind nichts anders als das geniale Unklar immer noch
und zwar, als etwas kein System, doch als Impuls zu
Olfaktorischem und
Denkmalpflege Eins.

Hier füge ich Gesten des Umfassens als Einheit von diesem und jenem ein.

Wie geht das zwei zusammen. Um dieser Frage etwas näher,
nun die WesentSätze des bei Lenz ganz bescheiden
angelegten und im eingebettet Kontext MilitärischWesen,
Ansatz einer – eben – „olfaktorischen“ Denkmalpflege und in der gebotenen Kürze und Vorläufigkeit kommentieren. Mehr
ist da nicht zu leisten heute. Lenz schreibt also:
„…Weil der Geruch eine phylogenetische GrundKonstante und zugleich ein Maß der Individuation alles Kreatürlichen ist, muss er mit der gleichen Stringenz auch allen Artefakten wie Hausrat, Kleidung und also auch dem Hause selbst zugeordnet werden und dieses in wesentlicher Bestimmung definieren. Der Geruch ist nicht nur das identifikatorische Maß der Behausung, sondern sollte auch das gültige Kriterium für die Manipulation an selbem sein…“
Was Lenzen hier für einen Dichter sehr
der Sache nach erzählt und noch dazu
als Forderung fürs Bauen von Kasernen und
wie nebenbei beschreibt, ist eine bisher unentdeckte und bis heute
völlig undenkbare Sicht auf Theorie und Praxis Denkmalpflege.

Die Assistentin betritt den Raum und versprüht Parfüms und Duftsprays, wobei sie sich sehr langsam bewegt, stehen bleibt und wie mit einer Pistole die Flakons und Spraydosen bedient.

Ein Haus und seine Umgestaltung von seinen olfaktorischen Eigenschaften her zu definieren, das würde zwar nicht die axiologische Systematik der Denkmalpflege zerstören, wohl aber ihren eidetischen Sinn. Wenn der Geruch so wichtig für die Identifikation eines Bauwerkes ist, dann muss an diesem eigenschaftlichen Kriterium auch das bestimmt, was wir mit Ähnlichkeit beschreiben. Zwei Häuser werden einander ähnlich durch den gleichen Geruch. Wenn irgend jemand das akzeptiert, dann ist das zweite Goethe-Gartenhaus keine Kopie, sondern ein Heterogen zum alten, etwas völlig anderes. Jeder Hund weiß das. Zwischen dem Original und der Kopie gibt es überhaupt keine Ähnlichkeit im Habitus. Das eine riecht nach alten Steinen, Erde, nach Fäulnis, Kalk, nach Firniss, altem Holz und Veilchen. Das andre riecht nach Dispersion, nach Zementiertem, Latex, nach Kunstharz Polyäthy und so weiter. Das ist kein zweites. Es ist kein ähnliches. Kein Gleiches. Nicht nur jede kluge Nase weiß das und
fast alle PhänomenOlogen auch.

Ich laufe vom Rednerpult rückwärts in die vorderen Ecken der Bühne und sammle dort Luft und Gerüche, die ich einatme oder in die Taschen stecke.

Diese so lapidare Erkenntnis von der olfaktorischen Homogenität und ihrer Dingkorrespondenz muss zu einer Quasi-Revolution der Denkmalwerte und einem Paradigmenwechsel innerhalb Theorie der Denkmalpflege führen. Der Inhalt des Begriffes „Konservieren“ muss sich einer umfassenden Tiefenprüfung unterziehen.
Wir wollen aber noch einmal die Rechtschaffenheit der Motive Lenzens hinterfragen. Prüfen wir, was nach dem Abzug
aller Interessenlagen von dieser Sache
übrig bleibt.

Lenz war ein Reisender und auch ein Fliehender. Er war ein Mann, der tief Erlebtes tiefer noch in sich vergrub. Zuerst
war Reisen, wie jeder Broterwerb, nur freier Wille, Lenz war
Faktotum zweier Offiziere, doch später mehr und mehr getrieben
von den eignen Misserfolgen unterwegs.
In seiner LeidensLebensZeit schlugen ihm
die Fakten tief ins Knochenmark, ins Blut.
Beim Pfarrer Oberon im Mühletal erfuhr er die Gerüche aus dem Strohsack wie aus tiefem Brunnen Sturz hinein. Grenouille hätte nichts stärkeres erfinden können an Parfüm.
Erinnerungen an Gerüche sind die tiefsten.
Verborgen lauern sie im weiten Tal Vergessen, bis sie
aus heitrem Sinne plötzlich sich entfalten.
Weh dem dann, der sich der Düfte nicht erwehrt noch kann.
In Weimar wars vielleicht auch eine Frau von Stein, in
Kochberg untersuchte Lenz mit ihr für Wochen die Gemäuer und
den sanften Anstieg ihres Gärtleins hinterm Haus. Der damals junge
Alte warf ihn dafür raus. Die ganze Hofgesellschaft konnte ihn nicht riechen. Verstoßen bist Du, Lenz, ein Eremit.
Wie möge ihn die dumpfe Fäulnis Buchfahrts Höhlen, wo er
für eine lange Weile wohnte, und kleiner Hütten Feuchte
auf dem Wege, bis er
im Berka Bad den Klassizisten Coudray traf, der den Geruch
der Griechen vorsah für die Musentempel dieser Gegend.
In Berka war zumal ein sonderlicher Kauz,
Karl Schranzen hieß der Apotheker. Der hatte,
ebenfalls bis heute unbekannt, die Wirkung von Verdünnung
ausprobiert zur Stimulans von körpereignen Gegenkräften, wie
HomöpaOten heute wollen.
Schranzen hatte Gerüche aus der ganzen Welt gesammelt
und heilte damit viele Leiden. Der sanfte Duft
in lauer Luft war sein Orakel. Lenz hatte ihn auf halben Wege
Wein verpanschter Sakristei getroffen.
So fügte sich in Baden Berka einander
die Erfahrung, die Lenzens Nase selber nahm
mit mysteriösen Heilverfahren Schranzens
und der Ästhetik der Helenen. Was ist Geruch?

Ich wedle und stopfe die Luft in die Nase. Dem Hund werden verschiedene Geruchsstoffe vorgehalten. Er reagiert sehr angetan, während er dem übrigen Vortrag eher schlafend zugestimmt hat.

Was ist Geruch? Das ist zwar stofflich, doch das Stoffliche als Reiz. Das Materielle, das ist Duft, ist beinah nichts, ist Pollen, kleine Knospen, Partikel eben, die so leicht, so schweben, dass sie
sich vermengen mit der Luft und
drängen mit der Not des Atmens in die Nase Körper.
Riechen, das ist Nötigung, denn ohne RiechenWollen, ohne
Wendung hin, ja manchmal gegen diesen Dunst gestimmt ist oft.
Nur selten aber auch die Nähe suchen zu dem Ding, das da
verduftet, und auch verdicken diese Luft, die riecht.
Und tiefes Fühlen, das ist Riechen, ganz hinter
im geheimen Teil des Denkens. Riechen
ist archaisch Denken. Die Düfte hinterlassen
tiefe, breite Rinnen, keine Ritzelspuren. Sie
bleiben lange dort, sie bleiben. Doch wehe,
wenn Erinnerung. Und wehe, wer sich sperrt dann diesem Drängen.
Es kommt aus tiefen Brunnen geht dahin, Federkissen, wie bei Lenzen. Wo Bilder etwa schon vergessen, Gerüche sind es lange nicht und bleiben. Im Kopf. Im Geist. Im Mark. Im Steiß.
Das ist es: Olfaktorisches Erinnern.

Dreimal ganz tiefes Ein- und Ausatmen. Die antike Säule wird parfümiert und mit Geruchsutensilien behangen.

Lenz brauchte diese Art der Rückschau mit der Nase. Mehrmals durch Europa wieder hin zurück, da war das bildlich ungenaue, doch im Charakter höchst exakte SichErinnern dienlich. Er war in dieser Sache der mobilen Zeit voraus.
Erinnern, das heißt separieren. Ein Bild
sich schaffen, das bedeutet
das Distinktive irgendwie besondern in der
Wirklichkeit im Kopf. Denn nur im Denken
ist es sonderlich genug.

Der Mensch verortet sein Erinnern
im Zwischenwirt Geruch an baulichen Strukturen.
Globale Existenz heißt heute,
die Städte, Plätze, Häuser olfaktieren und
außerhalb der digitalen Netze
lokale Atmosphären memorieren.

Und noch ein letzter Grund der aktuell.
Es ist der Trug der Sinne, diese Täuschung überall. Das Virtuelle macht verwirrt, weil es wie Echtes klirrt. Computer generieren Wunderwelten, in denen nur die Persiflagen gelten. Was wahr ist nur als Schein, wird wahr genommen für das Ganze. Wie wird das ferne Sehen nah? Wo ist verlässlich Reiz und Phänomen? Wo nehmen Wahres her und die Grammatik? Wenn ferne Sinne täuschen HörenSagen? Wo unterscheiden Echtes, Altes, Orginales? Bist Du authentisch?
Hilf! Da ist nur sicher, was wir packen, schmecken, riechen können. Das Nahe wird uns wieder näher, die nahen Sinne kriegen Konjunktur. Direkt und gleich. Betasten und beschnuppern.
Reichweiten kontrollieren! Riechen, das ist sich versichern. Das ist Wirklichkeit. Was riecht, das ist nicht digital.
Und glücklich, wer als Hund
in diesen Tagen lebt.

Die Pflege alter Häuser also, das ist Weisheit.
Ist keine Schnörkelei, kein Coloristik. HausDenkmalpflege, das ist
Wesenssuche ist das, tiefes Ausatmen Ein.
Das wird Behutsamkeit statt Denkmalschutz!
Was also a house identified my only, das ist sein Geruch.
Was an einem Hause zu erhalten ist, das ist sein Geruch.
Was nur behutsam zu verändern ist, das ist sein Geruch.
Was nach diesem Vortrag bleiben wird,
das ist ….ein Geruch.

Während der letzten Sätze bewege ich mich zur Tür und verlasse zusammen mit dem jaulenden Hund den Raum.

Der Vortrag wurde auf dem Kolloquium „Der Streit wider die Zeit – Denkmalschutz und Denkmalpflege im Zeitalter der Globalisierung und Anonymisierung“ am 26. 06. 2000 an der Bauhaus Universität Weimar gehalten.
Ich danke Sylvia Michaelis, den Studierenden Melanie Kiese und Johannes Salzwedel sowie Herrn Kümmel mit „Santo vom Wiesengrund“ von der Hundeschule „Passion“ in Weimar.

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