Die Erfurter Erklärung und die Bürgerrechtler (1997) 01 12

Die Erfurter Erklärung und die Bürgerrechtler

Der Aufruf von Intellektuellen, Kirchenleuten und Künstlern in der „Erfurter Erklärung“ ist vor allem ein Appell an das Gemeinwesen, das nur ein gewisses Maß an Widersprüchen verträgt. Vor allem im Besitzstand sind die Unterschiede inzwischen so gross, daß sie nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung durch den Mangel an Kaufkraft behindern, sondern auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft zur Abwertung und Stagnation führen. In Deutschland ist durch die lange Herrschaft von konservativen und neoliberalen Kreisen ein Reformstau entstanden, der offenbar auch neue politische Koalitionen möglich und auch notwendig macht. Das führt die ehemaligen Bürgerrechtler in eine Widerspruchssituation, wie es der Partelübertritt von Vera Lengsfeld deutlich gemacht hat.

Wenn es nur das Interesse von Bürgerrechtlern wäre, für die Einführung rechtsstaatlicher Normen und bürgerlicher Freiheiten zu sorgen, dann wäre mit dem Beschluss der Volkskammer zu freien Wahlen und deren Abschluss im Frühjahr 1990 die Sache der Bürgerbewegung zu Ende gewesen. Viele Wähler haben damals in eben diesem Glauben (es sei nun vollbracht) den Bürgerrechtsaktivisten zwar für ihren Widerstand gedankt, sie aber nicht gewählt. Im vereinigten Deutschland angelangt wurde bald klar, dass auf die freie Wahl nicht unbedingt ausreichend Freiheit und Gerechtigkeit folgt. Freie Meinungsbildung wie auch Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Wohnumfeld sind begrenzt, die alten Ideologen und Diktatoren sind zwar weitgehend entmachtet, doch es sind andere, ebenfalls nicht demokratisch legitimierte Mächte entstanden, wie in der Erfurter Erklärung festgestellt wird. Einige der Bürgerrechtler haben es nicht vermocht, die neuen Gefährdungen der Demokratie und der Menschenwürde zu erkennen, sie sind bei den alten stehen geblieben. Bürgerrechtler heute – das müssen Wahrheitssucher sein, die nicht nur DDR-Unrecht aufarbeiten, sondern sich auch nicht scheuen, die neuen Ungerechtigkeiten und Systemfehler deutllich zu kritisieren.

Bürgerrechtler heute zu sein würde bedeuten, die Sache der Mieter, der Arbeits- und Obdachlosen, der abhängig Beschäftigten und aller anderen, die sich in einer subalternen Lage befinden, zu vertreten. Aus der Erfurter Erklärung spricht etwas von diesem modernen Geist einer zivilen Gesellschaft.
Die Bürgerrechtsbewegung ist nur im Zusammenhang von politischen und sozialen Menschenrechten legitimiert Im Osten hat sich durch die deutsche Einheit das Defizit von den politischen auf die sozialen Aspekte verlagert. Heute ist ein solcher Problemdruck entstanden, dass er nicht durch ein paar Umverteilungen innerhalb der öffentlichen Finanzrecourcen zu beheben wäre. Das Problem liegt tiefer. Es ist berechtigt zu sagen, daß die in diesem Winter erfrorenen Obdachlosen trotz des persönlichen Anteiles an ihrem tragischen Geschick Systemopfer sind und dass dieses Problem nicht mit wärmenden Decken aus der Welt zu schaffen ist. Hier müssen neue Denkweisen einer anderen Sozialpolitik entwickelt werden – zum Beispiel die Idee der Grünen von einer Grundversorgung für alle.

Es geht nicht um die PDS, von der allerdings verlangt werden sollte, das schuldhafte Versagen der SED beim Aufbau einer Solidargesellschaft zu analysieren. Heute ist es notwendig, dass das politische Deutschland endlich die anstehenden Probleme zur Kenntnis nimmt, statt sich in Polemik zu versteifen und Freiheitsparolen zu trällern. Es darf nicht sein, daß die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner den Blick auf die menschlichen Probleme verstellt und daß der Kampf gegen aufgemalte Popanze diejenige Denkkraft verbraucht, die für die Suche nach Alternativen nötig wäre. Der Parteienstreit – so wichtig er in einer Demokratie ist – sollte auf ein Maß und in eine Form gebracht werden, die es erlauben, wieder scharfzüngig zu werden statt Phrasen zu dreschen. Es wäre schlimm, wenn ‚der von der CDU angezettelte Streit um die PDS zu einer politischen Starre führen würde – entweder durch Ausgrenzung oder durch Blockbildung. In der Erfurter Erklärung sind dafür gute Worte gefunden worden.

19.12.1997 (unveröffentlicht)

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