Die Destruktion von Natur und Mensch (1993)

Die Destruktion von Natur und Mensch
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Sein oder Nichtsein“
am Sonntag, dem 20. Juni 1993, in der Orangerie des Schlossparks Belvedere, Weimar

Verehrte Damen und Herren ,
meine wenigen Worte zur Einführung in diese Ausstellung richten sich an einen Kreis von Zuschauern, die schon langjährig für dieses Thema sensibilisiert und motiviert sind. Es ist ja eine Tatsache, dass die Menschheit schon sehr viel Wissen über die Gefährdung unserer Umwelt und über notwendige Maßnahmen zur Umkehr angesammelt hat. Es fehlt nicht an Wissen, es fehlt an Handeln und zwar am Handeln derjenigen, die handeln können, vor allem derjenigen, die die Macht haben zu gesellschaftlichem Handeln. Denn auf der Ebene des konkreten individuellen Tuns wird inzwischen viel getan. In ökologischen Dingen ist die Situation also anders als in beispielsweise medizinischen Fragen. Bei der Krebs- und Aidsforschung fehlen Kenntnisse, aber die Handlungsbereitschaft vieler Leute ist vorhanden. Dort fehlt Wissen, im ökologischen Bereich fehlt vor allem die Tat.

Ich möchte einige Bemerkungen zur Beziehung von Ökologie zu Ökonomie, Kultur zu Persönlichkeit sagen. Weil es sich gerade in der Kulturstadt Weimar geziemt, die ökologische Thematik mit den Aspekten des Kultur- und Geisteslebens zu verbinden.

Die Höhe der Umweltschäden pro Jahr beläuft sich in Deutschland auf etwa 400 Mrd. DM (andere Schätzungen gehen bis zu 600 Mrd. DM, dahinter verbirgt sich die Frage, wie viele Folgeschäden in die Kalkulation eingeflossen sind). Diesen Umweltschäden stehen Ausgaben für den Umweltschutz in Höhe von etwa 40 Mrd. DM gegenüber, d.h., es wird nur ein Zehntel der tatsächlich anfallenden Kosten für den Umweltschutz ausgegeben. Wir schieben also einen Berg von Umweltschulden vor uns her, übergeben ihn von einem Jahr an das nächste und an die nächste Generation. Und ähnliche Disproportionen treten auch anderswo auf. Ich denke an die Gewinne der Industrienationen am Handel mit den Entwicklungsländern im Verhältnis zur Entwicklungshilfe, also zu den Geldern, die als Ausgleich in die Entwicklungsländer wieder zurückfließen. Schlimme Prognosen sagen, dass in den nächsten 30 Jahren ein Viertel aller bestehenden Arten auf der Welt aussterben wird, wenn kein grundsätzlicher Wandel in der Umweltpolitik eintritt. Und die Gründe für dieses Artensterben sind auch bekannt:

Schlechte Lebensbedingungen in den Industrieländern und zugleich Mangelerscheinungen in den Entwicklungsländern, also einerseits der Überfluss und andererseits der Mangel. Eine Ursache für diese ökologischen Probleme ist also die ungleiche Verteilung des Reichtums und dieser Tatbestand verweist auf den engen Zusammenhang von Ökologie und den sozialen Fragen unserer Zivilisation. Die immer größer werdenden ökologischen Probleme, die immer weiter vor uns her geschoben werden, gehen einher mit Geldsorgen des Staates, der Länder und Kommunen. Diese machen immer mehr Schulden. Der Schuldenberg der öffentlichen Hand ist in Deutschland Ende 1992 auf 1,64 Billionen DM angewachsen, d.h. die öffentliche Hand hat jeden Bundesbürger mit 20.000 DM verschuldet (dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass viele Staatsschulden in Sonder- und Nebenhaushalten versteckt wurden). Diese Verbindlichkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden erfordern 370 Mio. DM an Zinsen/Tag. Das sind ungeheure Summen.

Wofür werden diese Schulden benötigt – für Kindergärten oder Fahrradwege? Dafür würde das normale Steueraufkommen ausreichen. Die Schulden werden in Wirklichkeit benötigt zur Ankurbelung einer Überfluss produzierenden Wirtschaft, zur darauf folgenden Beseitigung der Umweltschäden dieser Industrie und zur Rückzahlung der alten Schulden und Zinsen. Es sind also völlig überflüssige Schulden, an denen eigentlich nur die Banken verdienen.

Wir belasten unsere Zukunft zweifach: durch die Müllhalden und durch die Schuldenberge, die wir hinterlassen. In diesem Zusammenhang wird viel über das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie gesprochen. Teilweise wird zwischen beiden ein Gegensatz konstruiert, teilweise wird ein Kompromiss angestrebt. Aber eigentlich sind beide Begriffe zwar verschieden, könnten aber gleichgerichtet sein. Ökologisch handeln ist nichts anderes, als sich aus der Sicht von morgen heute wirtschaftlich verhalten, um damit künftige Generationen nicht durch Müll und Schulden zu belasten. Von diesem Gesichtspunkt ist Ökologie nichts anderes als eine Langzeitökonomie. Ökologisches Denken geht über die Kreditzeitrahmen und die Wahlperioden hinaus.

Zur ökologischen Strategie gehört die Abkehr vom Wachstumsfetischismus. Ungehemmtes Wirtschaftswachstum steht im Widerspruch zur Endlichkeit des ökologischen Systems. Der Club of Rom hat schon vor Jahrzehnten auf die Folgen dieses Wirtschaftswachstums hingewiesen, nämlich die ökologische Ausplünderung der Erde mit all den uns inzwischen bekannten Problemen, wie Energiekrise, Klimakatastrophe usw. Bedenklich ist, dass Erkenntnisfortschritte, die tatsächlich den Menschen zugute gekommen sind und z.B. zur Erhöhung des Lebensalters beigetragen haben, durch eine Sinnentleerung des Lebens, durch Beziehungsarmut der Menschen und soziale Kälte getilgt worden sind. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahrzehnten zwar eine Erhöhung des Lebensstandards, aber keine Verbesserung der Lebensqualität eingetreten ist.

Aus den kritischen Bemerkungen zum Wirtschaftswachstum ist aber nicht zu entnehmen, dass eine wirtschaftliche Rezession, wie wir sie für 1993 mit einem Minuswachstum von 1% erwarten, positiv zu bewerten wäre. Die Rezession verläuft nämlich genauso undifferenziert und ökologisch planlos wie vorher die Hochkonjunktur. Es geht also nicht nur darum, die Grenzen des Wachstums zu erkennen, sondern vor allem auch darum, den verbliebenen Spielraum ökologisch zu nutzen. Es geht nicht ohne straffe ökologische Steuerung des Marktes. Es ist jedenfalls sinnlos, die industrielle Zerstörung der Natur mit einer politischen Zerstörung der Industrie zu beantworten, wie sie im Einigungsvertrag für den Osten angelegt war.

Die von der Industrie vorgeschlagenen technischen Lösungen ökologischer Probleme sind entweder nur partiell tauglich und verschieben die Problemzonen, wie beim Einbau besserer Filter oder Katalysatoren oder es sind überhaupt Pseudolösungen, wie das duale System, das die Verpackungsflut nicht eindämmt und tatsächlich ein großer Etikettenschwindel zur Rettung der Wegwerfgesellschaft ist. Die meisten ökologischen Lösungsansätze sind nicht technischer, sondern komplexer gesellschaftlicher Art, z.B. verbergen sich hinter der Entwicklung des öffentlichen Personenverkehrs Fragen nach der Überwindung des Zwanges zur Mobilität durch eine neue Raumordungsplanung usw. Wir kommen nicht umhin, immer mehr Aspekte unserer Zivilisation tiefgründig zu problematisieren. Wir brauchen neue Prioritäten, eine neue Art zu leben, eine neue Kultur. Das hört sich für uns Bewohner der neuen Bundesländer vielleicht seltsam an, haben wir nicht gerade eine neue Gesellschaft übernommen? Aber wir mussten sehr schnell feststellen, dass wir von einem veränderungsbedürftigen Zustand in einen neuen, ebenso veränderungsbedürftigen Zustand übergegangen sind. Es war uns nicht gelungen, die DDR zu verändern, nun müssen wir die Bundesrepublik verändern. Aber diese Veränderungen aus ökologischer Sicht bedeuten nicht Verzicht, nicht Askese, sondern das Gegenteil: einen neuen Genuss, einen Zugewinn an Lebendigkeit und Natürlichkeit.

Der an einem falschen Verhältnis zur Natur erkrankten Gesellschaft entspricht ein defektes Individuum. Der zu dieser Zivilisation gehörende Mensch kann alleine gar nicht mehr durch die Welt laufen, er stützt sich rechts auf einen Psychiater und links auf einen Rechtsanwalt. Der eine ist für das Ideelle da, der andere für das Materielle. Der eine bemüht sich um die Wahrung der Identität, der andere um die Mehrung des Besitzstandes. Eine intakte Gesellschaft würde sicherlich mit 20 % der heute praktizierenden Psychiater und Rechtsanwälte auskommen. Daran gemessen sind die meisten nur versteckte Arbeitslose.

Die Ellenbogengesellschaft erzeugt einen überzogenen Egoismus, der den Konkurrenzdruck aushält und einen hohlen Individualismus, der dem Glitzernden verfällt. Erich Fromm hatte von der ungeheuren Anpassung des Individuums gesprochen, „um unter allen Bedingungen des Persönlichkeitsmarktes begehrenswert zu sein“. Er beschreibt den Marketing-Charakter dieser Pseudopersönlichkeit: „Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben“. Die Leute züchten ihr Ego, verlieren aber ihre Persönlichkeit. Das gehört zu einer Gesellschaft, die, wie es Oscar Wilde ausdrückte, „von alles den Preis und von nichts den Wert“ kennt.

Die in aller Kürze umrissenen Zusammenhänge von Ökologie, Ökonomie, Kultur und Persönlichkeit gründen sich auf ganzheitliches Denken und jeder der einzelnen Begriffe kann zum Ausgangspunkt einer Revision unserer Zivilisation verwand werden. Wir haben den ökologischen gewählt. Er sollte die Dimension von Lebensweise und Kultur erhalten. Gerade Weimar könnte ein Exempel für die existentielle Nähe von Natur und Kultur sein. Der Anspruch zur Kulturstadt sollte mit einer fundamentalen ökologischen Komponente zu einer Weimar typischen Einheit verbunden werden. Ein tief greifender Wandel ist auf diesem Wege notwendig, um die im Titel stehende Frage „Sein oder Nichtsein“ positiv zu beantworten.

Leider wird die Hoffnung wohl unberechtigt sein, auf die Errettung durch außerirdische Wesen zu spekulieren, wie es uns Günter Lerz mit seiner Installation „Ufos über Weimar“ vorgemacht hat. Diese Arbeit war im Rahmen des Kunstprojektes „Kabale und Liebe“ hier oben in den Räumen der Orangerie zu sehen. Falls uns die interstellaren Objekte nicht retten sollten, so müssen wir das Zepter doch selbst in die Hand nehmen und zukunftsorientiert handeln.

Ich wünsche uns allen viel Freude beim Nachvollziehen der Logik dieser Ausstellung und beim Betrachten der trefflichen Fotos.

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