Olaf Weber/Gerd Zimmermann
Analysen zur Stadtgestalt Weimars
Weimar – das Bild
Die Stadt ist das Bild von der Stadt – jedenfalls für die Touristen, die sich die fremde Umgebung durch diejenigen Eindrücke erschließen, die ihnen die Stadt vermittelt. Eine Touristenstadt wie Weimar sollte den touristischen Interessen einen wichtigen Platz in ihrer Planung einräumen und diese Planung auf sorgfältige Analysen stützen. Die Verfasser haben vor Jahren eine umfassende Untersuchung zu diesem Thema vorgenommen, die sich teilweise auf Befragungsergebnisse von Einwohnern und Touristen stützte. Der zeitüberdauernde Extrakt dieser Resultate wird nachfolgend im Lichte der neuen kommunalpolitischen Fragestellungen diskutiert.
Tourismus und Stadtkultur
Der Massentourismus ist eine moderne Form der Aneignung internationaler Kultur. Es ist anzunehmen,
dass er in Weimar an Umfang und Intensität noch zunehmen wird, obwohl international die touristische Mobilität schon an quantitative Grenzen gestoßen ist. Der Massentourismus läßt nicht nur die Verkehrs- und ökologischen Probleme ansteigen, sondern er führt auch dazu, daß der Gegenstand der Betrachtung und der Bewunderung zunehmend eben dieser geistigen Aneignung versperrt wird, im schlimmsten Fall wird das Denkmal durch die Akte seiner Verehrung sogar physisch beschädigt oder zerstört. Der „sanfte“ Tourismus ist ein Wunschbild, das immerhin die Aufforderung enthält, die Widersprüche zwischen dem Wirtschaftfaktor „Tourismus“ einerseits und dem Kulturanspruch der Stadt, sowie den vitalen Interessen der Einwohner zum Ausgleich zu bringen.
Ein Denkmal ist natürlich nur dann ein denkwürdiger Gegenstand, wenn er geistig konsumierbar ist.
Weimar ist vor allem von historischem und ästhetischem Wert, d.h. die Vermittlung der Kulturgeschichte, der baulichen Schönheit und landschaftlichen Anmut stehen im Zentrum einer dem Tourismus verpflichteten Planung. Damit sich die Gestalt und die kulturgeschichtliche Bedeutung der Stadt bei Touristen geistig vervielfältigen können, muß der touristische Gebrauch räumlich in Szene gesetzt werden. Dazu gehört, dass dem Touristen wichtige Informationen und Anregungen vermittelt und zugleich Neugier und Aufnahmebereitschaft geweckt werden. Die Stadt tritt dem Besucher in einem bewußten Selbstdarstellungs- und Orientierungsbemühen entgegen. Die Begegnung des ortsunkundigen Fremden mit der Stadt sollte als vergnüglicher Lernprozeß begriffen werden. Er beginnt mit der Ankunft in der Stadt, vertieft sich (allerdings nur bei positivem Erleben) im Milieu der Pensionen und Hotels, wird durch die Standardroute der Stadtführung (Weimarer Klassik in zwei Stunden) räumlich auf das Weimar-Image ausgerichtet und gewinnt Komplexität in den vielfachen individuellen Möglichkeiten der Begegnung mit Weimar.
Die Unterwerfung unter das Ritual des Massentourismus zieht die Simplifizierung, das Klischee nach sich. Das Bild der Stadt wird zu wenigen eingängigen Ausschnitten verengte die einfach wahrzunehmen und zu reproduzieren sind. Sie entsprechen den stereotypen Touristenmanien, z..B. das Fotografieren immer derselben Fotomotive oder der Kauf verkitschter Souvenirs. Der Mythos der Klassikerstadt verstärkt diesen Trend des Massentourismus zur Konsumtion eindimensionaler Symbole. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe, einer der kulturellen Tradition verpflichteten Stadtgestaltung, den Tourismus aus der deformierenden Enge des Klischees herauszuführen. Die Aufhebung des Schemas in einem lebendigen Erinnerungsbild von Weimar erfordert von der Planung die räumliche Erschließung weiter, auch abseits der Touristenrouten liegender stadtprägender Bereiche, die Ausweitung des Blickes auf noch Unentdecktes, die Vertiefung des Interpretationsrahmens, architektonischer Formen und Merkmale, die Erschließung tieferer Bedeutungsschichten die Individualisierung der Wahrnehmung u.a. Dabei sollte natürlich berücksichtigt werden, dass sich die Wahrnehmungsgewohnheiten infolge der elektronischen Medien und auch andere Verhaltensweisen der Touristen in den letzten Jahrzehnten
verändert haben. Immer sollten touristische Planungskonzepte aber davon handeln, dem Besucher etwas mehr an Einsichten in die Geschichte, die Kultur und das Leben der Stadt zu vermitteln, als er es selbst erwartet hatte.
Die Maßnahmen zur touristischen Nutzung verändern in gewissem Umfange dasjenige, was ihr Gegenstand ist – die Stadt und ihr Bild. Hotels und Pensionen, Gaststätten und Museen werden gebraucht und stören zugleich den Gebrauch. Dieser Widerspruch ist nur aufzulösen, wenn alle stadtgestalterischen Maßnahmen darauf zielen, das Wesen der Stadt, ihren Charakter und ihre Typik zu erhalten und zu stärken. Die Stadt ist kein Museum, sie sollte nicht in einem ihrer historisch möglichen Zustände konserviert werden, sie sollte hingegen als lebendiger Organismus immer wieder neu auf die Herausforderungen der Zeit reagieren, doch dabei ihren Traditionslinien folgen. Stadtgestaltung kann.nur aus dem Geist des Ortes erwachsen und ihn immer wieder neu bestätigen.
Weimar als Begriff
Die Suche nach der hinter allen Formen verborgenen Grundkonstante dieser Stadt, nach der Idee von Weimar oder nach den objektiven Voraussetzungen ihrer Einmaligkeit ist eine immerwährende Aufgabe und ihre zutage geförderten Momente sind die Ausgangspunkte der Stadtgestaltung. Dieser Stadt ist es in der Vergangenheit immer wieder gelungen aus dem Reiz ihrer Architektur und Landschaft und eher bescheidenen materiellen Fonds eine anregende Atmosphäre zu bilden, die schöpferische Kräfte aus ganz Europa in ihre Mauern gezogen hat. Weimar ist wie kaum eine andere Stadt aufgeladen mit der Bedeutung von Persönlichkeiten und Ereignissen, mit Kultur- und Geistesströmungen, die sich seit dem Mittelalter immer wieder auf eigentümliche Weise mit dieser Stadt verbunden haben. Neben den Klassikern der deutschen Literatur, Herder, Wieland, Goethe und Schiller waren es vor allem Musiker wie J.S.Bach, Liszt, Richard Strauß und Wagner, Maler wie Lukas Cranach, die Weimarer Malerschule des 19. Jahrhunderts, Klee, Kandinsky und das Bauhaus, Nietzsche, Steiner usw., die der Stadt Weltbedeutung verschafften. In ihren Mauern wurden; zum ersten Mal in der deutschen Geschichte die bürgerlichen Freiheiten zum Verfassungsrecht deklariert, und kurz darauf im nahen Buchenwald mit Füßen getreten. Weimar ist voller Geschichte. Diese Stadt hat es vermocht, die Weltbedeutung seiner zugereisten Mitbürger in immer neue Anziehungskraft zu verwandeln und seinem Nymbus anzulagern.
Heute lebt Weimar von seinem Ruf, der in Gefahr geraten ist, zu verstauben. Das Image von Weimar, also das mediengesteuerte, auf Hörensagen und weniger auf eigenes intensives Erleben gegründete und begrifflich verdichtete Bild, enthält eine dominierende Komponente: die Klassik. In einer Umfrage überragte die Formel „Stadt der Klassik“ mit weitem Abstand alle anderen Begriffe. Der andere, viel stärker die gegenwärtige kulturelle Potenz der Stadt ausdrückende Begriff „Kulturstadt“ wurde dreifach weniger gebraucht. Dabei ist bemerkenswert, daß Einwohner noch stärker als Fremde ihre Stadt der „Klassik“ und noch weniger der „Kultur“ zuordnen. Ihr historisches Bild ist noch stärker zum Stereotyp hin verengt als das der Touristen.
Zudem ist wohl ihr Wissen vom Zustand der Kultur, besonders der materiellen Kultur, genauer. Das nachklassische Weimar existiert eigentlich nicht, obwohl schöpferische Geister (wie Liszt im Neu-Weimar-Verein) immer wieder versuchten, nicht die Klassik, sondern die dahinter verborgene künstlerische Kreativität zum Markenzeichen der Stadt zu erheben.
Der Klassikernymbus dominiert so stark, dass auch solche Charakterisierungen wie „Musikstadt“ (die Hochschule für Musik und die Staatskapelle haben immerhin auch heute überregionale Bedeutung) oder „Touristenstadt“ weit abfallen. Den Tourismus empfinden erstaunlich viele Touristen als störend –
offensichtlich befinden sie sich in bezug auf die Betrachtungsobjekte und Beherbergungsstätten untereinander im Verhältnis der Konkurrenz. Für Einwohner hingegen bilden die Touristen kein ausgesprochenes Problem, sie gehören zum Stadtbild.
Weimar zehrt von seinem guten Ruf, das zeigt auch die tendenziell schlechtere Beurteilung der Stadt nach längerer Verweildauer. Vorallem der Zustand der Straßen und Gebäude wird nach näherem Kennenlernen negativer bewertet (muffiger, schmutziger, verschlossener). Sie wirkt dann auch weniger lebhaft, doch enger und gedrängter. Das Weimar-Bild von Stadtfremden ist aufgelockerter, weiträumiger. Offensichtlich hatte sich die Bedeutsamkeit der Stadt im Vorstellungsbild zu räumlicher Größe verwandelt. Nach intensivem Kontakt verdichten die gewonnenen Eindrücke das Stadtbild wieder zu ursprünglicher Kleinheit. In diesem Wechsel spiegelt sich das dualistische Wesen Weimars zwischen seiner welthistorischen Größe und provinziellen Enge.
Der gestimmte Raum
Wesentliche Momente des Charakters einer Stadt kommen in Begriffen zum Ausdruck, die sich gut auf sinnlich erfahrbare Eigenschaften beziehen. In dem Polaritätenprofil sind antonyme Eigenschaftswörter (z.B. aufgelockert – dicht) gegensätzlich angeordnet, so dass es möglich ist, ein Beurteilungsobjekt innerhalb der Skala zu charakterisieren. Die Begriffspaare sind zu drei Gruppen geordnet, die unterschiedliche Typen von Eigenschaften enthalten – zur formalen Struktur, zur stimulierenden Wirkung sowie zum emotionalen Gehalt.
Betrachten wir das Gesamturteil zur formalen Struktur, so stellt sich heraus, dass diese sehr wenig Extreme enthalten. Weimar erscheint als aufgelockert und dicht gleichermaßen, ist gedrängt und weiträumig. Weimar ist übersichtlich, aber zugleich auch verwirrend. Seine Struktur ist kein simples Schema, sie hält die Erwartung, Neues zu entdecken, aufrecht. Das Verwirrende bietet den Reiz des Unvorhergesehenen, des Überraschenden und Geheimnisvollen und damit ein wichtiges Moment des Ästhetischen und Poetischen. Insgesamt ist hier offensichtlich ein gutes Verhältnis zwischen diesen Polen der visuellen Ordnung und Unordnung vorhanden, sehen wir von den Desorientierungen ab, die weiter hinten besprochen werden. Die Urteile zur formalen Struktur sind weitgehend positiv. Sie favorisieren entweder den positiven Pol des Widerspruchspaares (wie bei farbig – grau), oder aber sie heben die Dialektik zweier sich ergänzender Eigenschaften hervor (wie bei aufgelockert – dicht oder bei übersichtlich verwirrend).
Diejenigen Eindrucksurteile, die Aufmerksamkeit und Anregung (Stimulation) betreffen, sind sehr viel stärker polarisiert als die Urteile zur formalen Struktur. Weimar ist in den Urteilen sehr abwechslungsreich und vielfältig, aber trotz der darin zum Ausdruck kommenden Innovationsmenge wird das Überaschende nicht als fremdartig empfunden. Es ist nicht nur den Einwohnern, sondern auch den Fremden, vertraut. Offensichtlich wird das allgemeine Prinzip (die Formensprache) von allen verstanden, so dass auf dieser allgemeinen Verständigungsbasis die Momente der Vielfalt, der Abwechslung und Überraschung positiv empfunden werden. Das Maß der Abweichung von dem visuell Gewohnten scheint sowohl dem Bedürfnis nach Bestätigung des Vertrauten als auch dem Bedürfnis nach Abwechslung entgegenzukommen. Jedenfalls verweisen stark ausgeprägte Urteile wie eindrucksvoll und anziehend auf eine positive Stimulationswirkung; die architektonischen Impulse werden nicht als aufdringlich, sondern eher als zurückhaltend eingeschätzt.
Die Anregungen, die von der Stadt ausgehen, treffen also auf gleichgeartete Bedürfnisse. Es stellt sich die Frage, welche inhaltliche Ausrichtung diese Anregung hat, welche Emotionen und
Wertvorstellungen werden erzeugt? Hinsichtlich seiner „Temperamente“ wird Weimar mehr lebhaft als ruhig, mehr sachlich als verspielt und zu gleichen Teilen wuchtig und zart empfunden, sein „Gemüt“ ist heiter und luftig. Sein äußerer Eindruck ist relativ gepflegt, aber nicht so sehr sauber.
In bezug auf den gestalterischen Aufwand ist Weimar reichhaltig, aber weder luxuriös noch armselig, weder nüchtern noch überladen, es werden hierbei die positiven Ausdrücke bevorzugt. Weimar ist nicht verschlossen, es wirkt zugänglich. Der deutlichste Zeigerausschlag ist im Verhältnis von „schön“ und „häßlich“ feststellbar. Der globale ästhetische Eindruck, in dem alle Eindrucksurteile auf eigentümliche Weise verschmolzen sind, ist der positivste. Das zeigt, dass die besondere Wirkungsqualität Weimars nicht in irgendwelchen emotionalen Teilbereichen, sondern in der sinnlichen Aneignung des widersprüchlichen Stadtganzen liegt. Die einzelnen Bereiche der Innenstadt unterscheiden sich in ihrem Ausdruck allerdings beträchtlich. Wir haben deshalb mit Hilfe eines Zuordnungstestes, bei dem Personen vorgegebene Eigenschaftswörter auswählen und in einem Stadtplan plazieren sollten, nach der räumlichen Verteilung der Ausdruckswerte gesucht. In Abb. 5 sind die am häufigsten genannten Eigenschaften in den betreffenden Bereichen eingetragen. Es zeigt sich dabei zum Beispiel, dass die einzigen urbanen Bereiche Weimars der Theaterplatz und die Schillerstraße sind („belebt“ und „schön“), dass das Goethehaus (im Gegensatz zum Schillerhaus) seine Straße eindimensional beherrscht („museal“) oder dass sich solchen verkommenen Bereichen wie der Schloßgasse in Begriffen wie „gemütlich“ und „poesievoll“ auch Perspektiven eröffnen. Solche Problembereiche mit Negativimage oder widersprüchlicher Bedeutung wie die Leninstraße (Sophienstraße), der Karl-Marx-Platz und die Liebknechtstraße oder vernachlässigte Bereiche wie Teichplatz, Rollplatz oder Zeughof können nicht nur durch Rekonstruktionsmaßnahmen verbessert werden. Sie brauchen die funktionelle, verkehrsplanerische und gestalterische Umorientierung im Interesse der Bewahrung gesamtstädtischer Traditionslinien.
Diese Untersuchung zum Charakter einzelner Stadtvirtel verfolgte aber keineswegs das Ziel, Maßnahmen zu treffen, um den unterschiedlichen Ausdruck der Stadtteile zu vereinheitlichen. Im Gegenteil: Diese Unterschiede verhelfen der Stadt zu Gliederung, Orientierung und Vielfalt, sie erhöhen ihre Urbanität. Sie sind ein Ausdruck dafür, dass sich einzelne Seiten des Widersprüchlichen Ganzen „Stadt“ lokalisiert haben. Kompositionelle Überlegungen sollten sich nicht nur auf die Baumassenverteilung beziehen, sie sollten auch das Ziel verfolgen, die ideellen Gehalte und emotionalen Werte räumlich zu arrangieren.
Stadt und Landschaft, Szenarium der Ankünfte
Die erste Begegnung mit der Stadt kann, wie auch sonst im Leben, die wichtigste sein. Die Stadtgestaltung muß daher die Orte der Ankunft in der Stadt mit besonderer Sorgfalt bedenken. Wie präsentiert sich die Stadt dem Fremden dort, wo er sie zuerst erblickt? Wie wird der Ankömmling eingestimmt in die Stadt, die er besucht?
Wer aus der Landschaft kommend sich mit dem Auto, dem Rad oderzu Fuß Weimar nähert, hat zwei Möglichkeiten der Begegnung. Entweder erlebt er die Ankunft in der Stadt als eine schrittweise, harmonische Durchdringung von Natur- und Stadtlandschaft. Diese Form der Beziehung von Stadt und Landschaft dominiert im Süden Weimars, vornehmlich bei der Ankunft von Belvedere, aus Richtung Mellingen, d.h. besonders, wenn man der Ilmaue folgt, die über den Goethepark tief in das Stadtgefüge hineinragt. Auch die Ankünfte von Jena, Tiefurt und Gelmeroda vermitteln den gleitenden Übergang von Wald und Feld zur dicht bebauten Stadt. Diese Wege können auch umgekehrt gedacht werden, als zwar bruchloses, doch auch klar abgestuftes Verlassen der Stadt und Einwandern in die Landschaft.
Was Weimars Süden somit verkörpert, ist die vorindustrielle Einheit von Natur und materieller Kultur. Es ist das Bild einer fast noch intakten Naturlandschaft, in die Gebautes eingebettet ist, wo Landschaft aber nicht okkupiert ist. Weimar hat sich bis ins 19. Jh. hinein im Geiste eines tiefen Naturverständnisses aus dem Landschaftsraum und innerhalb eines intakten Siedlungsgefüges entwickelt.
Dieses Weimar-Bild zeigt sich noch dem von der Autobahn heranreisenden internationalen Touristen: Aus Landschaft und Dorf führt die Straße hinab zur Stadt, durch stark durchgrünte, „gut-bürgerliche“ Villenviertel bis heran an den Goethepark, dann mit der „Torsituation“ am Liszthaus der Eintritt in die enge Innenstadt, darauf eine klassizistisch geprägte Straße, in deren Blickachse ein Haus des Jugendstils.
Die industriellen Störfälle, hier am südlichen Stadtrand sind sie noch punktuell: erstens das wuchernde Firmengelände des Elektrowerks Oberweimar, mit dem die Landschaftseinheit vom Goethepark zum Park von Belvedere empfindlich beeinträchtigt ist und zweitens der industrielle Stall am Ortsausgang nach Gelmeroda, der nicht nur ein ökologisches Monster ist, sondern auch einen landschaftlich reizvollen Ort vor der Stadt verbaut hat.
Die Stadtzugänge von Norden und Westen (Ettersburger Straße, Straße von Schöndorf, Erfurter Straße) geben das Gegenbild des südlichen Stadtrandes, denn zwischen Landschaft und Stadt legt sich unvermittelt der Sperrgürtel aus Industrie- und Bahnanlagen. Hier präsentiert Weimar das Negativimage der industriellen Stadt des 19.Jh. (Rauch und Staub der Schornsteine, Grau der Bauwerke, Lärm der Mechanik, Schweiß der Arbeit). Diese Industriebetriebe sind vor allem chaotisch und sie sind zu groß. Sie widersprechen den Maßstäben der Stadt. Es ist deshalb neu zu bedenken, welche Produktionen dem Entwicklungsbild Weimars gemäß sind und wie sie planerisch mit dem Stadt- und Landschaftsgefüge in Einklang gebracht werden können.
Die Grundlinie sollte eine Schrumpfung des Industrievolumens sein. Es ist zu vermuten dass größere Industrien dem idealen Bedeutungskern des Weimar-Bildes nicht eingefügt werden können.
Die Begegnung von Stadt und Landschaft hat ihre eigene Geschichte. War der Naturraum ursprünglich Wildnis, also ein unkontrollierter, mithin feindseliger Raum und war die lebendige Natur dann im Barock von der geometrischen Ratio gewaltsam reglementiert, so suchte das klassische Zeitalter die Harmonie zwischen Ratio und Natur. Eine ihrer konsequenten Formulierungen war der englische Landschaftspark. Die in ihm erprobte Synthese von Vernunftskalkül und Naturwüchsigkeit spiegelt den Geist der Aufklärung und hat Weimar mit geprägt. Wir lesen das ab, nicht nur an den Parks an der Ilm, in Tiefurt, in Belvedere und auch Ettersburg, sondern überhaupt an der Weise, wie die Stadt in die Landschaft eingebettet ist, wie Architektur und Natur aufeinander reagieren.
Weimars Nähe zur klassischen Ideallandschaft hat besonders heute, angesichts der industriellen und ökologischen Krise, den Wert einer retrospektiven Utopie. Diese Gestalt von Stadt und Landschaft soll, da sie eine Vision wachhält, bewahrt bleiben. Wo sie erlebbar ist, vornehmlich entlang der Ilmaue, ist Weimar am schönsten. Diese Zonen sollen unbedingt vor einer Ausuferung der Stadt und vor zersiedelnden Gewerbegebieten geschützt werden. Perspektivisch wäre die Anstrengung lohnend, die Stadtränder im Sinne des klassizistischen Weimar zu rekultivieren und die Stadtgrenzen an den Wegstrecken der Annährung baulich neu zu definieren. Das Einfügen der Natur in die Stadtlandschaft ist in Weimar großartig gelungen, obwohl Katastrophen wie die spätere Überbauung des Asbachtales mit dem Gauforum dieses Harmonieverhältnis drastisch stören.
Fremden werden die Parks nur mangelhaft angeboten. Sie empfinden Weimar erst nach längerem Aufenthalt als eine Stadt das Grüns. So sollte die Anbindung der grünen Kultur Weimars an die Touristenrouten unbedingt verbessert werden (z.B. an der Puschkinstraße).
Ein Charakteristikum Weimars ist die Verstecktheit der Stadt in der Landschaft. In der Ferne taucht die Stadt kaum auf. Die Tallage der Stadt und die eigentümliche Topografie ihrer Zugänge öffnen zwar Durchblicke, geben jedoch kein Panorama der Stadt frei. Wo sich am hohen Ilmufer ein solcher Blick ergeben könnte, z.B. vom Goethe-Schiller-Archiv, behindert das Bauwerk die freie Sicht für den Ankömmling.
Ohne die Chance einer schnellen Übersicht und Orientierung am Stadtganzen hat die Ankunft in Weimar den Charakter des Eintauchens. Die Stadt nimmt ihren Besucher unmerklich auf. Darin liegt wohl auch ein Moment der Mystifikation und der Überraschung, dann plötzlich in der Stadt zu sein.
Vom Bahnhof in die Innenstadt: Stadtgeschichte als Weg
Wie ist die Folge der Wahrnehmungen des mit der Bahn eintreffenden Touristen auf seinem Weg „in die Stadt“ strukturiert?
Welchen Weg weist ihm der Stadtraum vermöge des Aufforderungscharakters der urbanen Umwelt im Prozeß der Raumorientierung, welche Inhalte werden dabei vermittelt?
Abb. 7 zeigt den Standardweg (zugleich auch der kürzeste Weg) des Weimar-Besuchers vom Bahnhof in die Innenstadt – so, wie ihn auch Touristen in einer Befragung beschrieben.
In der Touristenstadt Weimar ist dieser Weg nicht einer unter anderen, sondern die wichtigste Raumfolge, nicht nur weil sie ein Auftakt zur Stadt ist und enorm frequentiert, sondern weil sie – wie eine aufmerksame Analyse erweist – ein (Stadt-) Bild gewordener Rückweg durch die Geschichte ist.
Wer diesen Weg geht, vollzieht gleichsam das Zurückspulen der urbanen Wachstumsgeschichte der Stadt, beginnend mit dem Bahnhof, also einem symbolischen Ort des Industriezeitalters und endend im Stadtkern des Mittelalters – ein Zeittunnel, in dem sich die Chronologie der Ereignisse mit dem Rhythmus des Raumes verzahnt. Dieses Abschreiten der Historie sollte das eigentliche Erlebnis sein , selbst wenn man der Figur des Touristen nur eine oberflächliche Art der Wahrnehmung zugestehen will.
Der tatsächlich gewählte Weg in die Stadt ist zunächst direkt, dann aber in gewissem Sinne ein Umweg. Er fährt, und das ist ein für Weimar charakteristisches Erlebnismoment, nicht unmittelbar zum mittelalterlichen Stadtkern, sondern durchläuft zunächst jene Stadträume, die von der Weimarer Klassik geprägt wurden: Liebknechtstraße, Goetheplatz, Theaterplatz, Schillerstraße, Frauenplan. Wichtige museale Stätten des klassischen Weimar werden hier bereits tangiert.
Erst nach dem Gang durch diese Raumfolge wird die im Bogen umlaufene mittelalterliche Kernstadt mit dem Herderplatz als Mitte über den Markt von Süden erschlossen. Entstehungsgeschichtlich gründet mithin der dominante Weimarer Erlebnisweg in den Stadterweiterungen des Klassizismus, rezeptionsgeschichtlich in der überschwenglichen Idealisierung des klassischen Weimar, die u.a. den Touristenstrom organisierte, der dann das derart verräumlichte Weimarbild auf dem Wege der Verinnerlichung rückwirkend wiederum bekräftigte.
Für die Bildungsfaktoren dieses Erlebniswegs zu bedenken wäre auch eine Besichtigungsökonomie derart, dass die klassischen Stätten auf dem kürzesten Weg „mitgenommen“ werden können, vermittelt über städtebauliche Räume, die den Museen historisch entsprechen. Dass auch die Kommerzialisierung im 19.Jh., dem Vermarktungsmechanismus folgend gerade die Touristenwege zu Hauptgeschäftsstraßen umprägte und so den Weg der Touristen in jedem Aspekt der Konsumtion stabilisierte, erscheint nachgerade selbstverständlich.
Der Weg vom Bahnhof gibt ein Bild geschichtlicher Kontinuität, in dem die Klassik und die Aufklärung sich zwischen Mittelalter und Neuzeit eigenständig und vermittelnd etablieren. Der Tourist kann den Gang der Geschichte in der Harmonie des Raumes erfahren – im sukzessiven Durchschreiten der Stadträume, in der Verdichtung des Raumes zum Zentrum hin, in der schrittweisen Verkleinerung des architektonischen Maßstabs.
Ein Ort nur bricht dieses Gesetz: der Koloß des ehemaligen Gauforums. Als Zeugnis einer selbstherrlichen und usurpatorischen Macht ist das Forum zugleich der größte Einbruch in die räumliche Harmonie der Stadt.
Als Monument gehört das Nazi-Forum zur Geschichte der Stadt Weimar. Die Herrschaftsattitüde, die es städtebaulich zur Schau trägt, soll ihm jedoch ohne jeden Versuch einer nachträglichen Geschichtsklitterung genommen werden. Ein wichtiger, vielleicht der entscheidende planerische Gegenpol wird zweifellos das wiederaufgebaute Landesmuseum sein, ein Ort der Öffentlichkeit und Kultur also.
Auch verbietet es sich unseres Erachtens, das barbarische Pathos der Nazi-Architektur heute der Repräsentanz des Staates dienstbar zu machen, der demokratisch sein will.
Eine urbane Achse, wie sie sich in Weimar zwischen Bahnhof und Schillerstraße etabliert hat, begünstigt die Raumorientierung und weist dem Ankömmling die Stadtmitte. Indem sie aber die Bewegung einseitig kanalisiert und die Aufmerksamkeit hochgradig bindet, gefährdet die ausschließliche Fixierung auf diese Achse die notwendige Ganzheitlichkeit der Stadtaneignung. Weimars mittelalterlicher Kern z.B. bleibt weitgehend abseits des linearen Aneignungsschemas und ist, im Bewußtsein der Touristen, aber auch der Bewohner stark ausge- blendet. Ähnliches gilt etwa für die großartigen Bauten von Henry van de Velde in Weimar.
Es ist deshalb Aufgabe der Stadtplanung und -gestaltung, durch veränderte Appelle zum Gebrauch des Stadtraumes dem Touristenstrom Wegalternativen zu öffnen und Interesse für die Erkundung hochinteressanter, aber vergessener Stadtareale zu wecken. Das Prinzip der alternativen Wege jedenfalls ist im Raumgefüge Weimars vorgeformt.
Stadtgestalt und Raumvorstellung
Das geistige Abbild einer Stadt vereinigt in sich verschiedenste Formen: konkrete optische Bilder ebenso wie Eindrücke und Begriffe. Für das praktische Agieren und Orientieren der Menschen in der Stadt besonders wichtig aber ist eine ausgeprägte Raumvorstellung. Sie beruht wesentlich auf einem im Gedächtnis der Bewohner eingeprägten räumlichen Vorstellungsbild der Stadt, in dem Straßen, Plätze, Gebäude und deren Lage zueinander „verzeichnet“ sind (sogenannte „kognitive Karten“). Wir haben dieses, dem Bewußtsein der Weimarer, variantenreich eingeschriebene Bild der Stadt in einer speziellen Untersuchung erkundet.
Elemente und Strukturen der Stadt, an die sich besonders viele Bewohner erinnerten, die also Vorstellungen von hoher intersubjektiver Konstanz ausbilden, können als besonders einprägsam und stadtbildprägend gelten. (Abb.8)
Als mit Abstand einprägsamste Einzelgebäude der Stadt erweisen sich erwartungsgemäß das Schillerhaus und das Goethehaus. Das bestätigt auch das Ergebnis einer verbalen Umfrage. Ähnlich fest verankerte Vorstellungselemente sind das Rathaus, die Ruine des Landesmuseums, Goethes Gartenhaus, die Herderkirche, das Hotel Elephant, die Landesbibliothek, die Weimarhalle und der Marstall (in der Vorlage für die Planskizzen schon eingezeichnet waren Bahnhof, Post, Theater, Schloß und Liszthaus).
Die am sichersten im Bewohnerbewußtsein verankerten Plätze der Stadt sind der Markt und der Goetheplatz, ersterer als Verteiler zu Kaufstraßen und Sehenswürdigkeiten und selbst eine Sehenswürdigkeit, letzterer als Umschlagplatz des Verkehrs in zentraler Lage, aber selbst weniger attraktiv.
Touristen z.B. haben im Unterschied zu Einwohnern laut Umfrage, wenn sie an Weimar denken, zwar Goethe im Sinn, nicht aber den nach ihm benannten Platz vor Augen. Der natürliche Hauptträger der Raumvorstellung ist das Straßennetz: – Dominierend ist die Raumfolge vom Bahnhof über die Liebknechtstraße und den Goetheplatz zur Heinestraße. Sie bildet mit dem anschließenden Straßenzug (Steubenstraße, Marienstraße) eine „Nord-Süd-Achse“ mit Abzweigungen (Graben, Schwanseestraße) als das den Bewohnern geläufige Grundmuster der Stadtvorstellung. Der „Graben“ und die Folge „Wielandstraße – Schillerstraße“ formieren sich zu einem vom Goetheplatz ausgehenden gabelförmigen Erschließungssystem der Altstadt, wobei dem Goetheplatz die eminent wichtige Funktion einer Umsteigestation von der „Nord-Süd-Achse“ zur engeren Innenstadt zugewiesen wird.
– Dem Fluß das Fahrverkehrs folgend, bedingt zum Teil durch die Umrundung der Fußgängerzone, entsteht die Vorstellung eines Innenstadtringes mit Graben, Marstallstraße, Schloß, Ackerwand und Teilen der „Nord-Süd-Achse“. Stadtelemente, die zum dominanten Raumgefüge gehören, erfahren als Systemeffekt einen Bedeutungszuwachs, besonders, wenn sie als Merkpunkte den Raum mit abstecken. Eine solche kontextabhängige Bekräftigung fließt u.a. dem Platz der 56 000, dem Goetheplatz, der Marstallstraße, dem Marstall und der Landesbibliothek zu, die alle entweder Teilstücke, Eck- oder Knotenpunkte des Hauptraumsystems darstellen. Milieuwirksame Unterschiede der Stadtviertel stützen zwar das Raumbewußtsein, wesentlich getragen aber wird dieses von den linearen Strukturen der Bewegung, der‘ Straßenräume und der optischen Sichtbeziehungen. Als einzige deutliche Bereichsgliederung heben sich nur die Grünzonen Goethepark, Weimarhallenpark und Friedhof vom Rest der bebauten Stadt ab. Wir werten dies als Beleg für die Einheitlichkeit der Stadtgestalt. Der Eindruck von Zerklüftung entsteht höchstens im Umfeld der Steinmassen am heutigen Karl-Marx-Platz, dem ehemaligen Nazi-Forum. Gleichzeitig, mit dem Anheben von Stadtarealen in helles Bewußtsein, treten andere zurück und werden zu Zonen der Vergessenheit. Dieses Verhältnis erscheint in Weimar auch als scharfer Kontrast:
– Die Jakobsvorstadt und weitere große Teile der alten KernStadt sind als graue Zonen der Vorstellung aus dem Stadtbewußtsein ausgeblendet und erzeugen in einigen Straßenräumen Kulisseneffekte, die an Potemkinsche Dörfer denken lassen. So führt z.B. der „Graben“ wie eine Schneise durch ein Niemandsland , von dem man kaum ein Bild hat.
– Der Bereich um die Coudraystraße ist eine der großen, aber weitgehend unbewußt gebliebenen Lücken im Bild das Stadtorganismus. Obgleich dem Zentrum sehr nahe, ist er praktisch für die Öffentlichkeit nicht angeeignet und durch eine Häuserfront gegen den Goetheplatz abgeschirmt. Dagegen ist die ähnlich versteckte, aber hoch frequentierie Weimarhalle im Park den Bewohnern sehr bewußt.
– Wenn. auch in der jetzigen Substanz nur mäßig urban, rückt doch das zwischen die superattraktive Schillerstraße und die magistralenartige Steubenstraße eingespannte Stadtareal durch die strukturellen Veränderungen des Stadtgebrauchs (Fußgängertransit vom Südwestviertel zur Innenstadt, zentrumsnahe Parkplätze, Aufwertung der Steubenstraße) verstärkt in die Aufmerksamkeit der Bewohner.
Dass die Orientierung in Weimar schwierig ist, nicht nur für Touristen, sondern auch für Leute, die längere Zeit hier wohnen, das liegt vor allem daran, dass die Stadt nicht nach einem kohärenten und relativ einfachen Grundmuster begriffen werden kann. Die Interferenz der Raumstrukturen stiftet Verwirrung und schafft neuralgische Punkte der Orientierung.
Sehr schwer einzuprägen ist z.B. das System von Straßenzügen südlich der Schillerstraße. Dies liegt hauptsächlich an der Doppelung der Ringsituation der Schillerstraße und der Steubenstraße und an der mehrfachen Gabelung relativ gleichwertiger Straßen. Auch die geometrische und in der Gestalt nach wie vor fixierte Mitte der Stadt, der Herderplatz, ist nicht mehr das Aktionszentrum, in dem die urbanen Prozesse kulminieren und von dem sie ausstrahlen. Die Einheit der Orientierung an Funktionen und Räumen ist damit gebrochen.
Evident ist die grundsätzliche Verlagerung des Raumbewußtseins heutiger Weimarer aus dem Kern der mittelalterlichen Altstadt an deren Peripherie. Die innere Struktur der alten Stadt ist vergessen. Im Unterschied z.B. zu einer Stadt wie Halle hat sie keine organische Fortsetzung in den späteren Stadterweiterungen erfahren. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn der erste große und strukturell einschneidende Stadtausbau im Klassizismus legte um die Altstadt eine Folge von Räumen, die zwar die Altstadt in den Konturen umbauen, nicht aber in die Altstadt hineinführen. Hier etablierten sich eine neue Zeit und ein neues Raumgefühl in bewußter Abgrenzung gegen „mittelalterliche Enge“. Die einzige wirkliche Strukturbeziehung der klassizistischen Raumfolge in die mittelalterliche Stadt führt über das Frauentor unmittelbar zu Markt und Schloß, damit zugleich die höfische Herkunft des Planungsgedankens der ehemaligen Esplanade deutlich machend.
Heute ist die Beziehung „Markt – Frauentorstraße“ ein sehr wichtiges Element des Raumbewußtseins, tatsächlich auch die einzige Beziehung in die alte Stadt, zum Beispiel zum Herderplatz, die von heutigen Bewohnern wirklich angeeignet ist. Weimar ist also, positiv wie negativ, auch im heutigen Raumbewußtsein eine Stadt des Klassizismus, selbst wo es um die mittelalterliche Stadt geht.
Die so präformierte Struktur ist später nicht in Frage gestellt, sondern ausgebaut worden. Vor allem die Errichtung des Bahnhofs in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigte eine bereits im Klassizismus vorgeprägte Raumrichtung zur dominierenden Nord-Süd-Beziehung parallel zur Altstadt. Endgültig fixiert wurde dieses beherrschende Element heutigen Raumbewußtseins in Weimar jedoch durch die Bauten am Karl-Marx-Platz: deren vielleicht am meisten verheerende städtebauliche Wirkung ist die Verriegelung einer möglichen direkten Raumbeziehung von Jakobsplan und Bahnhof. Ihre, wenn auch nur angenäherte, Wiedergewinnung könnte wesentlich zur Revitalisierung der Altstadt, insbesondere ihrer nord-südlichen Hauptachse beitragen, da die Verbindungslinie von der Innenstadt zum Bahnhof äußerst wichtig für die Vorstellung ist.
Die rezeptive Aufarbeitung der Stadtgestalt würde sich graduell umlagern, da der Stadtkern nicht mehr nur umgangen, sondern wahlweise von außen und innen erschlossen würde. Dominierend im Sinne der Orientierung sollte jedoch der jetzige Hauptweg bleiben.
Die Architektur der Stadt
Der Geist des Ortes prägt auf vielschichtige Weise die Morphologie der Stadt. Er spiegelt sich auch in der gelegentlich schwer zu definierenden Charakteristik der architektonischen Formensprache. Im folgenden soll versucht werden, einige architektonische Qualitäten zu benennen, die zu Grundzügen des Stadtbildes geworden sind.
1 Weimar bezieht viel von seiner Anziehungskraft aus dem wohlproportionierten Wechselspiel zwischen der überschaubaren Ordnung der Stadt und dem Gegenpol des Unvorhergesehenen und Überraschenden. Die Stadt als Ganzes ist geordnet, vielfältig und abwechslungsreich zugleich.
Die historisch angereicherte Vielschichtigkeit der Stadt bewirkt keine Zerklüftung. Vielmehr erscheint sie als Mannigfaltigkeit innerhalb eines klar ablesbaren Gefüges. Die Widersprüche in der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Weimars, z.B. zwischen der Feudalkaste und dem Bürgertum, zwischen Kunstanspruch und Industrie und dem in Weimar immer wieder aufgebrochenen Streit zwischen Erbepflege und Erneuerungsimpulsen sind zwar ablesbar, sprengen aber die Einheit der Stadtarchitektur nicht. Sie wurden weitgehend architektonisch aufgelöst und ästhetisch harmonisiert.
2 Weimar ist eine Stadt des Klassizismus. Einerseits wird das Stadtbild bis heute nachdrücklich von klassizistischer Architektur geprägt (viele Wohnhäuser, das Römische Haus, die Bauten Coudrays – u.a.). Darüberhinaus scheint das Denken der Aufklärung – die Idee der Vernunftordnung und das Ideal des Maßvollen – ein weiterwirkendes Modell der Architektur in Weimar geblieben zu sein. Die Einzelfälle der offenkundigen Verletzung des harmonischen Stadtorganismus (z.B. der Grenzfall Hansahaus) widerlegen nicht diese Annahme.
3 Architektur in Weimar tendiert zum Einfachen. In der Tat bietet die Architektur hier wenig Überragendes, dafür sehr viel Gutes. Selbst die repräsentativen Bauten verzichten weitgehend auf Prunk und übernehmen den bescheidenen Gestus der provinziellen Residenzstadt. Selbst wenn dies in der Geschichte auch der Geldnot des Herzogtums geschuldet war, die manchmal zu primitiven Ersatzlösungen veranlaßte, so ist doch die Einfachheit der Stadtarchitektur auch das Resultat eines vom klassischen Weimar forcierten ästhetischen Kultivierungsprozesses. Die klassische Ablehnung des barocken Pomps und die Kultivierung des Einfachen und Natürlichen fanden ihre moderne Fortsetzung, wieder in Weimar, in der Kunsterneuerungsbewegung durch Henry van de Velde und im Bauhaus.
4 Weimars Stadtgestalt ist anti-hierarchisch. Die erlebte Harmonie des Stadtgefüges beruht auf dem allgegenwärtigen Ensemble-Charakter der Stadt. Das Prinzip der alternativen Wege, das gegen Hierarchie und Achsialität steht, wurde schon benannt. Es stützt mit der Gleichrangigkeit der Wege die Einheit des Stadterlebens. In die gleiche Richtung wirkt die für Weimar typische „Demokratie der Einzelobjekte“ als Ausdruck der funktionalen Dezentralität. Die Nutzungen sind wenig konzentriert und im Raum der Innenstadt verteilt. Im Zusammenhang damit ist festzustellen, dass die Zweckbestimmtheit der Einzelgebäude relativ wenig in ihrer Gestalt zum Ausdruck kommt. Das Hotel „Russischer Hof“ z.B. ist eigentlich ein gänzlich in den Straßenraum eingefügtes großes Wohnhaus. Nur sein übergroßer Giebel bezeichnet die öffentliche Funktion.
Die verschiedenen Nutzungstypen sind soweit ästhetisch normiert, dass die stilistische Einheit über den praktischen Ausdruck dominiert. Selbst ein Machtzentrum und Repräsentationsbau wie das Schloß ist unaufdringlich in das Gefüge von Stadt und Landschaft integriert.
5 Weimar vermittelt eine Ausgewogenheit von Enge und Weite des Raumes. Das Raumsystem ist geprägt von dem Rhythmuswechsel zwischen Straße und Platz, der sich ständig wiederholt und so einen ästhetischen Reiz und bewegenden Impuls ausübt. Die Räume genügen dem Maß das Fußgängers.
Die Platzfolgen, insbesondere jene mit der größeren Dimension der klassischen Räume, erzeugen einen für das enge Weimar erstaunlichen Eindruck der Weite. Dieser Eindruck wird noch einmal gesteigert von den großen Parks in der Stadt. Das Pendeln zwischen eng und weit, wie es die Bauformen Straße und Platz provozieren, wiederholt sich im Verhältnis von Baumasse und Naturraum.
Die Bauformen der Dichterstadt sind selbst – auf architektonische Art – poetisch. Ihr Reiz entwickelt sich aus dem Wechselspiel, aus der Folge der Durchblicke, der Ausschnitte und Andeutungen und der überraschenden aber nicht schockierenden Wendungen.
6 Der Widerspruch von Konservatismus und Avantgardismus durchzieht die Geschichte der Stadt. Während die künstlerische Avantgarde des 20.Jh. in Weimar einen ihrer Hauptorte hatte, blieb die weltweite Ausstrahlung der Schulen für die Architektur der Stadt fast wirkungslos. Die Architektur Weimars neigte oft zu einem provinziellen Traditionalismus, Andererseits endeten die neueren Versuche, zu einem „zeitgemäßen“, modernen architektonischen Ausdruck zu gelangen, mit krassen Fehlschlägen wie z.B. dem Internat Jakobsplan. In dieser Schwankung können architektonische Lösungen, die dem Ort und dem Geist der Stadt gemäß sind, kaum gefunden werden.
Die Stadtgestaltung muß an die Stelle dieses untauglichen Dilemmas, das uns zuletzt mit der Neubebauung der Markt-Nord-Seite vorgeführt wurde, etwas Neues setzen. Um die Architekturszene der Stadt vor der Erstarrung und Banalisierung zu bewahren, sollte sie nach Maßgabe des genius loci für die heutigen Avantgardeströmungen der Architektur geöffnet werden.
Kultur als Perspektive
Weimar und seine Touristen – das wird nur dann gut gehen, wenn sich die Stadt dem Tourismus öffnet, ohne dabei ihr eigentümliches Wesen preiszugeben. Diese Art des Bewahrens setzt eine klare Vision vom Weimar der Zukunft voraus, die sich vielen Initiativen ihrer Bürger öffnen, gegen partikuläre Interessen aber behaupten kann. Diese Perspektive kann nur Kultur heißen. Alle Vorhaben der öffentlichen und privaten Hand müssen tiefgründig auf ihre Kulturverträglichkeit hin überprüft werden. Alle wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse sollten von Anfang an, vom Geist der Weimarer Kultur durchdrungen sein, zumindest sollten sie aber den Kulturinstanzen unterlegt werden. Die Stadt kann in den Verhandlungen mit der Wirtschaft ihren Standort- und Imagevorteil zur Durchsetzung ihres Kulturanspruches nachdrücklich nutzen.
In Weimar bestehen günstige Bedingungen dafür dass die Alltagskultur auf den Straßen (darunter die Architektur, das Kommunaldesign, aber auch die Verkehrskultur, die ökologische oder politische Kultur) an der Niveauentwicklung der künstlerischen Kultur partizipiert. Indem das Kunst-, Musik- und Theaterleben in der Stadt seinen Provinzialismus überwindet und sich zur Weltkultur hin öffnet, bieten sich auch Chancen dafür, dass die Stadtgestaltung neue Impulse empfängt. Sie könnten dafür sorgen, dass die schon angesprochene schöpferische Traditionslinie der Stadt gestärkt und auch stärker stadtbildprägend wirksam wird. Für Weimar könnte das Aufeinandertreffen von historisch gestimmtem Humanismus mit einem sensiblen Innovationsdrang zu einem neuerlichen weimartypischen Glücksfall werden.
Gewarnt sei schließlich noch vor der Gefahr, eine solche Symbiose nur oberflächlich zu betreiben – etwa in dem Sinne, dass nostalgische Vergangenheitsattribute sich mit aufgesetzten Novitäten kitschig verbinden. Disneyland „Weimar“ als Kulturersatz. Das Image dieser Stadt soll nicht in beschaulicher Selbstgefälligkeit verstanden und kann auch nicht durch bunte Kreationen aufpoliert werden. Es will ständig neu erkundet, vertieft und bereichert sein.
Weimar – Das Bild, Analysen zur Stadtgestalt Weimars. (zusammen mit Zimmermann, G.)
in: Wiss. Zeitschrift der HAB – Weimar 37 (1991) Reihe A, Heft 1/2. S. 3-12.