Von den Faktoren zur Form (1985)

Wie kommt das Bündel der Anforderungen und äußeren Faktoren im Entwurf zur Anschauung? Die Diskussion geht auf Mies van der Rohe und Hugo Häring zurück und kritisiert einfache und kompromißlerische Lösungen, verteidigt aber die Entwurfsidee und das offene System einer architektonischen Formensprache.

Olaf Weber
Von den Faktoren zur Form

1. Formfindung – Formerfindung?

Die architektonische Form geht aus vielen Bedingungen hervor und ist selbst Ausgangspunkt vieler Wirkungen. Ähnlich einem Sammelbecken der sie umgebenden Wirkungefelder transformiert sie die gesellschaftlichen Faktoren, die auf sie einwirken und auf die sie zurückwirkt. In diesem Bereich, d.h. zwischen dem, was auf die Formgebung einwirkt, und der Wirkung der Form befindet sich der Entscheidungsraum für diejenige Tätigkeit, die wir „Gestaltung“ nennen. Wenn man nach ihrem Inhalt fragt, will man zuerst wissen, was der Architekt mit den Faktoren macht, die eine formbestimmende Potenz haben, was er dem Gefüge wechselseitiger Bedingtheiten hinzugibt und zu welchen Ausdrucksqualitäten er die Fakten der Bauaufgabe führt.

Es gibt Konstantes und Veränderliches, Objektives und Subjektives auf der praktischen wie auf der ästhetischen Seite des Entwurfes; Formen werden gefunden und erfunden; sie entstammen der Realität wie der Phantasie; die Gestaltung hält sich an Normen, seien es räumliche Verhaltensmuster oder ästhetische Wertorientierungen, und sie bricht zugleich die zum Klischee gewordenen Normative, wo sie der Entwicklung im Wege stehen. Bestimmte bauliche Muster aufzugreifen oder neue zu entwickeln – diese Entscheidung muss aus der Dialektik der konkreten Bauaufgabe erwachsen. Gesellschaftlicher Fortschritt verbindet sich nicht mit den innovativen gestalterischen Elementen allein, sondern steht im Zusammenhang mit demjenigen Verhältnis von Innovativem und Hergebrachtem, das im gesellschaftlichen Leben selbst vorherrscht.

In jeder Gestaltungsaufgabe wird ein Teil der formalen Eigenschaften aus den (sich wandelnden) materiellen Bedingungen und Funktionen heraus entwickelt, ein weiterer wird dem zeittypischen Formenrepertoire entnommen und ein dritter Teil wird erfunden. Doch ist gestalterische Kreativität keineswegs auf die letztgenannte Art der Formgebung beschränkt, sondern bezieht sich immer auf das Gesamtergebnis.

Die Grundfrage ist, wie sich das Formschaffen in bezug zu den verschiedenen Bedingungen und Bedürfnissen verhält; sie ist positiv nur so zu beantworten, dass die ästhetischen Momente an die praktischen und technischen angekoppelt werden, jedoch im dialektischen Sinne, also ohne ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Aus Gründen dieser Kopplung untersuchen wir zunächst den Weg der Form aus ihren materiellen Faktoren heraus. Doch wollen wir dabei nicht vergessen, dass die Form auch aus anderen Quellen gespeist wird, die zwar letztlich auch ihre materiellen Beweggründe haben, doch dem Architekten als geistige Gebilde und als ästhetische Wertorientierungen gegenübertreten, also ihren materiellen Ursprung nur noch semantisch enthalten.

2. Der „kurze“ Weg zur Form

Form entsteht überall, auch ohne eine explizit ästhetische Zwecksetzung. Auch bauliche Formen können aus praktischen, technologischen, ökonomischen … Entscheidungen erwachsen, ohne dass diesen Entscheidungen eine ästhetische Motivation zugrunde liegt, also ohne Reflexion auf die sinnliche Qualität der Form. Das heißt nicht, dass diese so entstehenden Formen ausdruckslos wären, sie widerspiegeln natürlich auf eine noch zu beschreibende Weise die Bedingungen Ihrer Entstehung und können durchaus harmonisch sein.

Die Architekten der „Neuen Sachlichkeit“ der 20er Jahre hatten hinter den Schnörkeln ihrer Vorgänger wiederentdeckt, dass die aus konstruktiver und praktischer Zweckerfüllung hervorgegangenen Bauwerke nicht nur besser funktionieren und billiger sind, sondern auch ihren ästhetischen Ansprüchen genügen, sogar diesen besser genügen als die verzierten Bauten des Eklektizismus oder des Jugendstils.

Hugo Häring, einer der herausragenden Köpfe dieser Bewegung, schrieb in einem bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel „Wege der Form“: „Wir haben nunmehr die entdeckung gemacht, daß viele dinge einer reinen zweckerfüllung bereits eine gestalt besitzen, die unseren ansprüchen an ausdruck umso besser entsprachen, ja besser sie denen an eine reine zweckerfüllung entsprachen, und daß zudem der ausdruck dieser dinge einer neuen geistigkeit entsprach.“ /1/

Was Häring hier ausdrückt, ist nicht das Konzept des amusischen sogenannten „Ingenieurbaues“, der ohne Rücksicht auf seinen ästhetischen Einfluss konstruiert wird, in ihm kommt vielmehr ein ernsthaftes Anliegen zum Vorschein, das zu Unrecht von Vertretern des „Kunstkonzeptes“ der Architektur verspottet wird. Es ist der Wunsch, die materiellen Faktoren des Entwurfes möglichst
unbeeinflusst von subjektiven ästhetischen Entscheidungen zur Form zu bringen und damit der gesellschaftlichen Basis der Architektur in ihr zum unmittelbaren Ausdruck zu verhelfen.

Sicher spielen in Härings Vorstellung von der „Leistungsform“ als einer Form, die wie eine anschmiegsame Haut die Lebensvorgänge im Bauwerk umhüllt, praktische Optimierungsmodelle eine Rolle, doch muss die „Leistungsform“ unbedingt auch als Versuch gewertet werden, der Architektur eine direkte und ungetrübte Widerspiegelungsfunktion zu geben; er will die Faktoren des Entwurfs möglichst unmittelbar in psychische Wirkungen überleiten. Diese Eigenschaft der Architekturform zur Widerspiegelung ihrer Bedingungen ist ausserordentlich wichtig, es soll aber im folgenden gezeigt werden, dass der kurze, direkte Weg zur Form im Sinne von mechanischer Widerspiegelung der Faktoren kein allgemeiner Leitfaden sein kann, um das Ausdrucksproblem in der Architektur zu lösen.

Die Architekten der „Neuen Sachlichkeit“ haben sich große Verdienste um die Wiederherstellung der Fähigkeit der Form erworben, ihren materiellen Ursprung anzuzeigen und damit dem Nutzer und Betrachter gewisse sozialräumliche Informationen zu liefern. Sie waren auch der Meinung, dass sobald die Struktur der formbestimmenden Faktoren harmonisch ist, sich auch ein harmonisches Bild des Produktes einstellen würde. Karin Hirdina schrieb dazu: „Weil eine von sozialen Grundwidersprüchen befreite, geordnete Gesellschaft vorwegnehmend angestrebt wird, ästhetisches Formieren aus ihr seine Ziele bezieht, wird die Harmonie von Funktion und Form als selbstverständlich angenommen.“ /2/

Diese Unmittelbarkeit der Beziehung von Funktion und Form, die sowohl zu einem adäquaten Ausdruck wie auch bei günstigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu einem harmonischen Erscheinungsbild führt, macht die Architektur zu einem wahrhaftigen Spiegelbild ihrer konkreten Gesellschaftlichkeit. Aufgesetzte Fassadenvielfalt dort, wo sie in den realen Lebensprozessen nicht wiederkehrt oder Farbenfreude dort, wo eher tristes Leben herrscht, sind mit diesem Gestaltungskonzept nicht zu vereinen. Begriffe wie „echt“ und „wahrhaft“, die dabei eine grosse Rolle spielen, verweisen auf den grossen ethischen Anspruch dieses Architektenkonzeptes, doch suggerieren sie leider auch, dass jede gestalterische, ästhetischen Motiven folgende Modulation der Faktoren auf dem Wege zur Form zu „unechten“ Resultaten führen würde. Jeder Umweg über kulturelle und ästhetische Instanzen gilt dann als abwegig, der „kurze“ Weg zur Form wird als „wahrhaftig“ gepriesen. Gestaltung ist in der Konsequenz dieser Denkweise „Lüge“, ist eine Verfälschung der Kausalität der Form und damit ist Gestaltung nicht nur überflüssig, sondern auch irreführend.

Solche Schlüsse werden leider auch durch eine grosse Zahl von Aphorismen der Klassiker der Moderne nahegelegt, so bei Mies von der Rohe: „Die Form ist nicht das Ziel sondern das Resultat
unserer Arbeit.“ /3/ Die Form, so muss das bedeuten, sei ein Abfall- oder Nebenprodukt der Tätigkeit des Architekten, jedenfalls ein Ergebnis, auf das die Tätigkeit nicht zielte. Mies von der Rohe hat sich selbst nicht an solche Maxime gehalten, doch hat sie in den verschiedenen Arten der Unterschätzung der Form ihre Nachwirkung.

Wenn wir über die Form sprechen und nicht allgemeiner über Architektur, so ist damit selbstverständlich die sinnliche, ästhetische Natur dieser Form gemeint. Etwas aber, das für die Sinne da ist, kann nicht aus technischer oder praktischer Zweckerfüllung abgeleitet werden, es muss aus den für die Form wesentlichen Bindungen zur konkreten sinnlichen Erfahrungswelt der Menschen erwachsen. Die Form ist also nicht nur Resultat, sondern auch Ziel und vor allem Mittel zur Erreichung des Zieles.

Auch hinter der verbreiteten Suche noch dem verborgenen „Wesen“ einer Gestalt steckt oft nur der Glaube an eine natürliche Determination der Architekturform, die es nicht geben kann. Nicht selten wird dieses Wesen entweder als eine mystische, transzendentale Wesenheit /4/ verstanden, wodurch es in gleicher Weite von seiner konkreten Geschichtlichkeit abgehoben und unhistorisch behandelt wird, wie in seiner bloss natürlichen Bestimmtheit. Gropius, der in den exzentrischen 20er Jahren relativ ausgewogene Architekturkonzeptionen vertrat, wollte „die Gestalt jedes Gegenstandes aus seinen natürlichen Funktionen und Bedingtheiten heraus … finden … Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen.“ Die „Wesensforschung“ führt dazu, dass die „Dinge aus ihrem eigenen gegenwartsbedingten Gesetz heraus“ gestaltet werden. /5/ Was ist das aber für eine „Wesensforschung“, die die Gestalt aus den „natürlichen Funktionen und Bedingungen heraus“ finden will, sie fördert höchstens eine „schöne“ Baugestalt ans Tageslicht, die bestimmten physiologischen Bedingungen des Menschen entspricht oder aus immanenten technischen Faktoren hervorgegangen ist. Vor allem fehlt in diesem „Wesen“ die kulturhistorische Dimension der Architektur, ihre konkrete Geschichtlichkeit.

Bei dieser Denkweise bilden meist praktische Gegenstände das gedankliche Muster (ein Topf, ein Messer …), die unabhängig von einem konkreten Ort ihre „wesentliche“ Gestalt erhalten und
tatsächlich sachlich (vor allem technologisch und ergonomisch) geprägt sind. Die Gleichsetzung von Formgestaltung und Architektur in dieser Frage – eine typische Haltung der bürgerlichen Moderne – führt zu falschen Schlussfolgerungen, weil sie deren unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen negiert.

Der vergebliche Versuch, auf dem Wege über biologische, physiologische, technische oder andere „natürliche“ Faktoren zum Wesen der Architektur, eines bestimmten Bauwerkes oder dessen Entwurf vorzudringen, unterscheidet sich grundlegend von der Methode, typologische Gestalten zu finden, die in ihrem Wesen durch alle Klassen von Faktoren bestimmt sind. Der architektonische Typus, auf den ich noch ausführlicher eingehen werde, ist ein kulturgeschichtliches Syntheseprodukt aller Anforderungen, Bedingungen und Bedürfnisse. Deshalb ist ein solcher Typus, der einen
strukturellen Charakter im Sinne des Wesentlichen hat, mit dem Wesen der Architektur identisch. Wesensforschung aber, die auf die „sachlichen Ansprüche“ gerichtet ist und von dort her ihre Inhalte bezieht, kann weder das Allgemeine noch das Besondere einer architektonischen Gebildes erfassen, vor allem dann nicht, wenn alle praktischen Anlässe für die Form biologisch gedeutet werden und nur
den ästhetischen die Eigenschaft des Wandels zugebilligt wird: „Nun sind die formen der sachlichen ansprüche, als vom leben gestaltet, von elementarer art und von einer naturhaften, nicht dem menschen entstammenden ursprünglichkeit, während die formen, die um eines ausdrucks willen den dingen gegeben werden, von einer abgeleiteten gesetzhaftigkeit sind.“ /6/

Die einer ästhetischen Sinngebung erwachsenen Formen seien deshalb der Vergänglichkeit und dem Wandel ausgesetzt, während erstere ewig und unzerstörbar sind. Häring hätte Recht, wenn er den ästhetischen Impulsen eine relativ große Flexibilität zugestehen würde, die bis zur modischen Unbeständigkeit gehen kann, doch gehört auch Ästhetisches zur objektiven Bedingungsstruktur, wenn es z.B. als physiologisch bedingte Wahrnehmungegrenzen (Blickwinkel) oder als kulturell geprägtes Leitbild massenhaft objektiviert ist, wenn es als Geschmack, ästhetisches Ideal usw. einen objektiven Faktor bildet, an dem sich die Gestaltung orientiert. Andererseits sind die praktischen Anforderungen keineswegs ewige Konstanten. Alle noch so sachlich erscheinenden praktischen Anforderungen, die der Form zu ihrer Ausprägung verhelfen, sind in Wirklichkeit gesellschaftlich überformte Faktoren, also Einflüsse von einer solchen Dynamik, wie sie der kulturellen Entwicklung eigen ist. Es spricht also nichts dafür, ein natürlich oder „sachlich“ determiniertes „Wesen“ hinter den architektonischen Formen zu suchen, das sich auf kurzem, direkten Wege vergegenständlicht.

3. Einfache und komplizierte Gegenstände

Die unmittelbare und augenscheinliche Widerspiegelung der materiellen Voraussetzungen und Funktionen in den gegenständlichen Formen ist manchmal ausgezeichnet möglich. Betrachten wir zum Beispiel einen so einfachen Gegenstand wie eine Schraube. Sie offenbart ihre Funktionsweise und ihren Zweck schon auf den ersten Blick und man kann annehmen, dass eine Schraube auch demjenigen ihre Funktion anzeigen könnte, der ein solches Verbindungemittel noch nicht kennt, sondern nur über allgemeines technisches Interesse und die Fähigkeit zur logischen Schlussfolgerung verfügt. An dem spiralförmigen Gewinde und der Formung des Kopfes, der einen Schlitz hat oder als Sechseck geformt ist, kann man erkennen, dass sie nicht mit dem Hammer eingeschlagen wird, sondern sich durch Drehbewegung in das Material hineinfrisst. Die Schraube ist der vollendete Ausdruck dieser Funktion, und zwar indem sie eine Form hat, die dieser Funktion vollendet dient. Jeder Versuch, diesen Ausdruck zu steigern, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch erfolglos, die Funktion würde nur unklar und verhüllt werden.

Der Vergleich mit einem Haus oder einem komplexen Gebrauchsgegenstand tut sich da nicht auf und die Hoffnung ist unberechtigt, auch dort würden sich Ausdrucksprobleme so einfach lösen. Das Prinzip „einfach und klar“ /7/ ist ästhetisch nur dort gültig, wo es auch praktisch und technisch gilt, deshalb sind Mies von der Rohes Bauten zwar einheitlich, aber es sind eigentlich nur leere Hüllen. In einem Gespräch mit Ch. Norberg-Schulz erklärte er: „Die Zwecke, denen das Gebäude dient, verändern sich unablässig, aber wir können es uns nicht leisten, Bauten abzureißen. Deshalb stellen wir Sullivans Formel „die Form folgt der Funktion“ auf den Kopf und konstruieren einen praktischen und wirtschaftlichen Raum, in den wir die Funktionen einpassen.“ /8/ Die Form folgt bei diesen Hüllen nur noch allgemeinsten technischen und ästhetischen Prinzipien, während die konkrete Anforderungsstruktur gegen Null minimiert wird.

Mies von der Rohes Bauten stellen in der Entwicklung der Architektur sicherlich einen Höhepunkt dar hinsichtlich des Anspruchs auf Universalität und der Verleugnung der historischen und lokalen Spezifik der Bauaufgabe. Seine Konzeption wird die Geschichte als möglichen Sonderfall immer aufbewahren, doch ist und bleibt die Architektur ihrem Wesen nach ein hochkomplexes Anforderungsprodukt, dessen Entwurf – obwohl in hartem Beton, Stahl und Stein gedacht – in einer immer wieder erstaunlichen konzeptionellen Anpassungefähigkeit auf die vielen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen reagiert.

Ein Bauwerk ist weder von der Struktur, noch von der Funktion oder Herstellungeweise ein einfacher Gegenstand, wie es uns die Schraube gezeigt hat. Architekturgestaltung ist auf ein komplexes Ziel aus und realisiert es mit komplexen Mitteln. Während man die Funktion der Schraube möglicherweise in 2 oder 3 Teilfunktionen zerlegen könnte, sind es bei einem Bauwerk sinnbildlich gesprochen hunderte Funktionen. Sie alle in der Art der Schraube repräsentieren zu lassen, würde eine heterogene, verworrene Gestalt entstehen lassen, in der die einzelnen sich widersprechenden Faktoren und die sie repräsentierenden Gestaelteigenschaften miteinander konkurrieren. Wenn man den Faktoren der Bauaufgabe eine freie Bahn auf dem Weg zur Form einräumte, würden sich dort diejenigen an die Oberfläche drängen, die dem stärksten materiellen Druck dazu ausgesetzt sind. Viele Faktoren vergegenständlichen sich zwar in Architektur, doch nur ein Teil von ihnen an solchen Positionen, die auch sinnlich wahrnehmbar sind. Vom ästhetischen Standpunkt aus ist ihre sinnliche Präsenz dann zufällig, denn sie sind zur Form geworden, ohne ästhetischen Gesetzen und Motiven zu folgen.

Der Architekt muss die sich widersprechenden Bedingungen seines Entwurfes zu lebeneräumlichen Gebilden übersetzen, wobei die praktische und technische Funktionalität keineswegs die ästhetische-garantiert. Im extremen Fall der nur mechanischen Widerspiegelung ist die geistige Aneignung von Architektur nur die Aneignung ihrer Faktoren, da die Prägung durch verursachende Faktoren nicht für den Rezipienten aufbereitet und das heißt: gestaltet ist.

Folgt die Form der Funktion in diesem direkten Sinne, muss man schon fragen, welcher Funktion oder welcher Teilfunktion, denn allen Widersprüchen der Anforderungsstruktur kann die Form unmöglich folgen, will sie nicht in Chaos auseinanderfallen. So folgt sie z. B. in Härings Konzept von der „Leistungeform“, mit dem er Mies von der Rohe streitbar entgegentrat und das von Scharoun und anderen Architekten aufgenommen wurde, den Bewegungsformen der Nutzertechnologie. „Das Bewegungsfeld (Kraftfelder) wird mit Wänden, Böden und Decken umstellt und so über Treppen und Ebenen geleitet, dass es in seinem freien Fluss nicht gestört wird. Das führt zu offenen Formen,
Raumdurchdringungen und -überlagerungen.“ /9/ Aber dieses Bewegungefeld und die es umhüllenden Bauformen sind nur Ausdruck der lokomotorischen Beziehungen der Nutzer, keineswegs ihrer Tätigkeit, geschweige ihrer Lebensweise oder Kultur. In der Raumbewegung widerspiegeln sich zwar wichtige Momente des gesellschaftlichen Lebens, doch erfüllt keineswegs die Schaustellung der lokomotorischen Verhältnisse im Innern die Anforderungen an den Ausdruck eines Gebäudes.

Härings entwurfsmethodisches Prinzip der „Leistungsform“ kommt unserer Vorstellung von der engen Bezogenheit der Form auf die Bedingungsstruktur entgegen, doch wird gerade bei Häring deutlich, wie dieses Verhältnis durch eine unkonkrete „Wesensbestimmung“ eher verschattet werden kann.

Häring vergleicht in einer anderen Schrift die Materielkonzeption Le Corbusiers mit der von Robert Maillart: „Der baustoff corbusiers ist der beton, doch nimmt corbusier nicht die organhaften kräfte im beton wahr: er nützt ihn nur, um die reinen formen der geometrie auszuführen. Wenn maillart brücken baut, erscheint in deren gestalt die wesenheit der brücke.“ /10/ Häring nimmt für Maillart Partei, weil er in dessen Bauten sein eigenes Streben nach dem Ausdruck der „Wesenheit“ verwirklicht findet.

Doch der Vergleich mit Corbusier ist so nicht statthaft, er steht auch Härings eigenen Prinzipien im Wege. Denn er scheint zu übersehen, dass nicht nur eine Brücke etwas funktionell anderes ist als
ein Wohn- oder Verwaltungsgebäude, sondern dass vor allem der Baustoff Beton in beiden Fällen hinsichtlich seiner formbestimmenden Wirkung einen ganz verschiedenen Charakter haben muss. Die extreme Lastbeanspruchung nötigt dem Beton der Brücke eine Form ab, in dem er besonders leistungsfähig ist und seine Materialeigenschaften sinnfällig präsentiert. Wie unsinnig wäre es aber, würden an einem Wohnhaus vornehmlich die „organhaften“ Kräfte des Betons zum Ausdruck kommen, anstatt die sozialen Kräfte der Menschen zur Form zu bringen. Die Gestalt der Brücke ist zum Konstruktiven hin verschoben, die des Wohnhauses zum Sozialen, so haben sie auch zu den konstruktiven und sozialen Konditionen der Form unterschiedliche Wertbeziehungen. Härings Kritik an
Le Corbusier ist also in dieser Form unbegründet, anstatt vom Wesentlichen der Bauaufgabe, dem architoktonischen Typus auszugehen, werden Kräfte, wird das Wesen eines Baustoffes zum Drehpunkt der Begriffe.

Härings Vergleich verschafft uns neben der nochmaligen Gelegenheit, die mystische „Wesenssuche“ zu kritisieren, auch einen weiteren Blick auf denjenigen Zustand der Gestaltung, der eintritt, wenn zugelassen wird, dass einzelne Faktoren sich auf dem Wege zur Form verselbstständigen. In ähnlicher Weise wie Scharouns Bewegungefeld können nämlich auch andere formbildende Faktoren aus der Bedingungsstruktur herausgelöst, in ihrer Bedeutung vergrößert oder verabsolutiert werden, z.B. konstruktive und technologische Parameter. Man denke nur an den großen Einfluss den die Kranbahn im derzeitigen Massenwohnungsbau auf städtebauliche Strukturen hat oder an absolut gestaltbestimmende Faktoren in anderen Bereichen, wenn formbildende Faktoren aus der Bedingungsstruktur herausgelöst werden, bewirkt die Oberdominanz eines aus dem natürlichen Zusammenhang seines Gefüges getrennten und übermäßig vergrößerten Aspektes eine gewisse Gleichförmigkeit oder formale Harmonie in einer Situation, die eigentlich durch eine komplexe Bedingungestruktur und durch eine komplexe Zielfunktion charakterisiert ist. Das ist aber nicht diejenige Harmonie, die zugleich die wesentlichen Momente ihres Gegenstandes ausdrückt; es ist eine Harmonie der Beschränkung, nicht der gestalterischen Möglichkeiten.

Die direkte Widerspiegelung von Faktoren in einem komplexen Gebilde wie einem Haus kann zwei Resultate haben; entweder es kommen nur einzelne, überzogene Fakten zur Erscheinung, die nicht immer den Charakter des Gebäudes entsprechen, oder aber das Erscheinungebild fällt beim Versuch, viele Faktoren zur sinnlichen Präsentation zu bringen, in den widersprüchlichen Zustand auseinander, in den sich natürlicherweise die Faktoren befinden.

Die Unfähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen, hat in Zusammenwirken mit einem starken Willen zur Vereinheitlichung lange Zeit dazu geführt. Teilaspekte der Architektur zu vereinzeln und räumlich zu isolieren. Die Funktionstrennung in Städtebau (Arbeiten. Wohnen. Erholen und der alles verschmelzende und übergroße Verkehr), aber auch in der Produktionssphäre (Fließband, Arbeitsteilung) und in der Wohnung (Isolierung der Hausarbeit und der Kinder) sind historische Produkte des gesellschaftlichen Unvermögens, komplexe Gebilde hervorzubringen, die eine widersprüchliche Einheit darstellen.

Gestaltung ist die Herstellung dieser Komplexität unter dem Formaspekt; sie ist deshalb beides: die Realisierung einer Teilfunktion (der sinnlichen Wirkung der Form) und zugleich die Verantwortung für das komplexe Ganze, also die Zuordnung aller Faktoren und Funktionen im Interesse einer komplexen Aneignung durch die Menschen. Das Ästhetische ist deshalb sowohl ein Faktor unter anderen Faktoren als auch eine Methode des Umgangs mit allen Faktoren.

4. Form als Kompromiss

Das Ordnen der materiellen Bedingungen und Erfordernisse nach den Maßgaben praktischer und technischer Funktionserfüllung reicht also nicht aus, um die Bedürfnisse nach ästhetischer Aneignung dieser materiellen Basis zu erfüllen. Sie bilden sich in der Form nach Verhältnissen ab, die im allgemeinen nicht den Rezeptionsbedingungen und ästhetischen’Erwartungen entsprechen. Aber architektonische Gestaltung beruht auf diesen Fakten, sie ist nicht selbständig und ist keine Zutat. Wie kann sie mit der widersprüchlichen Komplexität der Umstände auskommen?

Das allgemein praktizierte Verfahren ist, die sich widersprechenden Gestalttendenzen der verschiedenen Fakten und Funktionen zu einem Kompromiss zu führen. Die widerstrebenden Spitzen werden dabei abgebaut und der Rest so aufeinander bezogen, dass er eine zusammenhängende Gestalt bildet. Das Grundprinzip ist die Verdichtung der Form, d.h. eine formale Operation der Angleichung. Die gedanklich schon optimierten Leistungsformen einzelner Teilfunktionen werden selektiv zurückgenommen und miteinander verschmolzen. Ergebnis ist, dass diejenigen Faktoren, die sich dem allgemeinen Kanon der übrigen Bedingungen am meisten widersetzen, in der Form nicht mehr zum Ausdruck kommen, obwohl sie möglicherweise für das Erleben und Verstehen des Gegenstandes sehr wichtig sind. Diese Art der Gestaltung geht davon aus, die Formen zu glätten, sie aufeinander zu beziehen, aber sie werden noch nicht auf den Menschen bezogen, sie sind nur sehr oberflächlich den Harmonie- und Ganzheitserwartungen der menschlichen Sinne angepasst. Sie sind also bezüglich der ästhetischen Anforderungen immer noch zufällig. Sie haben ihren Bezugepunkt noch immer in sich selbst, im Gegenstand, es fehlt ihnen die Fähigkeit, ihren Ursprung an die Nutzer und Betrachter, zu vermitteln. I

Diese Methode des Kompromisses erfüllt noch nicht alle ästhetischen Anforderungen, aber sie akzeptiert die gestaltbestimmenden Faktoren und versucht, diese auszudrücken, wenngleich eben nur
in der Form des internen Kompromisses. Sie ist deshalb schon näher am Gestaltungsprozess als diejenigen Versuche, die darauf aus sind, die Gestaltungstätigkeit zwischen den materiellen, also praktischen und technischen Umständen unterzubringen. So gibt es die Auffassung, „die für die künstlerische Form wichtige Freizügigkeit in der Gestaltorganisation (nehme) in dem Maße zu, wie die Determiniertheit durch das gesellschaftliche Leben, die Abhängigkeit vom praktischen Zweck und den technologischen Voraussetzungen seiner Realisierung abnimmt.“ /11/

Es ist aber gar nicht einzusehen, weshalb das gesellschaftliche Leben, die technologischen Bedingungen usw., also die faktischen Grundlagen des Entwurfs die Form nicht bestimmen sollten, unter der Voraussetzung, dass es keine Überdominanz eines einzigen Faktors oder einer Faktorengruppe gibt und der Ausdruck dieser Faktoren durch Gestaltungstätigkeit gesteuert wird. Darauf zu hoffen, dass die Kraft der materiellen Faktoren insgesamt abnimmt, ist nicht nur unrealistisch, sondern dem architektonischen Gestaltungsprozess überhaupt fremd. Es würde heißen, auf schwache materielle Anforderungen zu hoffen, zwischen den materiellen Faktoren hindurch zu gestalten, nur verbliebene Freiräume auszufüllen; es würde heißen, den Faktoren passiv gegenüberzutreten und sie nur lose mit Gestaltungsimpulsen zu vermischen. Letztlich führen auch solche Auffassungen zu den eingangs kritisierten dekorativen Tendenzen.

Dagegen braucht Architektur kräftige, sie braucht nicht schwache Impulse aus ihrer Umwelt. Architektonisches Gestalten ist dort am effektivsten, wo es auf eine starke Bedingungsstruktur trifft und diese mit dem Impetus einer Idee durchformt. Dazu ist es notwendig, die Faktoren ins Gleichgewicht zu bringen und die formbildenden Kräfte zur Gestalt hin zu kanalisieren.

Gestaltung ist dort effektiv, wo zwischen den zur Form strebenden Bedingungen nicht einfach ein formaler Kompromiss gesucht wird, sondern wo sie einer Grundaussage, einem Gesamtbild oder einer Idee zugeführt werden; der Architekt macht seinen Entwurf erst durch eine Grundidee sinnfällig. Gerade solche Architekten, die nicht modischem Wandel nachlaufen, verlassen sich nicht auf die scheinbar überdauernden äußeren Bedingungen ihres Entwurfes, sondern ordnen sie einer subjektiven Erfindung, einem Grundgedanken zu, der diese Bedingungen in sich aufhebt.

Der Designer Vico Magistretti, der erklärt, gutes Design müsse 50 Jahre überleben, sagte dazu: „Gutes Design ist Design, das aus einer Grundidee entsteht. Es ist etwas, das man einem anderen
unmissverständlich übermitteln kann, ohne es notwendigerweise zeichnen zu müssen.“ /12/ Er beschreibt das Produkt nur mit Hilfe mündlicher Sprache und einiger Skizzen – eine Arbeitesweise, die z.B. auch Gropius eigen war. Die Grundidee ist dabei das übergreifende gedankliche Muster, auf das die formbestimmenden Bedingungen bezogen werden, um auf dem Wege zur Form verstärkt oder geschwächt, moduliert, korrigiert, verdichtet oder mit einem solchen Impuls konfrontiert zu werden, der der Ausdruck einer kulturell-ästhetischen Situation ist, in der diese Bedingungen schon gesellschaftlich, als Kultur, verarbeitet sind. Solche Impulse zur Form können die konkreten materiellen Fakten ausdrücken, ohne aus ihnen hervorgegangen zu sein, es sind bedeutungstragende Formen, die die Faktoren des Entwurfs ideell vertreten, ohne selbst ein Produkt dieser Faktoren zu sein.

5. Das Bezugssystem: Sprache

Die Kompromisssuche zielt auf einen Ausgleich der unterschiedlichen Faktoren, sie ist auf deren Mitte gerichtet, ihr Bezugssystem ist der Gegenstand selbst, ihre Kriterien sind ihm immanent. Als Gegensatz dazu und Weiterentwicklung soll eine Gestaltungsweise beschrieben werden, die ihren Bezug nicht in inneren Ausgleich, sondern in ihrem funktionellen Rahmen sucht, d.h. in der Beziehung zum Menschen, seinem Bewusstsein und vor allem seiner Wahrnehmungs- und Interpretationsweise. Natürlich wird auch auf dem Wege des Kompromisses gefühlsmäßig ein ästhetisches Maß angelegt, aber es bleibt eben unterhalb derjenigen Bewusstseinsschwelle, über die wir mehr und mehr die fundamentalen Entscheidungen der sozialistischen Umweltgestaltung heben wollen. Eine Grundlage dafür ist, dass wir den Gestaltungsprozess als Formulierung eines sprachlichen Ausdrucks begreifen oder anders gesagt, dass wir die Gestaltungsentscheidungen auf ein schon vorformuliertes geistiges System, eine Ausdrucksweise oder eine Sprache beziehen.

Die grundlegende theoretische Frage ist also, ob die konkreten Gstaltungshandlungen auf einen allgemeinen, regelhaften Ausdruckssystem beruhen, das in einem bestimmten Kulturkreis als anerkanntes Normativ für solche Gestaltung gilt, oder ob ein solches Regelwerk, das keineswegs geschlossen oder determiniert zu sein hat, abgelehnt wird und die gestaltbestimmenden Faktoren einfach zum Kompromiss geführt werden. Die Befruchtung des Kompromisses mit einer Grundidee führt schon in die Richtung eines Ausdruckssystems, nur könnte diese auch ganz subjektiver Art sein. Auch reicht es noch nicht, wenn sie allgemeinen ästhetischen Gesetzen gehorcht, sondern sie muss auch einer historisch und regional konkreten Regelhaftigkeit unterworfen sein, jedenfalls einer solchen, wie sie künstlerischen Sprachen eigen ist. /13/ Sprache – auch die der architektonischen Form – unterscheidet sich von anderen Ausdrucksweisen neben der Kombinationsfähigkeit ihrer Elemente zu wechselnden Aussagen durch ein gewisses Normierungsniveau, das hier nicht näher bestimmt werden kann. Es ist aber Bedingung dafür, dass Verstehen und Verständigung mittels Formen möglich ist, die einen gewissen festen Bedeutungsrahmen besitzen und durch regelhafte Zuordnung ihrer Glieder zu Aussagen zusammengestellt werden können.

Um diese Frage geht der Streit, auch wenn sein Gegenstand nicht so benannt wird. Ich muss noch einmal auf Hugo Häring zurückkommen, der mit erstaunlicher Klarheit den Gegensatz der Auffassungen erkannt, doch ihn im Lichte der Auseinandersetzung mit dem historischen und „geometrischen“ Formalismus interpretieren musste. Seine Kritik richtete sich gegen eine Gestaltung „von außen“ her und er meinte damit nicht nur die Beziehung von innen und außen am Gebäude. Er wollte nicht nur die Fassade vom Innenräumlichen her entwickeln wie seine funktionalistischen Kollegen der 20er Jahre, sondern er meinte mit „außen“ ein dem Gegenstand äußerliches Gestaltungsprinzip, etwas, das von außen an die Gestaltungsentscheidungen herangetragen wird, während er die Entwicklung der Form nur von den Eigenarten des Gegenstandes selbst bestimmen lassen wollte. „Wir wollen die Dinge aufsuchen und sie ihre eigenen Gestalten entfalten zu lassen. Es widerspricht uns, ihnen eine Form zu geben, irgendwelche abgeleiteten Gesetze auf sie zu übertragen.“ /14/

Die abgeleiteten Gesetze, die Häring nicht will, lassen sich durchaus als die Normative einer Formensprache verstehen. Es könnten eingebürgerte Formen sein, die schon fertig sind, solche, die nicht aus der Bauaufgabe selbst erwachsen, sondern einem vorhandenen Formenschatz entnommen werden. Will der Architekt, dass die Menschen seine Formen verstehen, muss er aber die seinen Entwurf zugrunde liegenden Faktoren auf ein Sprachsystem projezieren, d.h. er muss ein Regelwerk, das außerhalb seiner Kompetenz und seines Entwurfes besteht und aus einem gesellschaftlichen
Kulturprozess hervorgegangen ist, als Autorität akzeptieren. Häring aber scheint etwas anderes zu wollen, er wollte den „Gebrauchsgegenstand … dem Zugriff einer ihm fremden Gestaltmacht“ entziehen. /15/ Er sagte: „Wollen wir also formfindung, nicht zwangsform, so befänden wir uns in einklang mit der natur.“ /16/

Es ist wichtig, dass man Härings Haltung richtig interpretiert. Zunächst ist die bekannte Überbetonung des natürlichen Wesens der Dinge zu bemerken, während der kulturelle Umkreis, in dem die Dinge wirken, vernachlässigt wird. Deshalb will er die Entfaltung der „eigengestalt der dinge“, der „individuellen wesenheit“ und lehnt „fremde gestaltmächte“ ab, die zur „zwangsform“ führten. Was ist aber eine „fremde Gestaltmacht“? Was Häring darunter verstand, geht aus seiner Programmatik hervor. Sie galt der „befreiung der gegenstände von den verkleidungen der stiltrachten, die sie erleiden mussten. Das führte zunächst dazu, dass man neue stiltrachten für sie erfand …“ /17/, und er meinte damit den geometrischen Stil der Rechtwinkligkeit. /18/ Ein aufgesetzter Formenkanon gleich welchen Couleurs war ihm zuwider, aber man kann daraus nicht eine Gegnerschaft zu der von uns hervorgehobenen Sprachlichkeit der Formen ablesen, wenngleich ihm diese Denkweise auch fremd war.

Sein Fehler war, nur die eine Seite der Entwicklung der Form zu sehen, nämlich die aus ihren konkreten Bedingungen heraus. Er wollte, dass die Form nicht schon vorgewusst, schon fertig ist, bevor der Gestaltungsvorgang beginnt. Er übersah aber neben diesen richtigen Gedanken, dass Gestaltung ohne „Vorgewusstes, ohne ein Repertoire an im Kopf gespeicherten Formen nicht auskommt, allerdings ein Repertoire, das die Formfindung nicht überflüssig macht, das nicht fertige formale Lösungen den Dingen überstülpt, sondern nur Elemente und Kombinationsregeln bereithält, um den Zusammenhang zur bestehenden Kultur und damit die Vermittlungsfähigkeit der Formen zu sichern. Diese positive Funktion von Regeln und Konventionen konnten auch die progressiven Architekten der Moderne, wie Häring, damals nicht erfassen. Sie wandten sich gegen erstarrte Regeln in der Art von aufgesetzten Stilen und anderen formalen Dogmen. Statt der äußerlichen Formulierung ist ein inneres Erfassen des neuen künstlerischen Problems von nöten. „Geist an Stelle von Formel“, so hatte Gropius seine Intentionen ausgedrückt. /19/

Es war die Verachtung der überkommenen Konventionen, die nur noch gedankenlos wiederholt worden waren, und es war die Suche nach neuen Lösungen, die den sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen entsprachen. Gropius‘ radikale Entwurfsmethodik war ein Schritt der Befreiung aus sinnlos gewordenen Raumordnungen und Formklischees und als solcher von richtungsweisender Bedeutung.
Die Erstarrungen betrafen nicht nur die Formenssprache, sondern auch funktionell-praktische Ordnungen und darüber hinaus die gesamte Lebensweise, die aus ihrer bürgerlichen Enge zu befreien damals begonnen wurde. Doch seine geistigen, schöpferischen Potenzen kann der Architekt nicht nur im Neuordnen der Faktoren und Bedingungen verbrauchen; er muss sie auf die Form übertragen, und zwar in einem Prozess, der die Formen als sinnliches Material für die Rezipienten aufbereitet; er sollte nicht nur Geist haben, sondern ihn auch ausdrücken.

Form muss funktional gedacht werden und d.h. ins Verhältnis zu den konsumierenden Subjekten, zu ihrer Kultur gesetzt werden. Das ist ein aktiver Prozess, in dem die Formen für die Konsumenten aufbereitet werden, und zwar so, dass sie von ihnen verstanden werden und dort beabsichtigte Wirkungen auslösen. „Die Wahrheit kann man nicht eben schreiben, man muss sie durchaus
jemandem schreiben“ hatte Brecht zur Dichtung gesagt und: „Die Wahrheit muss mit Berechnung gesagt … werden.“ /20/ In gleicher Weise muss auch der Architekt die Faktoren seines Entwurfes so zur Form bringen, dass sie die Adressaten der Produkte geistig-emotional erreichen. Einer solchen Bezogenheit der Gestaltung auf den Adressaten liegt ein völlig anderes Prinzip zugrunde als dem subjektiven Drang, den Entwurf zu „verschönern“, nämlich das Prinzip der Kommunikation. Unter diesem Prinzip wird auch die Gestaltung beziehungsreich, verliert die Form die in sich ruhende Unbeweglichkeit, ihre Reflektivität; sie wird zu einem prozessualen Medium.

Das hat zur Folge, dass der Architekt unter dem ideell-ästhetischen Aspekt seines Entwurfes eine ebenso hohe Beziehungsdichte entwickelt, wie unter dem materiell-praktischen. Er wird dabei -immer im dialektischen Verhältnis zu den praktischen und technischen Anforderungen- im Prozess der Herausbildung der Form mit seiner gesamten emotionalen und rationalen Befindlichkeit und natürlich mit dem Produkt seiner Tätigkeit Beziehungen eingehen

a) zur Wirklichkeit sozialer und technischer Entwicklungen
b) zu den Adressaten (Bewohnern und Touristen)
c) zum Kulturprozess (zum Prozess der materiellen und geistigen Kultur) und
d) zum gegenständlichen Kontext (der natürlichen und baulichen Umgebung).

Das heißt, er muss eine Menge von inneren und äußeren Faktoren auf eine Weise verbinden, die eine äußerst „komplizierte, widerspruchsvolle Übersetzung von Materiellem in Ideelles“ /21/ darstellt. Dieses Übersetzen ist das Kernstück der Gestaltung, nicht aber die Kompromisssuche zwischen den widerspruchsvollen Faktoren und erst recht nicht der freie Lauf der materiellen Bedingungen in die
sinnlichen Formen des Gegenstandes. Gestalten ist der schöpferische Prozess der ästhetischen Formulierung von gegenständlichen Aussagen, die die Bedingungen und Faktoren des Produktes wie seine potentiellen Funktionen in der Sprache des Gegenstandes ausdrücken, wobei diese konkrete Ausdrucksweise mit einer allgemeinen zeittypischen Formensprache und den Duktus der Klasse von Gegenständen, ihrem Typus, korrespondiert. Die Sprachlichkeit der Architektur ist ein Regulativ der Formgebung, das keineswegs nur ästhetischem Formwillen folgt, diesen sogar dort, wo er zu selbstherrlich auftritt, in seine architekturspezifischen Schranken verweist; sie ist dagegen jenes kulturelle Faktum, das – ähnlich wie der Typus – die komplexe praktische, technische, ökonomische, soziale, psychische … Anforderungsstruktur reflektiert, diese aber als Form ausspricht.

Die Überwindung starrer Glaubenssätze darf nicht verwechselt werden mit der Auflösung alles Hergebrachten überhaupt. Für die ästhetische Seite stellt sich das Verhältnis von Altem und Neuem auf eine besonders komplexe Weise, weil die mitteilenden Elemente immer etwas Bekanntes haben müssen, die Mitteilung selbst aber neu ist. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist nur durch eine Gestaltung möglich, die sich auf ein ästhetisches System mit Sprachcharakter beruft. Es besteht aus
relativ stabilen Bedeutungsträgern und Regeln für deren Kombination, die solcherart sind, dass das Bekannte stets zum Informationsträger, das Unbekannte aber zur Information wird. Auf diese Weise, d.h. im Rahmen sprachlicher Regeln doch fern von starren Kanons und auch jenseits von subjektiver Willkür, ist fast grenzenlose Kreativität möglich, die gepaart ist mit der Verständlichkeit des Ergebnisses.

Die Frage drängt sich auf, wie das Innere nach außen vermittelt werden kann, so dass es dort sinnlich präsent wird. Sie ist in das allgemeinere Problem eingeschlossen, wie Faktoren, Funktionen,
Beziehungen und dergleichen Aspekte der Architektur, die für das Erleben, die Nutzung und Aneignung von Architektur interessant sind, in ihrer äußeren Erscheinung zum Ausdruck kommen.

Glas kann den Einblick unmittelbar verschaffen, aber nur den Einblick auf das unmittelbar dahinter Liegende. Die Komplexität der gesellschaftlichen Entität von Architektur kann auf diese Weise aber nicht zum Ausdruck kommen, dafür wären Formen nötig, die viel mehr als den Raum oder die Stützen dahinter repräsentieren. Formen also, die im Verhältnis zu dem Wenigen, was sie verbergen, unendlich mehr offenbaren. Solche Formen enthalten die relevanten Fakten,als Bedeutungen, sie sind also nicht selbst diese Fakten, sondern repräsentieren sie nur. Sie stellen einen geistigen Bezug zum Inhalt der Bauaufgabe und zu den Mitteln ihrer Lösung her, besonders zu denjenigen Teilen, die für die umfassende Aneignung der Architektur durch die Menschen wichtig sind.

Solche Formen haben Zeichencharakter, es sind Bedeutungeträger, die selbst relativ einfach strukturiert sein können, aber die Fähigkeit haben, komplexe Strukturen zu repräsentieren. /22/ Entsprechend der unterschiedlichen Art, wie das Bezeichnete vermittelt wird, unterscheidet man in der Semiotik Zeichen und Anzeichen. Formelemente mit einem evidenten kausalen Hintergrund, die so ausgeformt sind, dass sie ihre Herkunft ausdrücken,sind Anzeichen. Sie zeigen eine Beziehung der Form zu einem Faktor an, der für den Betrachter, der nur die bauliche Form wahrnimmt geistig reproduzierbar ist, so dass er bei Wahrnehmung der Form auf den Faktor (oder die Faktorengruppe) schließen kann. Formen dagegen, die etwas ausdrücken, dass in keinem kausalen Bezug zu ihnen steht, sondern ihnen lediglich durch einen Bewusstseinsakt zugegeben wurde, sind Zeichen oder Symbole. Die Festsetzung, welche Bedeutung welcher Form zugesprochen wird, ist Resultat der geistigen Kultur einer Gesellschaft und der sie tragenden Individuen.

In jedem Falle präsentieren solche Formen nicht nur sich, sondern repräsentieren zugleich etwas von ihnen verschiedenes. Der gestalterische Umgang mit bedeutungstragenden Formen ist deshalb ein prinzipiell anderer als bei einer Ästhetik, die nur die außen liegenden Gestalt gewordenen Faktoren gelten und wirken lässt, sich aber um die Vermittlung des Unsichtbaren über das Sichtbare nicht kümmert.

Die komplexe Natur der in Architektur zum Ausdruck kommenden Fakten macht es notwendig, die zu vermittelnden Informationen zu Aussagen zu verdichten, die mit künstlerischen Mitteln erzeugt werden. Es sind solche Mittel, die die Faktoren nach Gesichtspunkten der Wirkung und der Rezeption vermitteln, in ihnen treffen sich die zu Inhalten der Form transformierten materiellen Bedingungen des Entwurfes mit den ästhetischen Interessen des Publikums. Den Ausgleich und den Entwicklunbgsvorlauf schafft in diesem Prozess der Architekt durch seine Gestaltungstätigkeit. Er muss dabei Formengebilde erzeugen, die ihre architektonischen Aussagen durch das ästhetische Zusammenspiel von Anzeichen, Symbolen, Ausdrücken, rhetorischen Figuren usw. gewinnen, die also das ganze Spektrum künstlerischer Gestaltungsmittel enthalten.

Anmerkungen
/l/ Häring, Hugo: Wege zur Form. – In: Die Form. 1925. (Erste Ausgabe der Werkbundzeitschrift).
– Nachdruck in: Stadt (1982) 5. – S. 4-5.
/2/ Hirdina, Karin: Der Funktionalismus und seine Kritiker.- In: Form und Zweck. – Berlin 7 (1975) 3, S. 10
/3/ Mies van der Rohe, Ludwig: Aphorismen über Architektur und Form.
– In: Johnson, P. C.: Mies van der Rohe. -Stuttgart 1929. – S. 153
/4/ Onsell ist beispielsweise der Meinung, „… daß ihre, Wahrheit und Schönheit auf zwei Komponenten beruht dem trenszendentalen Wesen und dem materiellen Stoff“.
Onsell, Max: Ausdruck und Wirklichkeit. Versuch über den Historismus in der Baukunst. – Braunschweig 1981 (Bauwelt Fundamente 57). – S. 101
/5/ Gropius, Walter: Grundsätze der Bauhausproduktion (1926). -wiederveröffentlicht in:
Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. – Gütersloh, Berlin, München1964 (Bauwelt Fundamente 1). – S. 90 Die „natürliche“ Begründung der architektonischen Form hat viele Varianten. Neben biologischen Determinanten werden technisch-konstruktive Bedingungen zum „obersten Gebot“, erkoren, so bei C. Siegel: „Die Strukturform ist ein für unsere Zeit typisches Mittel der architektonischen Aussage. Sie entsteht auf jenem ganz bestimmten Wege der Gestaltung, für den die naturgesetzliche Ordnung als oberstes Gebot wirksam ist.“ Siegel, Curt: Strukturformen der modernen Architektur. -München 1960. – S. 6
/6/ Häring, Hugo: Wege zur Form. a. a. 0.
/7/ „Lakonische Klarheit half seiner Zeit der modernen Architektur, ihre neuen Prinzipien zu deklarieren: „Einfach bedeutet modern“, „einfach bedeutet zweckmäßig“ usw.
Vgl. Ikonnikow. Andrej: Das Gedächtnis der Stadt. – In: Sputnik (1981) 9. – S. 94-103. Zitat S. 95.
/8/ Norberg-Schulz, Christian: Vom Sinn des Bauens. Die Architektur des Abendlandes von der Antike bis zur Gegenwart.- Stuttgart 1979. –S.207/209
/9/ Onsell, Max: Ausdruck und Wirklichkeit, a.a.O. – S. 89
/10/ häring, hugo: geometrie und organik, – In: Baukunst und Werkform, Sept. 1951. wiederveröffentlicht in: Heinrich Lauterbach, und Jürgen Joedicke: Hugo Häring – Schriften, Entwürfe, Bauten. (Dokumente der modernen Architektur, Bd.4). – Stuttgart 1965, S.13 f.
/11/ Milde,Kurt: Zur historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Funktion architektonischer Umwelt. – Diss. B, TU Dresden 1973, S. 52
/12/ Magistretti, Vico: I have the most possible freedom (Ich habe die größtmögliche Freiheit) – In: Designer, London (1981) Dezember. – S. 10-12
/13/ Künstlerische Sprachen zeichnen sich neben einer besonderen Organisation ihres Materials,
der Ambiguität ihrer Formen usw. vor allem dadurch aus, dass ihre Symbole sich selbst und etwas anderes (das Bezeichnete) in spezifischer Einheit repräsentieren. E. John unterscheidet eine besondere Klasse von Zeichen: die „künstlerischen Zeichen“.
In: Probleme der marxistisch-leninistischen Ästhetik Bd. 1. Kunst und Wirklichkeit. – Halle 1976. – S. 156.
/14/ Häring, Hugo: Wege zur Form a.a.O.
/15/ Häring, Hugo: vom neuen bauen. – Berlin (West) 1952 – S. 4.
/16/ Häring, Hugo: Wege zur Form a.a.O.
/17/ Häring, Hugo: vom neuen bauen. a.a.O.
/18/ Für Häring wer der geometrische Formalismus nicht Teil, sondern Gegenteil des neuen Bauens: „Das neue bauen, das von der wesenheit des neu zu schaffenden ausgeht, bedeutet eine umkehr des gestaltschaffens, das in dem lehrgang der geometrie ausgeübt wurde. Auch dies ist jedoch nur eine rückkehr zu dem prinzip, das unser vorgeometrisches schaffen gelenkt hat.“
Häring, Hugo: vom neuen bauen. – Berlin (West) 1952 – S. 13.
/19/ Weber, Helmut: Walter Gropius und das Faguswerk. – München 1961. – S. 28.
/20/ Brecht. Berthold: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1-2. Berlin und Weimar 1966. – Bd. 1, S. 276.
/21/ MEW, Bd. 23. – S. 27.
/22/ In der industriellen Formgestaltung sind parallele Erscheinungen vorhanden. Die gestalterische Lösung der zur Unanschaulichkeit tendierenden Produktform sieht H. Oehlke „in einer stärkeren Hinwendung zu den semantischen Bezügen des Produkts in seiner zeichenhaften und Zeichen setzenden Bedeutung.“ Oehlke, Horst: Visualisierung als Aufgabe funktionaler Gestaltungsweise.
– In: Form und Zweck 14 (1982) 6. – S. 36-40. Zitat S. 40.

Von den Faktoren zur Form.
in: Wertorientierung und Konzeptbildung im Design. 8. Designtheoretisches Kolloquium an der Hochschule für Industrielle Formgestaltung Halle, Burg Giebichenstein. – Halle 1985. – S. 83-105.

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