Olaf Weber, Vortrag (1976)
Über die Erscheinungsweise von Architektur und die Aufgaben der Gestaltung
Fragen der architektonischen Erscheinung sind überall gegenwärtig. Sei es, daß sie noch aus einer Zeit herübergerettet wurden, als Architektur noch stärker als Kunst in unserem Bewußtsein war, sei es, daß das prognostische Denken über die Zeit, in der wir es – nämlich den Wohnungsbau – quantitativ geschafft haben werden, unser Nachdenken über Formprobleme bestimmt oder sei es auch, daß wir die Gegenwart unserer Praxis reflektieren und versuchen, das schmale Feld zwischen den technisch-ökonomischen Faktoren mit Formentscheidungen auszufüllen. Jedenfalls braucht niemand das Problem der architektonischen Erscheinung aus der Mottenkiste der Theorie zu ziehen. Formfragen werden z.T. sogar überbewertet, zum zentralen Thema des Architekten aufgebauscht, der doch der Anwalt der Gesamtinteressen des künftigen Nutzers ist und der will nicht nur was für`s Auge. Aber es herrscht ein eigenartiger Widerspruch zwischen Empfinden, daß Planung und Gestaltung der Erscheinungsweise unserer Städte wichtig sind und immer wichtiger werden und dem Wissen um die Formen und ihre Wirkungen auf den Menschen. Architekten sind sich der fehlenden Kenntnisse auf diesem Gebiet durchaus bewußt und äußern immer lauter die Forderung nach einem Kriteriensystem, nach dem bauliche Formen bewertet und erzeugt werden können. Das Fehlen eines solchen Kriteriensystems ist aber positiv mindestens dadurch, daß es das alte, zum Schluß kitschige, hinter der Wirklichkeit zurückgebliebene Normativ nicht mehr gibt. Niemand ist in der Lage, ein neues geschlossenes Kriteriensystem aus der Tasche zu ziehen und das ist auch mehr gut als schlecht, denn es zeugt davon, daß es heute nicht mehr möglich ist, einfach ein Dogma zur Norm zu erheben. Was als Kriterium gelten soll, muß die Theorie behutsam aus der Wirklichkeit abheben und an den Leitbildern unserer Entwicklung reflektieren. Die neuen Regeln des Bauens werden sich –nebenbei bemerkt- mehr durch Bauen als durch Räsonieren über das Gebaute herausbilden. Das Nachdenken dient aber dazu, zwischen die materiellen Faktoren der Bauproduktion und das entstehende Produkt immer mehr Selbstgestaltungswillen der Gesellschaft einzubringen.
Heute beeinflußt die Gesellschaft die entstehende Architektur noch mehr durch technisch-ökonomische Faktoren als durch gestalterische Leitsätze, also immer noch wirken bezüglich der Erscheinungsweise blinde Mechanismen. Echte Gestaltungskriterien bilden sich in dem Maße, in dem wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse die Ebene der Praktikabilität erreicht haben. Was aber praktikabel ist, darüber entscheidet auch das theoretische Niveau der Architektenschaft, die schöpferisch anwenden muß, was für sie immer nur auf abstrakterer Ebene theoretisch formuliert werden kann.
Gestaltungskriterien sind hierarchisch geordnet. Sie zuerst auf unterster Ebene bestimmen zu wollen –etwa im Fragebereich, ob gerade oder gekrümmte Formen bevorzugt werden sollen, hieße formalistisch vorzugehen. Es kommt dagegen jetzt darauf an, den Sinn und Zweck, die Funktionen und Ziele der Gestaltung zu bestimmen, über die noch große Unklarheit herrscht. Für die Gestaltungskriterien, die jeweils Ziele und Mittel beinhalten, müssen jetzt konkrete Ziele definiert werden, für die wir dann die Mittel (das Repertoire an Formen) testen müssen. Ich will in meinem Vortrag dieses Thema in den Vordergrund rücken:
Die Aufgaben der Gestaltung und die Funktion der Erscheinung.
Zunächst zu den Begriffen. „Gestalten“ heißt, auf Gegenstände, Prozesse usw. einwirken und sie verändern, so daß sie eine sinnvolle Gestalt bekommen. Kriterium für Gestalten ist das Funktionieren des gestalteten Gegenstandes. Wird ein Gegenstand gestaltet damit er funktioniert indem er auf das Bewußtsein, die Psyche eines Menschen oder die Ideologie einer Gesellschaft einwirkt, so nenne ich den Vorgang „informationelles Gestalten“ – weil hier der informationelle Aspekt der Beziehung des Gegenstandes zum Menschen entscheidend ist. Aber „ informationelles Gestalten“ ist ein Aspekt jedes Gestaltungsvorganges, wie die Information jedem Ding oder Ereignis anhaftet. Es ist eine theoretische Sicht, die nicht abhängig ist von der Absicht des Gestalters, ob er etwas ausdrücken wollte oder nicht. Die informationellen Beziehungen zwischen Architektur und Mensch sind sehr vielgestaltig. Im folgenden Schema sind sie dargestellt. (Schema)
Erfahrungen mit Architektur, mit ähnlichen oder denselben baulichen Strukturen werden im Gedächtnis gespeichert und liegen als Präinformationen vor. Ihnen werden aktuelle Informationen aus direkter und indirekter Kopplung überlagert. Direkte Kopplungen vollziehen sich auf dreierlei Art:
a) die physiologischen Einwirkungen (Wärme, Kälte, Steigung, Wind) werden empfunden und damit bewußt,
b) äußere Rezeptoren signalisieren architektonische Reize –besonders optisch, aber auch taktil, kinästhetisch und akustisch und
c) das eigene Verhalten -durch bauliche Informationen schon gesteuert, wird auf höherer Ebene erneut bewußt und damit die architektonische Bedingtheit des Verhaltens.
Neben diesen direkten Kopplungen erhält der Mensch Informationen über Architektur durch andere Träger (Metakommunikation), z.B. durch Zeitungen, Bücher, Bilder usw., aber auch durch keine eigentlichen Kommunikationsmittel, wie den Bewegungen von Fußgängern, aus denen architektonische Zusammenhänge geschlossen werden können.
Unter Erscheinung verstehen wir lediglich den visuell zugänglichen Teil der Informationsstruktur, also einen Teil unter vielen – allerdings einen, der durch die beherrschende Rolle des Gesichtssinnes, nämlich 80% der Aufnahmekapazitäten aller unserer Sinne, besonders wichtig ist. Visuell zugängig sind die Elemente unserer Umwelt natürlich sehr unterschiedlich, abhängig von der Ausbildung der Räume und der Bewegung der Nutzer.
Die Vielschichtigkeit der informationellen Kopplung von Architektur und Nutzer erzeugt eine ganz neue Qualität von Wirkung, also von architektonischem Bewußtsein im Nutzer, dergegenüber die Vorstellung des Architekten von der Wirkung seiner Fassadenbemalung kümmerlich ist. Diese Vielschichtigkeit der Mittel und Wege, auf denen der Mensch Informationen über Architektur erlangt, ist vor allem eine Folge davon, daß das Ideelle in der Architektur besonders tief in die praktische Sphäre eingetaucht ist. Die enge Kopplung an die Welt der praktischen Dinge verhilft auch dazu, daß Widersprüche zwischen Proklamation im Ausdruck und realer Produktion von Lebensweise erlebbar werden, daß sich z.B. gebaute Lügen schneller entlarven als gesprochene oder geschriebene, daß Talmi, Maskerade und Zierrat eben auch als solche, als Kosmetik, Bombast und Drapisserie erkannt und verhöhnt werden. Wenn zum Beispiel eine Fassade über das Auge Vielfalt und Lebendigkeit verspricht, die sich aber nicht in den Anregungen wiederholt die das Bauwerk den Handlungen und Haltungen der Nutzer vermittelt und so praktisch bewußt wird, dann erlebt jedes Individuum diesen Konflikt und wertet die Architektur entsprechend negativ.
Zu welchem Zweck werden nun die beschriebenen informationellen Beziehungen vom Architekten gestaltet?
Ich behaupte, die meisten Formen entstehen ohne bewußte Formentscheidung, also ohne informationelle Gestaltungsabsicht und müssen erst einmal in unser Thema herübergeholt werden. Wo aber Architekten bewußt (als Absicht oder Vorhaben) oder unbewußt (als Ziel oder Tendenz) ihr Material zum Zwecke der Wahrnehmung formen, da besteht ihr Motiv meist nur darin, das Optische etwas aufzubessern, das auffallend Häßliche, Ungewohnte zu mildern, die Form der Norm anzugleichen. Nur selten wird hinter dieser Tätigkeit ein dumpfer Zweck begriffen, etwa eine positive sinnliche Bejahung beim Betrachter herbeizuführen. Für diese Haltung ist typisch, daß die informationellen Aspekte isoliert werden, sie werden zu anmontierten, zweckfreien Zutaten. Das betrifft sowohl den Entwurfsprozeß, an dessen terminüberschattetes Ende den vorangegangenen, unwiderruflichen „materiell-praktischen“ Entscheidungen ein paar hastige Formdiskussionen angefügt werden, die die verbliebene Variationsbreite ausfüllen sollen, das betrifft auch den Träger des Ausdrucks, der vor die nur zweckerfüllenden und darum nichtssagenkönnenden Bauteile vorgesetzt oder aufgeklebt wird, anstatt die funktionserfüllenden Bauteile selbst zu Informationsträgern zu bestimmen. (Solche Auffassungen existieren nicht nur in solchen Perioden, in denen die Architekten –wie das Goethe einmal genannt hat- mit den Konditoren in eine Schule gegenagen sind, sondern beispielsweise auch in unserer Vorhangwandperiode, wo den konstruktiven und funktionellen Elementen nicht zugemutet wird, zu erscheinen). Und letztlich tritt die undialektische isolierende Haltung nicht nur in Entscheidungsfolgen des Entwurfprozesses und nicht nur bezüglich der Elemente, die einzig und allein als Ausdrucksträger reserviert werden, auf, sondern auch gegenüber dem Inhalt dieser Formen, ihren Bedeutungen. Diese werden in einen idealen Raum versetzt, fern von jeder materiellen Zweckmäßigkeit und losgelöst vom tätigen Subjekt. Ich werde darüber noch mehr sagen.
Diesen falschen Konzeptionen, die ihre Vergegenständlichungen auch in unserer Wirklichkeit haben, müssen wir die Auffassung von einer aktiven, funktionierenden, d.h. Einfluß ausübenden Erscheinungsweise entgegensetzen, die die Totalität der Architektur in ihrem Verhältnis zum Menschen ideell vertritt. Es geht nicht um ein indifferentes Verschönern der äußeren Hülle als reines Formproblem oder lediglich als Problem des Wohlbefindens. Es geht darum, die Erscheinung unserer baulichen Umwelt als funktionierendes Moment zu begreifen, das optimiert werden kann und keine Luxus-, sondern eine Gebrauchswerteigenschaft besitzt. Wir müssen deshalb nicht einen ästhetischen Ausgangspunkt sondern einen politisch-ethischen vertreten. Architektur muß nicht nur Raum geben, sondern auch Einfluß nehmen. Sie muß nicht nur Situationen befestigen, sondern auch mobil machen, sie muß Widersprüche aufdecken und lösen helfen, sie muß eine vielseitige Beanspruchung erzeugen, sie muß zur Lebendigkeit verhelfen. Sie kann als räumlicher Katalysator der sozialen Entwicklung wirken.
Um das zu erreichen, muß sie zunächst ihre eigene Verfügbarkeit gegenüber den Nutzern herstellen. Sie muß sich deshalb selbst mitteilen, ausdrücken und dem Nutzer zur Entdeckung der Möglichkeiten ihres Gebrauchs verhelfen. Wir können uns nicht mehr mit der Feststellung begnügen, daß es eine materielle und eine ideelle Seite in der Architektur gibt –das ist ein Gemeinplatz, der allerdings auch noch pervertiert werden kann: das Materielle wird meist mit dem Zweckmäßigen oder mit der Funktion, das Ideelle mit dem Schönen als Zutat identifiziert. Wir müssen dagegen die Komponenten des Ideellen und Materiellen in ihrer konkreten gegenseitigen Bedingtheit erfassen. Indem die Erscheinungsweise architekturspezifisch funktionalisiert wird, wiederholt sich das Materielle im Ideellen – es wird ausgedrückt- und das Ideelle im Materiellen –es wird wirklich.
Das Ideelle des Ausdrucks macht das Materielle dem Nutzer verfügbar. Man kann sogar sagen: erst durch bauliche Information wird das Physikalische des zur Stadt gestapelten Baumaterials zur Architektur, zum Bewohnbaren. „Verfügbar machen“ –das heißt für das informationelle Gestalten, die Architektur für den Nutzer dort transparent zu machen, wo seine praktische Annäherung an die Architektur differenziertes Wissen, intensiverer Empfindungen usw. bedarf. Und Transparenz erzeugen wir nicht so sehr mit Glas sondern mit bedeutungstragenden Formen und das sind Zeichen, die Nicht-Wahrnehmbares zur Erscheinung bringen.
Dabei können wir die Eigenschaft vieler baulicher Formen in Anspruch nehmen, sich selbst und etwas anderes ideell präsentieren zu können und damit mehrfache Wirkungen hervorzurufen. Formen bilden sich selbst im Bewußtsein ab und assoziieren weitere Gedanken, Motive, Emotionen usw.. Auf diese Weise können wir die Stadt durch ihre Teile vertreten lassen, Ober- durch Unterirdisches, Dahinter- durch Davorliegendes, Ganzheiten durch Andeutungen, Funktionen durch Schauspiele, Gesellschaftliches durch Bauliches, das Eine durch das Andere repräsentieren lassen. Dabei geht es nicht um plumpes Vorzeigen aller Teile, Konstruktionen, Faktoren, Zusammenhänge usw. sondern um ein effizientes Angebot an Information, das auch mit schwachen Andeutungen, mit Metaphern und Symbolen auskommt – ja, diese notwendigerweise beinhalten muß. Was die Nutzer an Wissensvermittlung, Anregung oder Aufforderung erfahren –also die gesamte Einflußnahme der Architektur – wollen wir nicht durch Manipulation oder Überrumpelung erreichen (das höchstens im kontrollierbaren Detail), sondern durch eine Auffassung, die den Nutzer als Mündigen betrachtet und ihn gleichzeitig mündig macht, also befähigt, seine eigenen Lebensprozesse im sozialräumlichen Feld der Architektur zu organisieren.
Mit solchen knappen Aussagen zur Zielstellung der Gestaltung ist natürlich eine ganze Reihe von Problemen verbunden. Was heißt es zum Beispiel, den Aussagewert der Architektur zu erhöhen, ihre informationelle Potenz zu steigern, ihr Richtungen zu geben? Heißt es nicht eben, sie in die Reihe der Massenkommunikationsmittel einzuordnen, weil sie für alle allgegenwärtig ist? Auch wenn Architektur nur unter anderem Kommunikationsmittel ist, so steht sie doch bezüglich einer allgemeinen informationellen Potenz zu den Massenmedien in einem konkurrierenden Verhältnis, das uns immer mehr mit Reizen überflutet. Unsere Zeitgenossen leiden an Überresonanz der Reize, die von Werbung, Rundfunk, Fernsehen usw. ausgehen. Diese Konkurrenz der Kommunikationsmittel darf nicht zur informationellen Unterdrückung des Menschen führen. Bezüglich des Menschen muß alles –auch Architektur- nur Hintergrund sein. Unter diesem Aspekt ist die Langeweile in unseren Wohngebieten sogar positiv zu bewerten, kann sich doch hier der Informationsempfänger Mensch an der monotonen Abstinenz urbaner Reize schön ausruhen. Aber das Problem ist eben, daß er nirgendwo anders die Informationen empfängt, die nur Architektur tragen kann und für sein sozialräumliches Verhalten notwendig sind. Architektur kann diese ideelle Funktion nicht erfüllen, wenn sie sich durch die Hilfszeichen der graphischen Symbole, Wörter, Zahlen usw. ersetzen läßt oder wenn sie marktschreierisch immer obstrusere Formen erfindet. Wir dürfen kein Erlahmen der Empfindsamkeit für Architektur zulassen.
Wenn wir die bauliche Erscheinung informationell begreifen, dann verfallen wir manchmal in den Fehler, sie nur als Übermittler von Gedanken des sendungsbewußten Architekten an den empfangsbereiten Nutzer zu sehen. Bei diesem Vorgang versucht der Sender die Identität der Nachricht zu erhalten, d.h. im Empfänger den eigenen psychischen Zustand (seine Ideen) zu reproduzieren. Er strebt dabei an, die Kommunikation zu maximieren, indem er möglichst viel Einstellungsänderung erzeugt und soviel Information vermittelt, wie das empfangene Subjekt gerade noch verarbeiten kann, ohne es für diesen Fall zu überfordern. Aber es wäre falsch, würden wir in jedem Gestaltungsakt dieses Leistungsoptimum innerhalb einer zielgerichteten Rhetorik anstreben. Der Architekt muß die Gesetze der kommunikativen Optimierung kennen, sie aber im Interesse der sozialräumlichen Totalität schöpferisch anwenden, also immer nur an urbane Ganzheiten das kommunikative Leistungskriterium stellen. Das ist die eine Ebene der Beeinflussung. Die zweite ist eine weniger zielgerichtete Kommunikation. Es werden dem Empfänger Impulse, Denkanstöße und Andeutungen übergeben, die er durch aktive Interpretationsleistungen in konkrete Informationen verwandelt. Die letzte der 3 Arten der Einflußnahme, die in einem komplexen Informationsmuster stets im Zusammenhang auftreten, ist das Angebot von leeren Speichern, das dem Grundbedürfnis aller Individuen nachkommt, Architektur zu deuten, in der Umwelt ihre Gedanken, Empfindungen, Gefühle, Werte usw. abzulagern, zu speichern und bei Gelegenheit abzurufen. Sender und Empfänger sind dabei die Nutzer. Solche geistige Vergegenständlichung hat den Vorteil, daß das Gedächtnis entlastet wird, indem nur der Kode zum Entschlüsseln der Nachricht nachgedacht wird. Auf diese Weise werden vor allem Ereignisse und Erlebnisse an bauliche Formen gebunden und dabei als Bedeutungen der Formen räumlich gespeichert. Kommunikative Vermittlungen realisiert die bauliche Erscheinung also nicht nur zwischen Architektur und Nutzer, sondern auch zwischen Nutzer und Nutzer, sogar zwischen verschiedenen zeitlichen Zuständen ein- und desselben Nutzers.
Die bauliche Umwelt führt nach ihrem Entstehen ein informationelles Eigenleben. Ihre Interpretation ist sowohl einer konkreten Geschichtlichkeit als auch dem soziologischen und psychologischen Zustand von Gruppen und Individuen unterworfen. Deshalb stellt bei der Analyse historischer Architektur mancher die falsche Frage, ob die Interpretation ihrer Architekten und Bauherren oder die unserer heutigen Nutzer die richtige sei. Eine umfassende Aneignung von Architektur ist aber nur im subjektiven Nachvollzug ihrer Geschichtlichkeit möglich, in dem das Werden, der Wandel und das Wirken als Prozeß erfahren und erlebt werden. Erhaltung und Rekonstruktion historischer Gebäude und Stadtstrukturen sind nicht nur von denkmalpflegerischen Interesse (als Ausdruck eines historischen Bewußtseins), sondern indem sie verhelfen, die Stadt im Prozeß ihres Wandels an Strukturen, auch von praktischen Funktionen und Erscheinungsbildern zu begreifen, auch vom praktischen Erfordernis für die Nutzer.
Weitere Probleme hängen mit dem Inhalt des architektonischen Ausdrucks, des Widergespiegelten, Repräsentierten, Bezeichneten oder wie immer wir es betrachten, zusammen. Hier ist eine grundlegende Unterscheidung notwendig. Es gibt Informationen, die sich dem Träger dieser Information gegenüber indifferent verhalten. Zeitungspapier und Druckerschwärze einerseits und die politische Nachricht andererseits sind wechselseitig fast ohne Einfluß. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, die Architektur als solches Kommunikationsmittel zu betrachten, dem man beliebige Inhalte geben kann. Die assoziativen Inhalte baulicher Formen sind ganz besonders eng an das Material gebunden. Wo das übersehen wird, dort entsteht kitschige Sentimentalität oder falscher Pathos, dort wird Paradearchitektur vorgeführt, die lackiertes Leben, das nicht von Menschen, sondern von einem idealen Menschenbild abgehoben ist, im schlechtesten Sinne repräsentiert. Die Spezifik der architektonischen Information ist, daß sie nicht nur ihrem baulichen Träger aufgeprägt ist, sondern ihm zugleich auf vielfältige Art zugehört. Auf diese Weise wird die Praktikabilität der Architektur verdoppelt: Sie funktioniert, indem sie das Funktionieren ausdrückt. Das physikalische des baulichen Materials tritt dem Menschen als eine Naturbegebenheit gegenüber. Erst durch eine soziale Konvention des Gebrauchs erhält es seinen Gebrauchswert und erst durch den Ausdruck des Gebrauchswertes wird es für den Nutzer verfügbar. Die materielle und die ideelle Seite der Architektur werden durch die jeweils andere zur praktischen. Das heißt, daß wir in den Formen zuerst das ausdrücken müssen, was das Bauwerk auch materiell ermöglicht oder determiniert. Das sind
1. die Bewegungen im Raum (Ein- und Ausgänge, Durchgänge, offene, geschlossene, fließende Räume, Bewegungsgeschwindigkeiten usw.);
2. Funktionskomplexe, die durch spezifische Nutzertechnologien gekennzeichnet sind (wie Schlafen, Essen, Arbeiten, Erholen, Zentrum, Kaufen, Vergnügen usw.) und
3. Verhaltensmodi, also Nuancen des Verhaltens und der Haltungen der Nutzer (das sind die Differenzierungen zwischen Kantine und Restaurant, Milchbar und Nachtbar usw.).
Die Raumbewegungen unterliegen der größeren kausalen Abhängigkeit von Architektur, die Verhaltensmodi sind in dieser Reihenfolge materiell am wenigsten determiniert. Deshalb wird zwischen den motorischen Aktivitäten und der Architektur auch eine logische Verbindung geknüpft, d.h., im semiotischen Sinne herrscht hier indexikalischer Bedeutungszusammenhang. Dagegen müssen Funktionskomplexe und noch mehr die Verhaltensmodi stärker symbolisch repräsentiert werden, sie werden also an die sie repräsentierenden Formen durch eine lose, zerbrechliche Vereinbarung gebunden, die wir meist unbewußt miteinander getroffen haben.
Es gibt natürlich viel mehr, das Architektur ausdrücken kann und ausdrückt. Um nur einiges aufzuzählen: die Eigentumsverhältnisse, die Sozialstruktur der Gesellschaft, der institutionelle Überbau, ästhetische Konzeptionen usw.. Und nicht alle geistigen Prozesse, die Architektur auslöst, werden in sozial-räumliche Aktivitäten umgemünzt. Aber –und das ist die These- alle diese Bedeutungen müssen auf den Ausdruck der Raummotorik, der Nutzungsspezifik und des Verhaltensmodus basieren, die den praktischen Informationsblock bilden. Sie können diese Bedeutungen erweitern und modifizieren, aber sie müssen sich immer an die praktischen Bedeutungen anlagern, sie dürfen sich nicht verselbstständigen und eigene Symbolformen hervorbringen, die mit der praktischen Nutzung nicht korrespondieren. Wir haben diese Suprematie der praktischen Information in unserer Architektur und Städtebau noch nicht durchsetzen können. Gerade die Perioden ihrer ideellen Aufladung –nämlich die frühen 50er Jahre und die Hochbauten Henselmanns- sind geradezu geprägt von einem Ausdrucksmangel praktischer Verfügbarkeit (abgesehen hier von Nutzungsmängeln, die in materiellen Faktoren der Raumorganisation, der Raumausstattung usw. begründet sind), sogar dem Vertuschen sozialräumlicher Prozesse, die übertüncht werden durch einen idealen Symbolismus, als dessen Ausdrucksträger zuerst Gipsschnackels und später hundertfach vergrößerter Krimskrams (wie Schrauben, Segel, Bücher, Fernrohre) gewählt wurde.
Trotz Rückschlägen und Fehler, trotz übertriebenem oder falschem Pathos, trotz antiquierter oder bombastischer Formen und trotz vielerorts zu simpler Bedeutungen, die mehr unserem Wortschatz als dem architektonischen Medium entstammen, dürfen wir zum Verzicht oder zur Geringschätzung des baulichen Ausdrucks nicht zurückkehren.
Die Produkte des Funktionalismus (wie des Konstruktivismus) beweisen, daß es ohne semantische Vermittlungen zwischen Material und Mensch nicht geht. Der Architekt hat kurzfristig keine andere Möglichkeit, als diese Vermittlungen durch die Gestaltung der materiellen Träger, also hauptsächlich durch Formgestaltung zu organisieren und er spekuliert dabei auf einen stabilen Kode, der die Bedeutungen an die Formen bindet. Wie die Geschichte zeigt, ist diese Hoffnung begründet, wenngleich sie uns auch Veränderlichkeit des Kodes vor Augen führt.
Die Kaufhalle von der Schwimmhalle zu unterscheiden ist für den leicht, der in der einen kauft und in der anderen schwimmt. Die praktische Nutzung der Architektur erschließt erst deren vollen Sinn und das Erkennen der Funktionen ersetzt nicht das „Schauspiel der Funktion selbst“(Barthes). Aber es ist für die Ökonomie und Ästhetik der Lebenstätigkeit in Architektur wichtig, das Erleben dieses Sinnes in ein frühes und „oberflächliches“ Stadium der Aneignung vorzuziehen –in das Wahrnehmen. Vom flüchtigen Blick bis zum Bewohnen hat jede Stufe der Aneignung und jede Stufe der Wahrnehmung einen besonderen Bedeutungsgehalt. Vom Standpunkt der praktischen Bedeutung stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Bauform und Tätigkeit, aber wohlgemerkt nach einem Zusammenhang im Bewußtsein, also nach einem (gesellschaftlichen) Kode, der es gestattet, von dem einen auf das andere zu schließen.
Wir machen ständig aus unserer praktischen Erfahrung eine Anschauung, um sie beim nächsten Kontakt mit dem Objekt erneut in Handeln umzusetzen. Wir speichern im Wahrnehmbaren unser Verhalten, das ist ein zutiefst informationelles, semiotisches, psychologisches, soziologisches Problem.
Wir antizipieren unsere Tätigkeit im architektonischen Zeichen.
Auf diese Weise kommt der größte Teil des Aufwandes an Informationen, an Ausdruck, Bedeutungen, Signalen, Zeichen. …, die der Nutzer aus der baulichen Landschaft sammelt, in Gestalt von Handlungen und Haltungen des Nutzers zum Bau zurück. Und anders herum betrachtet lädt sich im Kreislauf des Ideellen von Mensch zum Bauwerk und zurück zum Nutzer dieses Ideelle mit Strukturen dieser Materie „Bauwerk“ auf, die das Bauwerk dem Nutzer verfügbar machen und diesen selbst für den Gebrauch der Architektur disponieren.
So wird aus der Praxis eine Ikone, aber keine starre Chiffre, die einer Nutzungsform nur eine bestimmte bauliche Hieroglyphe zuweist, sondern eine sehr labile Gestalt, die sich unter dem Druck von Determinanten und Intentionen nur allzuleicht verformt.
(An dieser Stelle wurde eine Reihe von Dias gezeigt, die der bildhaften Anregung zur Unterstützung des Textes dienen sollten).
Liebe Kollegen! Ich möchte nun zusammenfassend auf unsere Begriffe zurückkommen. Die architektonische Form ist nicht das Ziel der Gestaltung (wie im Formalismus), sondern ihr wichtigstes Mittel. Es gibt heute unterschiedliche Niveaustufen beim Einsatz dieses Mittels. Ich will 5 solcher qualitativer Gestaltungsebenen unterscheiden.
Auf der ersten Ebene wird das Gewohnte erzeugt, indem das Erscheinungsbild möglichst unauffällig gemacht wird, z.T. werden auch negative Auswüchse einer „irgendwie“ entstandenen Bauform korrigiert. Das Motiv vieler Architekten besteht hierbei darin, einer öffentlichen Blamage zu entgehen, wenn man sich gestalterisch unsicher fühlt oder sogar um einen billigen Effekt zu erzielen. Bei diesem Vorgehen muß der Architekt nicht unbedingt nur einer Mode, er kann auch einem echten Trend folgen –z.B. die Fenster im Verbund anordnen, den Hochbaukörper vom Boden oder Flachbau abheben, stärkere Farben verwenden, Außenräume stärker schließen usw…
Dieses Anlehnen an das Gängige, Bekannte oder an den Trend ist dort abzulehnen, wo sich die Gestaltung darin erschöpft. Es ist positiv dort, wo es als ein Aspekt des Gestaltens auftritt, wo es die Herstellung einer kommunikativen Aquivalenz mit dem Nutzer, die informationelle Verarbeitung und das Verständnis der baulichen Formen betrifft. Erkannt und verstanden wird vom Betrachter nämlich nur die Form, die seinem geistigen Repertoire an Formen zugehört, wie wir auch nur bekannte Wörter verstehen. Aber dieser konservierende Rückgriff aufs Bekannte muß zum Mittel werden, um neue Inhalte, neue Zusammenhänge auszudrücken, sonst bleibt er formal und wirkt kitschig und reaktionär.
Die nächste Ebene der Gestaltung ist schon von schwachen, undeutlichen Funktionsabsichten begleitet: Die Umwelt soll schön sein, sie soll „Musike“ haben usw.. Das heißt, die Farben, Proportionen, Verteilungen, die gesamte bebaute Oberfläche soll eine positive sinnliche Bewertung erfahren, die Augen sollen sich wohlfühlen. Hier ist die ideelle Aneignung auf das Wahrnehmen, besonders auf das Sehen reduziert, die Gestaltungskonzeption bleibt noch formal. Aber was an Information zum Menschen will, muß die Empfehlung seiner Sinne haben. Das ist der positive Kern dieser Gestaltung.
Auf der dritten Ebene werden nicht nur die Formen, sondern auch ihre Bedeutungen komponiert. Es werden nicht nur die Abbilder, sondern auch die Assoziationen, nicht nur das Repräsentierte, sondern auch das Präsentierte in die Gestaltung mit einbezogen. Indem die Formen mit Bedeutungen versorgt werden, steigt der Reichtum an ideellen Erlebnissen sprunghaft an. Aber die Bedeutungen wie die Formen und ihr Zusammenhang (der Kode) haben noch nicht ihre architekturspezifische Ausprägung. Es werden Assoziationen versucht, die nichts mit Architektur zu tun haben, Formen gewählt, die ihr nicht zugehören und der Kode wird nicht erlebbar gemacht, sondern in Zeitschriften und Leuchtschriften umständlich erklärt. Es herrscht also Kommunikation, aber keine architektonische. Es besteht noch die Gefahr, daß das Ideelle dem Materiellen gegenüber isoliert bleibt, daß der Schein das Sein nicht nur ideell, sondern überhaupt vertritt. Das ist meist dann der Fall, wenn die Bedürfnisse an den Objekten selbst nicht befriedigt werden können. Dann nehmen, wie der Semiotiker Morris sagt, die Zeichen mehr und mehr die Stelle des Objektes ein.
Auf der vierten Ebene ist der Widerspruch zwischen materiellen und ideellen Momenten in der baulichen Ganzheit aufgelöst. Die Erscheinung ist funktionalisiert und die Wahrnehmung ist Teil und Vorwegnahme der Nutzung. Die Erscheinung besitzt nicht nur eine Funktion, sondern sie vermittelt auch eine. Sie konkretisiert die Möglichkeiten des Materials und dieses lokalisiert die allgemeine Idee. Der praktische Informationsblock bildet den Kern, an dem alle anderen Bedeutungen reflektiert werden. Handlungen und Haltungen im sozialräumlichen Feld der Architektur bilden Ausgangspunkt, Ziel oder Vermittlungen aller Assoziationsprozesse.
Auf letzter Ebene schließlich werden die Formen so gestaltet, daß sich ihre sinnliche Wahrnehmung mit der Fülle von Assoziationen anreichert, die über den praktischen Gebrauch hinausgehen oder diesen vorbereiten. Dabei werden z.B. über die Bedeutungsketten von Raum und Körper, Bewegung im Raum, Nutzungsspezifik, Verhaltensweise bis zur Lebensweise wichtige Momente der gesellschaftlichen Totalität zur Repräsentation gebracht, die auch in der Anschauung und Nutzung bewußtseinsbildend sind. In diesem Prozeß werden eine Menge von allgemeinen und individuellen Interpretationskodes in der Einheit von Aufforderung, Anregung und Angeboten leerer Formen aktiviert. Hier geht es schon längst nicht mehr nur um die Erscheinungsweise, sondern um die Gestaltung des sozialräumlichen Verhaltens der Nutzer, ihres Lebensgefühls und ihrer Lebensweise und darüber hinaus um Gesellschaft, die sich in Architektur im Materiellen und im Ideellen, vor allem aber im Verhältnis von Materiellen und Ideellen niederschlägt.
Wir haben noch nichts über das Artifizielle, über das Poetische oder über die Virtuosität ausgesagt, mit der der Architekt gerade das feste und labile, das bedingte und das freie, das nüchterne und das phantastische Netz der Formen und ihrer Assoziationen ausbildet, das sich auf dieser letzten Gestaltungsebene organisiert, auf der die praktischen Informationen zwar ihre Basisfunktion nicht aufgegeben haben, aber durch viele neue ideelle Momente überformt werden. Wenn wir die Architektur als Kunst benennen wollten, dann dürften wir das nur auf dieser, das Praktische integrierenden Ebene. Jedenfalls scheint mir nur hier die architektonische Einheit als materielles und ideelles Kulturgut und als materielles und ideelles Gebrauchsgut gesichert.