Zur Problematik des Symbolischen in der modernen Architektur (1983)

Ein Plädoyer für das Symbolische in der Architektur – jenseits der tradierten Machtsymbole. Es werden Mittel und Methoden aufgezeigt, den elementaren Abstraktionismus des Bauhauses zu einer neuen Formensprache der Architektur zu entwickeln.

Olaf Weber
Zur Problematik des Symbolischen in der modernen Architektur

Ich möchte in meinem Beitrag die Auseinandersetzung um die Ästhetik des zeitgenössischen Bauens von der anderen, der Aneignungsseite her entwickeln und als Eingangsthese behaupten, dass es im Kern dieser maßgeblich vom Bauhaus in Schwung gebrachten Auseinandersetzung nicht vornehmlich um Gestaltungsfragen, sondern um Rezeptionsprobleme geht. Natürlich ist das Hervorbringen der Architektur von einem entfernten Standpunkt aus betrachtet nur die Kehrseite der Rezeption und insofern mit ihr identisch, doch zeigt sich beim genaueren Hinschauen, dass Gestaltung und Rezeption von Architektur zwei wohl aufeinander bezogene, doch kulturell höchst eigenständige Prozesse sind. Diese Eigenständigkeit korrespondiert mit der seit dem 19. Jahrhundert zunehmenden Bezogenheit des künstlerischen Denkens auf den Rezipienten, der immer mehr als differenziertes soziales und kulturelles Individuum behandelt wird.

Eine Architekturform kann auf ganz unterschiedliche Weise gesehen und verinnerlicht werden, und die Form selbst teilt mit, auf welche Art sie angeeignet sein will. In der Stilgeschichte der neueren Architektur wurden jeweils unterschiedliche Aneignungsweisen bevorzugt. So favorisierte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der sogenannte Eklektizismus die traditionellen Symbole, denen er eine neuartige Artikulation gab. Im Jugendstil wurde die bildhafte Erkenntnis mittels floraler Ikone sublimiert und die 20er Jahre reflektierten auf logische Erkenntnismethoden und Einfühlung, mit denen bauliche Strukturen subjektiv erschlossen werden konnten.

Die Art und Weise, wie die Form von den Rezipienten angeeignet wird, ist ebenso ein Ergebnis der gesellschaftlichen Kultur wie die Form selbst. Im Verhältnis von Gestaltung und Rezeption muss bedacht werden, dass die Formen der Architektur „nicht nur den rezeptiven Bedürfnissen das Material zu ihrer Befriedigung und die Fähigkeit zu ihrer Rezeption schaffen, sondern auch die Weise ihrer Rezeption“.1 Die Art und Weise des Umgangs mit der Form ist also Teil ihres Inhalts, und das Erkennen des „richtigen“ effektivsten Umgangs mit der Form ist erstes Rezeptionsergebnis. Marx hatte zu diesem Zusammenhang erklärt, dass „der Gegenstand kein Gegenstand überhaupt, sondern ein bestimmter Gegenstand (ist), der in einer bestimmten, durch die Produktion selbst wieder zu vermittelnden Art konsumiert werden muss“.2 Die Rezeptionsform wird also durch die Produktion vermittelt, nicht nur auf dem direkten Wege durch das Produkt, schreibt Marx. Das heißt, dass das Produkt seine diesbezügliche Vermittlerrolle nur im gesellschaftlichen Kontext einer Kultur auszuüben vermag. Also bringt die physische Gestalt der Bauwerke nicht eine ganz bestimmte Art der Aneignung hervor, wohl kann es diese begünstigen oder erschweren, aber die ideologische Umsetzung der Produktion in der Kultur schafft die geistigen Vermittlungen, unter denen das Angebot der Formen zur Rezeption aufgegriffen wird. Wenn wir für die Gestaltung Konzeptionen brauchen, brauchen wir auch solche für die Aneignung, auch wenn beide viele Dependenzen miteinander haben.

Den Inhalt der beiden Konzepte übergreifenden Zielstellung will ich auf einen kurzen Nenner bringen: Wir bewerten eine Rezeptionsweise und das Rezeptionsergebnis dann positiv, wenn sie die Menschen darin unterstützt, in ein aktives, mündiges und emanzipatorisches Verhältnis zur Gesellschaft, zur Natur und zur künstlich geschaffenen Umwelt zu treten, wodurch sie sich in ihrer Umwelt selbst erfahren und entwickeln können.

Welche Rolle spielt das Symbolische in diesem Konzept? Diese Frage stößt uns sofort auf die Schwierigkeit, das Symbolische exakt zu bestimmen. Kaum ein anderer Begriff der Ästhetik ist von den verschiedenen Intentionen so ausgebeutet worden wie dieser. In eigenartiger Weise verführte der Inhalt dieses Wortes zu einem außerordentlich spektakulären Umgang mit ihm. Ich will versuchen, die Eigenart der Symbole und der Symbolik in der Architektur durch die Betrachtung verschiedener Rezeptionsweisen zu bestimmen. Dabei gerät das Symbolische als ein allgemeines Moment von Aneignung ins Blickfeld, das weit über die Existenz von Symbolen, wie wir sie aus unserer Umwelt kennen, hinausführt. Die bekannten städtischen Symbole wie repräsentative, für eine ganze Stadt stehende Gebäude (z. B. Eiffelturm für Paris) charakterisierende Merkzeichen, graphische Symbole, Verkehrszeichen und dergleichen sind nur bewusst gewordene Exponenten einer unüberschaubaren Menge von bedeutungstragenden Formen, die das Symbolische in unterschiedlicher Ausprägung enthalten. Es wird aber meist nur unbewusst und beiläufig wahrgenommen und aktualisiert.

Die Symbole betrachten wir zunächst als konventionelle Zeichen, in einer umfassenden Begriffsbestimmung sind sie allerdings viel komplexere Gebilde. Die Rezeption dieser Formen, die symbolhafte Aneignung der gestalteten Umwelt ist nur eine Art von Rezeption, sie ist diejenige, die am meisten an den Kulturzustand der Gesellschaft gebunden ist und mit ihm die Interpretation der Formen wechselt. Zwischen der Form und ihrer Bedeutung vermitteln Konventionen; für den Rezipienten sind Konventionen die aus Überlieferung und Vorerfahrung verinnerlichte Relation von Form und Inhalt. Für das konventionelle Zeichen ist charakteristisch, dass es keine Gemeinsamkeiten gibt „zwischen Strukturmerkmalen der Form und solchen der Bedeutung“.3 Im Bewusstsein wird diese Beziehung durch Assoziationsprozesse hergestellt, die mehr oder weniger kanonisiert, respektive mehr oder weniger frei sind. Symbole sind Gebilde, deren Sinn und Bedeutung sich die Menschen auf irgendeine Art und Weise vereinbart haben.

Neben der symbolhaften Rezeption spielt in der Architekturwahrnehmung das rationale Denken eine wichtige Rolle: Aus der Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten wird von einem wahrgenommenen Fakt auf einen anderen, nicht wahrnehmbaren Fakt geschlossen. Z.B. ist es berechtigt zu vermuten, dass der Bahnhof an einem Schienenstrang liegt, eine gotische Kirche im historischen Zentrum usw. Das Kalkül entspricht dem gesellschaftlichen und individuellen Erkenntnisvermögen, nicht aber – wie beim Symbol – einer Konvention. Formen, an denen eine Wirkung als Träger der Informationen über eine Ursache abzulesen sind, sind Anzeichen.4 Verursacht ein Fakt mehrere Wirkungen, so kann die Auswahl einer als Anzeichen besonders geeigneten Wirkung in gewissem Sinne als Konvention erfolgen. Auch tritt der Anzeiger oftmals nicht (mehr) als Ursache in Erscheinung, so dass der Anzeiger den verursachenden Fakt nur konventionell vertritt.

Formen, die einen Fakt repräsentieren, der selbst nicht wahrnehmbar ist, dessen Einfluss oder Wirkung auf die Form aber zu logischen Schlüssen auf ihn anregt, also Anzeichen, werden in der Semiotik auch „indexikalische Zeichen“ genannt. Nach G. Klaus „bilden (sie) nämlich den Fall, in dem die durch den Code verschlüsselten Nachrichten genau das System der verursachenden Vorgänge oder Zustände sind“.5

Die dritte Möglichkeit, sich über Formen die Umwelt zu erschließen, ist die der Analogie. Die Ähnlichkeit zweier Fakten (Formen) vermittelt den einen, der wahrgenommen wird, an einen anderen, versteckten. Voraussetzung dafür, dass eine Form auf dem Wege der Ähnlichkeit auf etwas anderes verweist und damit eine weiterreichende Bedeutung erhält, ist natürlich die Evidenz dieser Ähnlichkeit, sie muss für den Rezipienten erkennbar sein. Um diese ideelle Funktion zu erfüllen, so heißt das auch, braucht die Ähnlichkeit nicht wirklich da zu sein, sie kann suggeriert werden. Was für einen Kunsthistoriker ähnlich erscheint, braucht es nicht für einen Laien zu sein und umgekehrt. Durch die Abbildbeziehung wird auch das Unähnliche ins Bewusstsein gebracht, so dass eine Ähnlichkeit lange Assoziationsketten nach sind ziehen kann. In Frage ist auch, wie groß die Ähnlichkeiten und damit auch die Unterschiede sind. Ein Haus hat immer Ähnlichkeiten mit anderen Häusern, aber die Verweisung kann auf Geschichte, Ort oder Funktionen hin gesteuert sein.
Die geistige Funktionalität der Form, die durch Ähnlichkeit erzeugt werden kann, ist nicht zu verwechseln mit der Nachahmung, sie ist etwas ganz anderes. Ob historisierende oder technisierende Nachahmung – Nachahmung geht immer am Wesen der Architektur vorbei, so sagte es Bruno Taut.6 Die Nachahmung ist eine unschöpferische und nur teilweise befriedigende Methode für ein Problemlösungsverfahren, dagegen ist aber das bewusste Operieren mit ikonischen (bildhaften) Bezügen des Entwurfes ein brauchbares Mittel das geeignet sein kann, die Aussage einer architektonischen Form zu erhöhen. Nachahmung ist bequem und funktionslos, aber Ikonizität potent und funktionell.
Zusammenfassend kann gesagt werden: Eine Form kann auf drei Wegen auf etwas anderes als sich selbst verweisen, d. h. einen über sich selbst hinausweisenden Inhalt bekommen: durch Ähnlichkeit mit einer anderen Formerfahrung, durch logisches Schließen und durch eine Gewohnheit, die als Konvention das Ergebnis kollektiver Lernprozesse ist.

In den 20er Jahren fand innerhalb des Systems von Rezeption und Kodierung eine Umbewertung statt. Es ist erstaunlich, wie schnell die Zeitgenossen diese Wandlung in ihrer Komplexität reflektierten. „Dies ist wenigstens gewiss“, schrieb Siegfried Gideon 1923, „nicht nur für die neue Gestaltung, auch für das Erleben wurde hier ein weiterer Schritt getan“.7 Worin bestand aber dieser Schritt? Zunächst fiel auf, dass die symbolhaften und die ikonischen Formen, die im Eklektizismus und Jugendstil teilweise exzessiv verwendet wurden, radikaler Ablehnung verfielen.8 Damit wurden natürlich auch die diesen Formen entsprechenden Sublimierungsformen wertgemindert: Die Ausdeutungs- und Interpretationskunst verlor nun ebenso ihre Bedeutung wie das Denken und Empfinden in Bildern. Heute müssen wir uns mit dem Abstand, den uns die Geschichte verschafft hat, nach den Gründen für diesen Wandel fragen, denn sicherlich hatte nicht nur die Übersättigung zum ästhetischen Verschleiß dieser Formen und dieser Rezeptionsweisen geführt.

Nehmen wir die bildhaften Formen, das Ikonische. Mies van der Rolle hatte gesagt: „Ich mache mir niemals ein Bild, wenn ich ein Haus bauen will. Architektur ist kein Cocktail, nichts darf sich hineinmischen in Architektur, kein Bild, keine Verstellung, kein Wunsch. Die geringste Trübung der architektonischen Idee verletzt die Allgemeingültigkeit des Bauwerks, verunklart seine Struktur.“9 Durch den Verzicht auf Bilder und Gestalten sollte die tektonische Struktur in ihrer Reinheit erhalten bleiben. Mies will aber nicht nur bestimmte, verbrauchte, sondern Bilder überhaupt aus der Architektur verbannen. Hinter solchen ästhetischen Konzeptionen stehen gewisse technologische und funktionelle Programme wie Vorfertigung und erweiterungsfähige Bausysteme, aber es kommt auch eine tiefe Abneigung gegen alle an der Form haftende Bedeutsamkeit zum Ausdruck.

Wo die moderne Architektur auf Ähnlichkeiten reflektierte, dort nicht mehr als Schmuck, sondern als Detail. Bruno Taut verspottete solche Versuche seiner Kollegen, wenn er sagte: „… man übernahm die Formen der Verkehrsmittel, der Eisenbahnwaggons, der Autobusse, der Autos, selbst der Aeroplane, der Schiffe und Dampfer und behandelte ein feststehendes Haus mit solchen Dingen, wie wenn es sich auf Rädern bewegen oder auf dem Wasser schwimmen sollte.“10 Der Assoziationswert dieser Formen war allerdings vermittelter gedacht: Die Häuser sollten nicht aussehen, als ob sie schwimmen oder fliegen könnten, sondern das technische Image von Schiffen und Flugzeugen sollte durch Formenanalogie auf die noch unmodern produzierte Architektur übertragen werden. Das ist keine objektsprachliche, sondern eine metasprachliche Ikonizität, eine Ähnlichkeit von Formensprachen innerhalb der Gesamtkultur.

Im Gegensatz zu den Versuchen mit ikonographischen Zeichen bei uns in der DDR, die in Gestalt von Henselmanns Universitätshochbauten in Jena und Leipzig und anderen Entwürfen nicht überzeugten, begnügte sich das Neue Bauen mit abstakten Homomorphierelationen zwischen Wirklichkeit und Formensprache, die vor allem auf Analogien zwischen Lebenstätigkeit und Raumstruktur begründet waren. Diese Art Analogie hat den Vorteil, dass sie wirkliche Verhältnisse recht genau abbilden kann, aber den Nachteil, dass die Abbildung von Natur aus unsinnlich ist.

Die Abstraktion von realen Formen wurde in den 20er Jahren zu einem wichtigen Ausdrucksmittel der Avantgarde. Man kann die Formensprache des Neuen Bauens nicht erklären, wenn man den Einfluss der abstrakten Kunst auf die Architektur unberücksichtigt lässt. Ohne das abstrakte Moment von Kunst erscheint uns die avantgardistische Architektur lediglich als ungestaltet oder als Antikunst.
Wer aber die moderne Architektur ästhetisch erleben will, der muss eine ganz spezifische Rezeptionsweise ihr gegenüber entwickeln, er muss die Methode der Einführung in abstrakte Formen beherrschen. Man kann sagen, dass die den abstrakten Formen entsprechende Aneignungsweise die der Einfühlung ist, aber auf Einfühlung wird hier nicht deshalb verwiesen, weil andere Formen nicht einfühlsam rezipiert würden, sondern weil abstrakte Formen ihre ästhetische Potenz aus den Beziehungen entwickeln, die ihre Elemente untereinander und nicht zu Bereichen der Wirklichkeit besitzen. Die Einfühlung bezieht sich deshalb auf die Formkonfiguration selbst und selten auf die Widerspiegelungsverhältnisse, die auch abstrakte Konfigurationen eingehen können. Der Begriff der Einfühlung ist hier im Sinne von Empfindsamkeit für Formen zu verstehen, die im Gegensatz zur (symbolischen, indexikalischen oder ikonischen) Repräsentation nur sich selbst präsentieren. Dabei ist der semantische Zugang zur Form verschlossen, die Einfühlung in das formale Gefüge ist die einzige Möglichkeit, um zu einem Rezeptionserfolg zu gelangen. (11)

Die Formenabstraktion war über den Expressionismus zur abstrakten Kunst vorangeschritten. Am Bauhaus hatte die abstrakte Formensprache vor allem in Kandinsky ihren Vertreter aber auch durch die holländische de Stijl-Bewegung floss die Denkhaltung abstrakter Kunst in die Architektur ein. Van Doesburg charakterisiert die abstrakte Gestaltung so: „Das Kunstwerk, in dem die ästhetische Idee unmittelbar zum Ausdruck kommt, (d.h. durch das jeweilige Ausdrucksmittel der Kunstart: z.B. durch Klänge, Farben, Flächen Massen) nennen wir exakt und real. Wir nennen es exakt im Gegensatz zum Kunstwerk, das diese Idee mit Hilfsmitteln auszudrücken versucht. Hilfsmittel sind z.B. irgendein Symbol oder Vorstellungen, Stimmungen, Tendenzen die mit Gefühls- und Gedankenassoziationen verbunden sind.“ (12)
Die abstrakten Maler wollen alle Erfahrungen mit bezeichnenden und widerspiegelnden Formen negieren. „Tritt im Kunstwerk ein Erfahrungsobjekt als solches noch in Erscheinung, so ist ein solcher Gegenstand ein Hilfsmittel innerhalb des Ausdrucksmittels. Die Ausdrucksweise ist in diesem Falle nicht exakt“ schreibt van Doesburg.13 Alle Verweisungen der Form auf andere Objekte, auf reale Prozesse oder Erfahrungen waren suspekt. Genau das entsprach der ästhetischen Konzeption der modernen Architektur der 20er Jahre. Das heißt natürlich nicht, dass die Avantgarde auf Ausdruck und Wirkung überhaupt verzichten sollte, sie wollte auf die kulturell geprägten Anteile verzichten und setzte auf elementare Formen, deren Kodierung in das kollektive Unterbewusstsein eingedrungen sind. Bei dieser Form der Aneignung werden die Reize nach Gesetzen strukturiert und gewertet, die quasi zeitlos wirken und in der Menschheitsgeschichte erworben wurden. Gestalten werden von Hintergrund abgehoben und mit bestimmten allgemeinen Erfahrungen verknüpft.

Diese „phylogenetisch“ überkommene Beziehung zwischen einer abstrakten Form und dem, was sie im Bewusstsein des Menschen bewirkt, kann als sublimes Reiz-Reaktionsverhältnis gedeutet werden, das zu einer unbewussten Verfestigung im Gedächtnis gelangt ist. Das ist das Rezeptionsniveau, auf dem die abstrakte Kunst operiert. Beispielsweiße wird eine Linie, die von links unten nach rechts oben verläuft, als „steigend“ empfunden, in umkehrter Richtung wirkt sie „fallend“. Rhythmen, Symmetrien, Proportionen sind elementare Formeigenschaften, an die ähnliche psychische Konstanten kodifiziert sind.

Über die expressive Wirkung elementarer Gestaltungsmittel war man sich oft einig, aber über ihre Verwendung herrschten verschiedene Auffassungen. So erklärten die Futuristen, „dass schräge und elliptische Linien naturgemäß dynamisch sind, dass ihre emotionale Wirkung tausendmal größer ist als die vertikaler und horizontaler Linien und dass keine dynamische Architektur ohne sie existieren kann, …“ (14), aber Mendelsohn setzt andere Ziele: „Der Mensch unserer Zeit, aus der Aufgeregtheit seines schnellen Lebens, kann nur in einer spannungslosen Horizontalen einen Ausgleich finden.“ (15) Bei unterschiedlicher Zielstellung war man sich einig im elementaren, abstrakten Charakter der Gestaltungsmittel.

Auch Hans Schmidt, der in den 60er Jahren an der Bauakademie für die Typenentwicklung verantwortlich war, sah das Neue darin, „dass die Mittel der visuellen Wirkung Form, Farbe, Licht – die bisher die Formen des Beschreibenden, Erzählenden, Ausschmückenden hatten, heute im Sinne des Direkten, Elementaren, Schlagenden verwendet werden.“16 Schon bald stellte sich aber die Frage nach der Leistungsfähigkeit der elementaren Mittel. Viele bildende Künstler waren den letzten Schritt zur „reinen“ Abstraktion nicht mitgegangen. Die bildenden Künstler waren ganz besonders auf die Erweiterung ihres Mittelrepertoires angewiesen, denn die so gern betonte Objektivität der elementaren Gestaltung bezieht sich keineswegs auf einen gesellschaftlich relevanten Inhalt, der auf dieser Gestaltungsebene nur schwerlich zu transportieren ist, sondern lediglich auf eine als naturgegeben genommene Determination von Form und Wirkung. Der Gegenstand wurde in die Malerei wieder eingeführt. „Die Malerei bedarf eines Mediums aus der sichtbaren Welt, um sich darzustellen“, schrieb Oskar Schlemmer. „Das vornehmste Objekt: der Mensch. Damit scheint die alte Ästhetik wieder hergestellt? Ich glaube, ja.“ (17)

An der alten Ästhetik war allerdings lediglich ihre Gegenständlichkeit wiederhergestellt, die einen völlig neuen Funktionswert erhielt: Die Gegenstände nicht mehr als brave Reproduktionen der Wirklichkeit, sondern als Assoziationshilfen, die erst im Kontext der Gesamtaussage eine Abbildfunktion realisierten. Das ist – grob gesagt – der mediale Unterschied zwischen der vor- und der nachabstrakten gegenständlichen Malerei, auf den hier nicht weiter eingegangen werden kann.
Brecht hatte den gegenstandslosen Malern zu recht ihre reduzierte Funktionalität vorgeworfen: „Ich höre euch sagen: ´Mit unseren Öltuben und unseren Bleistiften können wir nur die Farben und Linien an den Dingen wiedergeben, nichts sonst.` Das klingt, als seid ihr bescheidene Leute, ehrliche Leute, jeder Vortäuschung abhold. Aber es klingt besser, als es ist. Tausend Beispiele beweisen, dass man mit Öltuben und Bleistiften mehr über die Dinge aussagen, verraten, lehren kann als nur Linienmäßiges und Farbmäßiges.“ (18)

Wie in der abstrakten Kunst die reale Gegenständlichkeit fehlte, so mangelte es der avantgardistischen Architektur an Symbolen und anderen vermittelnden Ausdrucksträgern. Das ist kein kleinlicher Vorwurf an die Avantgarde, dass sie etwas unterlassen hätte, was historisch noch nicht herangereift war – gerade die Elementarisierung der Erscheinung und die am Bauhaus initiierte systematische Untersuchung der elementaren Gestaltungsmittel war ein großer Erfolg auf dem Wege zur Erneuerung der Architektur. Aber dieser Schritt involvierte notwendigerweise eine methodische Reduktion auf das Elementare. Die elementare Gestaltung ist das architektonische Pendant zur abstrakten Kunst und genauso, wie die abstrakte Kunst nur ein Durchgangsstadium, ein Aspekt und Genre von Kunst ist, so ist die elementare Gestaltung nicht die ganze Gestaltung, sie bedarf der Ergänzung.

Der Abstraktionismus ist im wesentlichen expressiv, seine Rezeption beruht auf spezifischer Einfühlung in die Form. Die expressive Gestaltung erzeugt die Wirkung unterhalb der Ebene der Zeichen, sie ist unmittelbar sinnlich und emotional potent, ohne einen semantischen Bezug aufzunehmen. Aber der Abstraktionismus verbindet sich zuweilen auch mit ikonischen, indexikalischen und symbolischen Momenten, wie überhaupt bei genauerer Analyse immer Mischformen auftreten. Darüber hinaus sind aber auch die „reinen“ Zeichenbezüge oft durch Abstraktion und Indirektheit gefärbt. So kommt es, dass sich z.B. eine spezifische Symbolik der abstrakten Formen entwickelt hat.

Die abstrakten geometrischen, bzw. stereometrischen Formen wie Kreis, Kugel, Zylinder usw. spielen in der symbolischen Sinngebung der modernen Architektur keine unbedeutende Rolle. Der Abstraktheit der modernen Symbolträger entspricht allerdings auch die Allgemeinheit der Aussagen dieser Symbole, die meist große komplexe Themen verkörpern, wie „Zentralität“, „Kollektivität“, „Kosmos“ usw. Ein Beispiel für den abstrakten Expressionismus ist Gropius „Blitz“, das Denkmal für die Märzgefallenen, das parallel zur expressiven Wirkungsebene (das „Aufstrebende-Gebrochene“) den literarischen Bezug zu dem historischen Ereignis herstellt, auf das es sich bezieht und das es durch eine Konvention, also symbolisch, repräsentiert. In seinem Entwurf für den Sowjetpalast in Moskau dagegen verwendet er die abstakten Formen unmittelbar symbolisch.

Der Symbolismus großer geometrischer Gebilde in der modernen Architektur hat sein historisches Vorbild in der französischen Revolutionsarchitektur des 18. Jahrhunderts. Ledoux bekannte ausdrücklich, dass das Alphabet aus dem die vortrefflichsten Werke entstehen, aus Kreis und Quadrat bestünde. In seinen Entwürfen erhielt z.B. das Haus des Stellmachers kreisrunde Fassaden (er stellt vor allem Räder her) und der Friedhof besteht aus einer Kugel (dem Symbol der Ewigkeit) mit einem Durchmesser von 80 m, die zur Hälfte im Boden versenkt sein sollte. Im Falle des Kreismotivs am Hause des Stellmachers wird das Symbol ikonisch vermittelt (weil das reale Rad als Bild assoziiert wird), während die Kugelform ihren Sinn von „Ewigkeit“ auf sehr abstrakte Weise ausdrückt. Die Möglichkeiten und Grenzen des abstrakten Symbolismus werden an solchen Beispielen schnell deutlich.
Es ergab sich eine zweite Möglichkeit, die ebenso wie die Methode der Einfühlung in abstrakte Formen geeignet war, eine Beziehung von Form und Bewusstsein zu entwickeln. Sie gehört wie diese zum festen Methodenbestand aller künftigen Architektur. Das ist die ideelle Aufladung von ansonsten leeren Formen im Nutzungs-Prozess.19 Einerseits ist diese episodischer Natur: Wir binden ständig einen Teil unserer Erfahrung an Architektur, wo sie beim nächsten Rezeptionskontakt als Erinnerung wieder frei wird, sie ist damit zu einem subjektiv deutbaren Zeichen dieser Erfahrung geworden. Auch die Empfindungen und Gefühle binden wir auf diese Weise an Architektur.

In ähnlicher Weise kann Architektur auch einen objektiven Ausdruck, den gemeinsamen Ausdruck für eine Gruppe von Menschen erhalten. Das ist z. B. dann der Fall, wenn die Zuordnung von Bedeutung und Form zwar individuell von jeden Einzelnen vorgenommen wird, aber ihr Inhalt aufgrund einer gemeinsamen Erfahrung gleichlautend ist, so dass sich die Menschen über bauliche Formen verständigen können, ohne den Kode vorher vereinbart zu haben. Die Kodierung ist also nicht konventionell, sondern empirisch. Jeder Einzelne schafft die Grundlage zum Verständnis der Formen durch Gebrauch und praktisches Handeln, was ja immer auch eine soziale Tätigkeit ist.

Die kulturelle Klammer zwischen den Betrachtern, Nutzern oder Interpretanten wird nicht durch eine erlernte Norm der Interpretation gebildet, sondern unmittelbar durch die gemeinsame Praxis. Der Architekt formuliert dabei nicht architektonische Aussagen mit baulichen Mitteln, sondern organisiert die Möglichkeiten des Gebrauchs und erzeugt Konfigurationen, deren grammatische Strukturen die Strukturen der Lebensvorgänge treffen und offen sind für die Aufnahme kollektiver Bedeutungen, die ihnen die Nutzer geben.

Eine solche Haltung entsprach den Intentionen des Bauhauses, wenngleich sie als theoretisches Konzept nicht formuliert war. Die Architekten konnten sich auf diese Weise aus dem Kreise einer ihnen fremden Ideologie entfernen, die ihrem Avantgardismus im Wege stand. Anstatt diese Ideologie in tradierten Formen aufzuspeichern, wollten sie darauf vertrauen, dass sich in ihrer Architektur einen neue Lebensweise entwickeln wird, die im Laufe der Zeit und des Gebrauchs den noch leeren Formen neue Inhalte verleiht. Diese Hoffnung war nicht unberechtigt, der Schritt zum ästhetischen Ausdruck neuer aktiver Beziehungen zwischen den Menschen und der Architektur war getan.

Keine der aufgeführten Rezeptionsweisen, weder die bildhafte, die logische oder die assoziative Interpretation bedeutungstragender Formen, noch die Einfühlung in abstrakte Konfigurationen oder die semantische Aufladung inhaltsleerer Formen ist für sich genommen spezifische Architekturrezeption. (20) Ihre Aufzählung hatte nicht die Funktion, diese Spezifik herauszuarbeiten, dazu wären mehrere Aspekte notwendig, aber soviel kann gesagt werden: diese Eigenart kann nur in der Kombination, im Zusammenwirken der verschiedenen Methoden verstanden werden, sich Architektur zu erschließen. Die kulturvolle Kodifizierung der Architektur mit konventionellen Zeichen ist diejenige Aneignungsform, die am detailliertesten Informationen und Emotionen vermitteln kann. Dagegen ist auf dem „objektiven“ Niveau der elementaren Gestaltung die Bezugsebene zu allgemein und abstrakt und der Kode zu starr, bei individueller Kodierung der „offenen“ Formen ist er zu singulär und labil, so dass in beiden Fällen keine sozialräumlich relevante Artikulation möglich ist.

Anmerkungen:
(1) Gesellschaft – Literatur – Lesen. – Berlin und Weimar 1975, S. 38
(2) MEW, Band 13, S.624
(3) Franz Michael: Zeichenklassifikation für Designgegenstände. – In: Tagungsmaterialien des 6. Kolloquiums zu Fragen der Theorie und Methodik der industriellen Formgestaltung
(4) Über die Theorie der Anzeichen vgl. Resnikow, Lasar Ossipowitsch: Erkenntnistheoretische Fragen der Semiotik. – Berlin 1968, S. 127 ff
(5) Klaus, Georg: Semiotik und Erkenntnistheorie. – Berlin 1969, S. 91
(6) Vgl. Hirdina, Karin: Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren. – Berlin 1981, S 59
(7) Gideon, Siegfried: Bauhaus und Bauhauswoche zu Weimar. – In: Das Werk, Monatsheft. – (1923) 9
(8) Das Symbolische wurde als Gestaltungsmethode abgelehnt, aber einzelne Formen wurden durchaus in einen symbolhaften Zusammenhang gebracht, so wenn Paul Scherbart für das Gurtgesims des Glaspavillons von Bruno Taut die Verse schrieb: „Das bunte Glas zerstört den Hass. Das Licht will durch das ganze All und ist lebendig im Kristall“, oder die symbolische Beziehung, die Erich Mendelsohn herstellt: „Treppe, Eingang Fensterband, hinein in den Rhyhtmus des sausenden Autos, des Schnellverkehrs“ (Erich Mendelsohn, in „Literarische Welt“ vom 9.3.1928). In einem anderen, allgemeinen Sinne wurden auch bewusst symbolhafte Formen verwendet, so wenn die russischen Konstruktivisten nach der Revolution durch Zurschaustellung technischer Errungenschaften den gesellschaftlichen Fortschritt symbolhaft ausdrücken wollten, oder denken wir an die symbolhafte Verwendung des Metalls, besonders des vernickelten, verchromten und lackierten Stahls, er sollte zukunftsweisende Technologien versinnbildlichen. (Vgl. dazu „Funktionalismus als Phänomen der Kunstgeschichte“ von Milena Lamarová, in: Form und Zweck [1983] 4, S. 39.) Inzwischen sind auch genügend Bauwerke der Moderne, die nun schon eine 70jährige Tradition hat, zu Symbolen geworden, denken wir an den Barcelona-Pavillon, das Dessauer Bauhausgebäude oder die Stahlrohrsessel von Mies und Breuer. Aber das sind Symbole in dem Sinne, wie herausragende Beispiele stellvertretend für den Typ gesetzt werden.
(9) Mies in Berlin, Schallplatte, Bauwelt Archiv Nr. 1. – Berlin (West) 1966
(10) Zitiert nach Hirdina, Karin: Pathos der Sachlichkeit, a. a. O., S. 59/60
(11) Die Begriffe Abstraktion und Einfühlung werden hier gleichgerichtet gebraucht und sind nicht (wie bei W. Worringer) Autonyme.
(12) van Doesburg, Theo: Grundbegriffe der neuen gestalteten Kunst. Neue Bauhausbücher. – Mainz 1966, S. 28
(13) Ebenda, S. 30
(14) Sant Elia, Antonio und Marienetti, Philipo Tomaso: Futuristische Architektur, 1914. Wiederveröffentlicht in: Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. – Güterlob, Berlin, München 1971, S. 30 bis 34. Zitat S. 30
(15) Mendelsohn, Erich: Dynamik und Funktion, 1923. Wiederveröffentlicht in: ebenda, S. 68-69, Zitat S. 68/69
(16) Schmidt, Hans: Das Problem der Form in der Architekturtheorie. – In: Deutsche Architektur. – Berlin (1967) 12. S.752 bis 756, Zitat S. 754
(17) Schlemmer, Oskar: Briefe und Tagebücher. – Stuttgart 1977, S. 73
(18) Brecht, Berthold: Schriften zur Literatur und Kunst. Band 1 bis 2, Band 1. – Berlin und Weimar 1966 , S. 329
(19) G. Klaus unterscheidet des eidetischen Sinn des Zeichens, der vorliegt, wenn wir wissen, was diese Zeichen bezeichnet von dem hier in Anwendung zu bringenden Fall des operativen Sinns des Zeichens, bei dem der Inhalt des Zeichens unbekannt ist und wir lediglich wissen, wie man mit dem Zeichen operieren muss. Die syntaktischen Regeln stecken den Rahmen dieser Operationen ab, die praktische Anwendung legt die Bedeutung des Zeichens fest. (Vgl. Klaus, Georg: Semiotik und Erkenntnistheorie. – 1969, S. 92 f.)
(20) Nicht einmal die rein semiotische Betrachtungsweise lässt eine solche Isolierung der Zeichenklassen zu. W. Morris spricht davon, dass Symbole letztlich Ikons und Ikons Indexzeichen involvieren. (Vgl. Morris, Charles, William: Grundlagen der Zeichentheorie, Ästhetik und Zeichentheorie. – München 1972, S.46

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert